Wir gedenken heute, hier im Europäischen Parlament, des großen französischen und europäischen Staatsmannes Valéry Giscard d’Estaing, der vor einem Jahr im gesegneten Alter von 94 Jahren verstorben ist. Für mich als deutscher Bundespräsident ist es eine Ehre, das Wort zu ergreifen. Denn Präsident Giscard d’Estaing war ein Freund Deutschlands und der Deutschen, mit einem leidenschaftlichen Herzen für die deutsch-französische Freundschaft – und mit einem ebenso leidenschaftlichen Herzen für die immer tiefere europäische Einigung.
Für uns Deutsche, die ihn als Präsident erlebt haben, das sage ich gleich zu Anfang, verkörperte er all das, was uns am Frankreich seiner Zeit so anziehend, so attraktiv erschien: Eleganz und Esprit, politische Vernunft und Liberalität, Zivilität und Engagement für das Gemeinwesen, umfassende Bildung und Sinn für die hohe Bedeutung von Kultur und Geschichte, Kultiviertheit und politischer Sachverstand. Unsere Hochachtung für diese Werte und Eigenschaften galt und gilt nicht minder Ihnen, verehrte Frau Giscard d'Estaing. Ihnen und Ihrer Familie möchte ich im Namen meiner Landsleute erneut unsere Anteilnahme und unseren Respekt ausdrücken.
Wir Deutsche schauten mit Bewunderung auf das moderne Frankreich, für das Valéry Giscard d’Estaing stand: das Frankreich etwa der Concorde, des Centre Pompidou, des TGV und des Minitel. Aber vor allem wussten wir in Deutschland: In Giscard haben wir auf der anderen Seite des Rheins einen verlässlichen Freund und Partner. Dafür sind wir ihm über seinen Tod hinaus dankbar.
Der Rhein, an dem auch Straßburg liegt, so oft Schicksalsfluss, so oft umkämpft zwischen Franzosen und Deutschen: An seinem Ufer ist Giscard d’Estaing geboren. In Koblenz, wo sein Vater nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, der Grande Guerre, zur französischen Militärpräsenz gehörte. Frankreich hielt damals auch die Festung Ehrenbreitstein besetzt, hoch über der Moselmündung, einst von Preußen als wehrhaftes Verteidigungszentrum ausgebaut – gegen den damals sogenannten Erbfeind im Westen: Frankreich.
Ausgerechnet hier also, in Koblenz, im besetzten Feindesland, stand seine Wiege. Und an dieser Wiege wurde dem späteren französischen Präsidenten ganz gewiss noch nicht gesungen, dass er einst mit dem Regierungschef eines liberalen, demokratischen, friedlichen Deutschlands die engste Freundschaft seines politischen Lebens schließen würde: mit Helmut Schmidt. Nach dessen Tod, so heißt es, habe Giscard noch wochenlang getrauert und gesagt, er fühle sich, als sei er amputiert.
Bevor es aber zu dieser für ganz Europa so fruchtbaren Freundschaft kommen konnte, verging noch einmal ein schrecklicher Krieg. Ein Krieg, in dem Deutschland Frankreich überfallen hatte und der erst nach der bedingungslosen Kapitulation zu Ende gebracht werden konnte – als die Rote Armee den letzten Widerstand in Deutschlands Hauptstadt Berlin niederkämpfte und zuvor die westlichen Alliierten den Rhein überschritten hatten. Auch Giscard d‘ Estaing hat als Widerstandskämpfer und zum Schluss auch noch als Soldat für das freie Europa gekämpft.
Dennoch und deswegen war ihm die Aussöhnung mit Deutschland in einem geeinten Europa mehr als ein Herzensanliegen. Und so konnte er seine Tränen nicht zurückhalten, als im Jahre 1995 beim Defilee zum 14. Juli deutsche Soldaten als Teil des Eurokorps über die Champs-Élysées marschierten – diesmal in durch und durch friedlicher Absicht und als Partner und Freunde.
Es war nicht zuletzt seine entschiedene Politik, die die deutsch-französische Gemeinsamkeit und Freundschaft bis zu diesem Ereignis führen konnte. Und es war die Freundschaft mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, die schon begonnen hatte, als beide die Finanzminister ihrer Länder waren – eine Freundschaft, der die französisch-deutschen Beziehungen und die europäische Einigung so viel zu verdanken haben.
Wir werden vielleicht nie ganz genau wissen, was beide so tief verband. Vielleicht war es auch ihr christlicher Glaube, so unterschiedlich er bei beiden ausgeprägt war. Der tiefgläubige Katholik Giscard, der bis zum Tod, wenn es ihm möglich war, sonntags zur Kirche ging, in Paris auch gerne in die deutsche Gemeinde, und von dem ein Cousin zu den Gründern der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé gehörte – auf der einen Seite der französische Katholik und auf der anderen Seite der hanseatische Protestant Schmidt, der auf seine nüchterne Art seinem Gewissen und einer pragmatischen Nächstenliebe verpflichtet war.
Beide verloren darüber nicht viele Worte. Beide waren keine Träumer. Beide wussten, dass politische Phantasie nur so viel wert ist, wie sie sich in konkretem Handeln niederschlägt und wie weit sie in konkreten, funktionierenden Institutionen dauerhafte Gestalt annimmt.
So entwickelten sie beide in Zeiten großer internationaler und weltwirtschaftlicher Turbulenzen die Idee, informelle Treffen der wirtschaftlich stärksten Länder zu beginnen, gerade um im direkten Austausch der verantwortlichen Staats- und Regierungschefs Probleme schon im Ansatz zu definieren und Lösungen zu erörtern. Beim ersten Treffen auf Schloss Rambouillet waren es tatsächlich die von beiden angestrebten Kamingespräche
in fast familiärer Atmosphäre – und niemand konnte damals ahnen, zu welchen organisatorischen Superevents diese später sogenannten G7-Treffen sich auswachsen würden. Immerhin: Giscard und Schmidt hatten das dauerhafte Format einer internationalen Begegnung erfunden, auf die die internationale Politik bis heute nicht verzichten kann und will.
Giscard d’Estaing ergriff dann auch die Initiative, regelmäßige Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der damaligen Europäischen Gemeinschaft zu veranstalten. Treffen, aus denen dann der Europäische Rat hervorging. Bis heute ist dieser gemeinsame Tisch, an dem sich alle Staats- und Regierungschefs der EU regelmäßig versammeln, mit seiner integrierenden Kraft ein Motor des europäischen Zusammenhalts und als Problemlöser durch alle europäischen Krisen hindurch unverzichtbar.
Vertrauensbildung durch direkten Dialog, vernünftige und pragmatische Lösungen in strittigen Fragen durch unmittelbaren Austausch – das schienen Giscard d’Estaing die besten politischen Mittel. Der Pragmatiker, der aber immer über den Augenblick hinausdachte, vertraute auf den vernünftigen Diskurs und auf die Kraft des Arguments.
Auch das verband ihn tief mit Helmut Schmidt, mit dem zusammen er schließlich auch das europäische Währungssystem initiierte, mit der daraus entstandenen Rechnungswährung ECU, dem Vorläufer des Euro.
Hier, in diesem Hohen Haus, muss schließlich auch daran erinnert werden, dass Giscard d’Estaing es war, der entschieden für die Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments eingetreten ist. Noch in seiner Amtszeit gab es 1979 dann die erste allgemeine und unmittelbare Direktwahl zu diesem Parlament.
Nach seiner Amtszeit als Präsident, besonders nach den Umbrüchen von 1989, musste die Europäische Gemeinschaft größer und enger werden. Giscard ließ sich noch einmal in den Dienst nehmen und übernahm 2001 die Präsidentschaft über den Europäischen Konvent, der den Entwurf einer Europäischen Verfassung ausarbeitete. Er setzte seine ganze Kraft, sein ganzes diplomatisches Geschick, seine in vielen Ämtern und Aufgaben gewachsene staatsmännische Lebenserfahrung ein, um dieses Projekt zum Gelingen zu bringen.
Die Erarbeitung einer europäischen Verfassung war für Giscard nicht nur eine Herzensangelegenheit. Auch seine politische Vernunft und seine nüchterne Rationalität gaben ihm dazu Kraft und Mut. Umso mehr wird es ihn enttäuscht haben, dass das Referendum zur Europäischen Verfassung ausgerechnet auch in seinem französischen Heimatland abgelehnt wurde.
Europa war für Valéry Giscard d’Estaing mehr als eine Utopie für eine ferne Zukunft und gewiss mehr als ein loses Bündel aus ökonomischer Opportunität auf dem kleinsten gemeinsamen politischen Nenner. Ganz gewiss hatte Giscard, wie man in Anlehnung an Charles de Gaulle sagen könnte, une certaine idée de l’Europe
.
Es ist, denke ich, die Idee eines Europa, das Demokratie und Freiheit, Recht und Gerechtigkeit schützt und fördert. Ein Europa, das in der Welt nur gemeinsam Gewicht haben und Gehör finden wird. Ein Europa, das in der Vielfalt seiner Traditionen, in der Vielfalt seiner Kulturen, in der Vielfalt seiner jeweils regionalen und nationalen Geschichte und aus vielen Identitäten besteht und bestehen bleiben muss.
Ein Europa aber auch, das entschlossen ist, aus dieser Vielfalt nie mehr unversöhnliche Gegnerschaft werden zu lassen. Das innere Konflikte nicht überdeckt, aber auch nicht willkürlich verschärft, sondern in geduldigem, vernunftgeleitetem, auf Einheit und Ausgleich gerichtetem Gespräch zu schlichten sucht.
Wenn wir uns die vergangenen Monate und Jahre vor Augen halten, weiß jeder, gerade hier in diesem Haus, dass Europa vor allem konstruktive Arbeit braucht, sehr viel Geduld, sehr viel guten Willen, sehr viel Anstrengung, um das viele, das wir schon erreicht haben, nicht zu verspielen. Er weiß auch, dass das einmal gegebene Wort gelten muss, dass Verträge einzuhalten sind und dass man sich, in leichten wie in schwereren Zeiten, aufeinander verlassen können muss.
Die Pioniere der europäischen Einigung damals standen nicht nur vor den Trümmern eines katastrophalen Krieges. Sie mussten vielmehr die gemeinsamen geistigen Grundlagen schaffen oder wiederentdecken, ohne die es Europa nicht gibt. Sie mussten generationenalte mentale Grenzen überwinden und oft gerade in den eigenen Völkern Verständnis für den Weg in eine gemeinsame Zukunft wecken.
Es wird Konrad Adenauer nicht unbedingt die Sympathie aller seiner Landsleute eingebracht haben, als er 1948 davon sprach, dass der Kölner Dom, also das große Wahrzeichen seiner rheinischen Heimat, seine Wurzeln im französischen Boden
hat.
Und es wird auch Valéry Giscard d’Estaing nicht nur Freunde eingebracht haben, sich so leidenschaftlich und unbeirrt für die deutsch-französische Freundschaft einzusetzen und dafür, dass die große französische Nation ein gleichberechtigtes Mitglied in der bunten Familie aller Europäer, auch der mittleren, kleineren und kleinsten Staaten sein soll.
Wir Deutsche sind Valéry Giscard d’Estaing zu großem Dank verpflichtet. Wir haben in ihm einen wahren Freund verloren. Zugleich hoffen wir darauf, dass seine tiefen europäischen Überzeugungen in Frankreich auch in Zukunft Zustimmung und Unterstützung finden. Dass die pro-europäische Überzeugung französische Politik weiterhin prägen wird!
Geben wir uns – auch im Gedenken an ihn – gegenseitig das Versprechen: Wir fallen nicht zurück. Wir tun weiter unsere Arbeit. Gemeinsam für ein einiges Europa.