Richterwechsel am Bundesverfassungsgericht – Entlassung und Ehrung von Andreas Paulus sowie Ernennung von Heinrich Amadeus Wolff

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 3. Juni 2022

Bundespräsident Steinmeier hat am 3. Juni in Schloss Bellevue dem Richter des Bundesverfassungsgerichts Andreas Paulus die Entlassungsurkunde ausgehändigt und ihm einen Bundesverdienstorden verliehen. Zugleich überreichte er seinem Nachfolger Heinrich Amadeus Wolff die Ernennungsurkunde: "Kriegsverbrechen dürfen nicht straflos bleiben! Wir müssen jetzt deutlich machen: Internationales Recht ist kein stumpfes Schwert, das man einfach ignorieren kann!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei einem Richterwechsel am Bundesverfassungsgericht und der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband im Großen Saal in Schloss Bellevue

Die Wege unserer Verfassung führen uns heute zusammen. Seien Sie herzlich willkommen im Schloss Bellevue! Ich freue mich sehr, dass wir nach der gestrigen Wahl im Plenum des Deutschen Bundestages so schnell zusammengekommen sind, um Sie, lieber Herr Paulus, nach nur zwei Monaten Verlängerung wohlverdient in einen neuen Lebensabschnitt zu entlassen, und um Sie, lieber Herr Wolff, umgehend zu ernennen.

Ein Richterwechsel am Bundesverfassungsgericht, das ist immer ein besonderer Termin im Verfassungsleben unseres Staates. Er bietet Anlass und Gelegenheit, diejenigen Menschen zu würdigen, die das Bundesverfassungsgericht sind.

Sie, die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts, Sie sind es, die darüber wachen, dass unser Grundgesetz eingehalten wird, dass individuelle Freiheitsrechte und demokratische Selbstbestimmung in unserer liberalen Demokratie immer wieder aufs Neue austariert werden. Dadurch verhelfen Sie der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zur Wirksamkeit und stärken ihr Ansehen.

Mit Ihrem Amt geht deshalb eine große Verantwortung einher. In Artikel 92 des Grundgesetzes heißt es, dass die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist. In dieser Wortwahl der Väter und Mütter des Grundgesetzes kommt zum Ausdruck, dass in die Person des Richters oder der Richterin ein besonderes Vertrauen gesetzt wird.

Lieber Herr Paulus, mit dem heutigen Tage scheiden Sie aus dem Amt aus, das Ihnen in den vergangenen zwölf Jahren anvertraut war. Bei Ihrer Ernennung 2010 stellte mein Vorgänger, Bundespräsident Köhler fest, dass Sie Ihre Amtszeit vergleichsweise jung und mit jugendlichem Elan beginnen – Sie waren damals gerade einmal 42 Jahre alt. Trotzdem galten Sie bereits als herausragender Wissenschaftler und wurden sogar als Paradejurist bezeichnet, der schon im Alter von 38 Jahren zum Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, an der Universität Göttingen berufen worden war.

Ihr international ausgerichtetes Jurastudium hatte Sie zuvor auch nach Genf, München und Harvard geführt. Mit Ihrer preisgekrönten Doktorarbeit über Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht und Ihrer Habilitationsschrift zum Thema Parlament und Streitkräfteeinsatz haben Sie national und international auf sich aufmerksam gemacht. Und damit nicht genug: Sie haben das Völkerrecht auch ganz praktisch ausgeübt und die Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 2000 und 2004 gleich in zwei komplizierten völkerrechtlichen Angelegenheiten vor dem Internationalen Gerichtshof vertreten.

Robe in einem Gerichtssaal zu tragen, das war für Sie also nicht gänzlich neu, als Sie Ihr Amt im Karlsruher Schlossbezirk antraten – wohl aber Ihre Rolle als Richter. Und auch mit den Rechtsgebieten, für die Sie im Ersten Senat als Berichterstatter zuständig waren, betraten Sie als Völkerrechtler reinsten Wassers Neuland. Zu Ihrem Aufgabenspektrum zählten jetzt etwa das Recht des geistigen Eigentums, Teile des Abgabenrechts, das Erbrecht, die Kunstfreiheit, das Glücksspielrecht und vieles andere mehr.

Das Völkerrecht fehlt. Ob Sie sich ersatzweise in der Fast-Wohngemeinschaft mit Ihrem Kollegen Huber aus dem Zweiten Senat zu völkerrechtlichen Fragen ausgetauscht haben, das ist mir nicht bekannt. Bekannt sind mir aber die folgenden Zahlen: In den vergangenen zwölf Jahren haben Sie 4.150 Verfahren als Berichterstatter abgeschlossen, davon waren 4.097 Verfassungsbeschwerden. Das sind 346 Verfahren pro Jahr! Derartig viele erledigte Verfahren zeugen von großer Schaffenskraft, von hoher Disziplin und von unermüdlichem Einsatz. Zugleich lassen die Zahlen erahnen, wie hoch nach wie vor die Arbeitsbelastung der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts ist. Und sie zeigen nicht zuletzt, wie oft Bürgerinnen und Bürger die Hilfe des Bundesverfassungsgerichts suchen.

Man sagt, Sie hätten in Ihrem Dezernat einen wunderbaren Teamgeist gepflegt. Das scheint mir eine wichtige Zutat zu sein, wenn es darum geht, eine solche Menge an Verfahren überhaupt zu bewältigen. Diskussionen, geprägt von Offenheit und auf Augenhöhe, ein stets freundlicher Umgangston, familienkompatible Arbeitsbedingungen, ein offener Gedankenaustausch auch außerhalb des Gerichts, etwa beim Wandern oder einem guten Essen danach – all das war Ihnen wichtig und hat die Atmosphäre in Ihrem Dezernat geprägt. Ich habe auch vernommen, dass Ihre außergewöhnliche Belesenheit manchmal dazu geführt hat, dass Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich die morgendliche Zeitungslektüre aufgeteilt haben, um dann beim gemeinsamen Mittagessen mit Ihnen einigermaßen mithalten zu können.

Die Rechtsgebiete, die Ihnen am Bundesverfassungsgericht anvertraut waren, haben Sie sich zu eigen gemacht, und Sie haben die verfassungsrechtlichen Leitplanken weiter konturiert. Noch nicht lange im Amt, führten Sie im Juli 2011 als Berichterstatter Ihre erste wichtige Senatsentscheidung herbei. Anlässlich der Nachahmung von Le Corbusier-Designermöbeln durch eine italienische Firma stellte der Erste Senat im so genannten Cassina-Beschluss fest, dass ausländische juristische Personen mit Sitz in der Europäischen Union Träger materieller Grundrechte sein können. Darüber hinaus haben Sie sich in diesem Beschluss wie in vielen weiteren Entscheidungen auch mit der Frage befasst, wann und inwieweit die nationalen Gerichte verpflichtet sind, dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Davon hängt viel ab, da erst die Anwendung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten sicherstellt, dass die europäische Rechtsgemeinschaft verwirklicht wird.

Über Cassina hinaus haben Sie neben zahlreichen Kammerentscheidungen zehn weitere Senatsverfahren vorbereitet. Des Öfteren haben Sie sich mit dem Gleichheitssatz beschäftigt, etwa mit Blick auf die Verfassungsgemäßheit von kommunalen Abgaben oder von örtlichen Verbrauchs- und Aufwandssteuern oder von Rundfunkgebühren. Was so technisch klingen mag, war und ist für den Alltag vieler Bürgerinnen und Bürger prägend!

Berühmt geworden sind Sie schließlich auch: In juristischen Fachkreisen wie in der Musikbranche haben Sie sich als DJ des Bundesverfassungsgerichts einen Namen gemacht, und zwar im Verfahren Metall auf Metall, als es um das so genannte Sampling ging. Ich wüsste nicht, dass es zuvor einmal eine mündliche Verhandlung im Plenarsaal des Bundesverfassungsgerichts gegeben hat, bei der Musik abgespielt wurde. Ganz offenbar wollten Sie damit hörbar machen, worüber der Senat zu entscheiden hatte. Diese Genauigkeit, lieber Herr Paulus, ist vorbildlich und sollte jeder richterlichen Entscheidung zugrunde liegen!

Auch zahlreiche Senatsverfahren, für die Ihre Kolleginnen und Kollegen des Ersten Senats berichterstattend tätig waren, haben Sie mitgestaltet – ich denke etwa an den Klimaschutzbeschluss vor gut einem Jahr oder an die Entscheidungen zu Grundrechtseingriffen in der Corona-Pandemie. Ich habe vernommen, dass Sie dabei stets in bester wissenschaftlicher Manier Ihren Standpunkt herausgebildet und vorgetragen haben und sich den manchmal ebenso nötigen Pragmatismus des Richters schnell und entschieden angeeignet haben. Die Senatsarbeit sozialisiert, soll die nicht ganz neue Überzeugung am Bundesverfassungsgericht sein.

Ich kann das nicht beurteilen, ich weiß nur: Wenn es angezeigt war, haben Sie klare, aber immer sorgfältig abgewogene Worte gefunden – und mehrere Male auch ein Sondervotum verfasst, so anlässlich der Entscheidungen zum Tarifeinheitsgesetz, zum thüringischen Ladenöffnungsgesetz und beim ZDF-Urteil aus dem Jahr 2014.

Im Senat bleibt Ihre große argumentative Kraft in Erinnerung. Sie haben immer die großen Linien gesucht, ohne die Mühen der Ebene zu scheuen. Ich glaube, lieber Herr Paulus, dass Sie dafür sehr geschätzt worden sind.

Nach zwölf Jahren, einer langen Zeit, verlassen Sie nun den Richterring neben dem Karlsruher Schloss. Ihr Büro mit Blick auf den Schlosspark tauschen Sie ein für die Hörsäle der Göttinger Universität. Für Sie geht es zurück an Ihren Lehrstuhl, zurück in die Wissenschaft, vor allem zurück ins Völkerrecht, das seit dem 24. Februar – und das mitten in Europa – auf brutale Art und Weise verletzt wird. Die täglichen Nachrichten und Bilder aus der Ukraine dokumentieren nicht nur unendliches Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung, sondern auch die Spuren von brutalen Verbrechen. Die Aufgabe ist klar: Die internationale Gemeinschaft muss ermitteln und aufklären, was seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine in Butscha, Charkiw, Mariupol und an vielen anderen Orten geschehen ist. Internationale Gerichte müssen all jene zur Verantwortung ziehen, die in diesem Krieg Verbrechen begangen haben und weiterhin begehen. Kriegsverbrechen dürfen nicht straflos bleiben! Wir müssen jetzt deutlich machen: Internationales Recht ist kein stumpfes Schwert, das man einfach ignorieren kann!

Lieber Herr Paulus, ich bin sicher, dass wir weiter von Ihnen hören werden. Ich darf Sie nun, gemeinsam mit Herrn Präsidenten Harbarth, Frau Staatssekretärin und Herrn Staatssekretär zur Überreichung der Entlassungsurkunde nach vorne bitten.

Unser Land, unser Rechtsstaat und unsere Demokratie verdanken Ihnen viel. Ich danke Ihnen herzlich für Ihren großen Einsatz. Und ich freue mich, Ihnen nun als sichtbare Anerkennung Ihrer Verdienste das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen.

Lieber Herr Wolff, der Deutsche Bundestag hat Sie gestern zum Richter des Bundesverfassungsgerichts gewählt. Dazu gratuliere ich Ihnen von Herzen!

Sie kommen wie Ihr Vorgänger aus der Wissenschaft, sind Professor für Öffentliches Recht, Umweltrecht und Technikrecht an der Universität Bayreuth. Vor Ihrer Berufung auf eine Professur waren Sie in der Praxis tätig: zwei Jahre als Referent in der Verfassungsabteilung des Bundesministeriums des Innern, im Referat für staatsrechtliche Sondergebiete. Von der Vielfalt Ihrer Erfahrungen kann das Bundesverfassungsgericht nun profitieren.

Auch Ihr künftiger Arbeitsplatz Schlossbezirk 3 ist Ihnen nicht unbekannt. Nach Ihrem Referendariat waren Sie dort im Jahr 1994 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des damaligen Bundesverfassungsrichters Kirchhof. Später sind Sie mehrfach als Verfahrensbevollmächtigter vor dem Bundesverfassungsgericht aufgetreten. Als Sachverständiger haben Sie sich einen Namen im Bereich der Sicherheitsgesetzgebung gemacht.

In Karlsruhe erwarten Sie als Berichterstatter nun ganz andere Rechtsgebiete, nämlich das Sozialrecht, Fragen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und die Kunstfreiheit. Mit Ihrer Erfahrung, da bin ich mir sicher, werden Sie sich leicht in die neuen Materien einfinden.

Nun darf ich Sie, lieber Herr Wolff, gemeinsam mit Herrn Präsidenten Harbarth, Frau Staatssekretärin und Herrn Staatssekretär nach vorne zur Ernennung und zur Vereidigung bitten.

Lieber Herr Wolff, nochmals herzlichen Glückwunsch! Am Schlossplatz werden Sie von freundlichen Kolleginnen und Kollegen begrüßt werden. Das wird Ihnen den Anfang leicht machen. Ich wünsche Ihnen viel Glück und alles Gute für Ihr neues Amt!