Verleihung des Großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 15. Juni 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an die Schriftstellerin Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch am 15. Juni in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten. Darin sagte er: "Belarus ist keine entfernte osteuropäische Verwandte. Seine Menschen sind uns nah, sie verdienen unsere Aufmerksamkeit und unsere Unterstützung."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes an Swetlana Alexijewitsch in  Schloss Bellevue.

Ich würde meine kleine Ansprache gern damit beginnen, Ihnen zu sagen, dass wir es als großes Glück empfinden, Sie bei uns zu wissen, hier in Berlin. Doch kann ich unser Glück nennen, was nicht Ihr Glück sein kann?

Ich vermag mir nicht vorzustellen, was es für eine Schriftstellerin, eine Sammlerin von Stimmen, von Tönen und Zwischentönen, die Sie sind, gerade in dieser Zeit bedeutet, von dem getrennt zu sein, was ihr Leben und ihre Arbeit ausmacht. Doch ich wünsche Ihnen und uns, dass Sie auch hier in Deutschland finden, was uns allen für unser Leben und unsere Arbeit unverzichtbar ist: Ermutigung.

Liebe Frau Alexijewitsch, in Ihrer Nobelpreisrede nannten Sie sich einen Menschen des Ohres, der, wenn er die Straße entlanggehe, Worte, Sätze und Ausrufe aufschnappe und dabei denke: Wie viele Romane doch spurlos in der Zeit untergehen. Sie bleiben ungehört und ungeschrieben.


Mitschnitt der gesamten Ordensveranstaltung

Ihre Kunst, die große Erzählung Ihrer Zeit, die Sie uns geschenkt haben, ist Ihr unverwechselbares Werk, und doch ist es undenkbar ohne das Land, in dem Sie aufgewachsen sind – ohne die Sowjetunion, durch die Sie in alle Himmelsrichtungen gereist sind, und ohne ihre Menschen, denen Sie zugehört haben, ohne deren Erfahrungen, ohne deren Geschichten.

Das Land, in dem Sie aufgewachsen sind, sei mit dem Tod vertraut, sagten Sie. Es ist ein Satz, der wehtut, denn er erinnert daran, dass diese Vertrautheit mit dem Tod auch eine deutsche Hinterlassenschaft ist. Die Geschichte unserer Länder bleibt verbunden durch ein Datum, das sich gerade zum achtzigsten Mal jährt: den 22. Juni 1941, den Tag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Es ist der Tag, an dem ein Krieg begann, dessen Spur unauslöschlich ist.

Belarus war das Schlachtfeld eines Vernichtungskriegs, der hier in Berlin seinen Ausgang genommen hatte. Ein Krieg, in dem der Gegner nicht besiegt, sondern ausgelöscht werden sollte. Was er auch für die Menschen in Belarus bedeutete, ist kaum je eindrücklicher erzählt worden, als Die letzten Zeugen es in einem Ihrer ersten Bücher getan haben, Männer und Frauen, die diesen Krieg als Kinder erlebten und deren Geschichten Sie in diesem Buch erzählen. Ich wünschte, noch mehr Deutsche würde es lesen.

Wir – Sie und ich – waren beide noch nicht geboren, als dieser Krieg zu Ende ging. Und doch hat er auch uns geprägt. Er hat die Leben unserer Eltern und Großeltern für immer verändert, Generationen, die ihre Leben in diesem Krieg gelassen haben. Ich meine das im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Wir sind mit Frauen aufgewachsen, die ihre Männer im Krieg verloren haben, mit Müttern und Großmüttern, auf deren Leben der Schatten dieses Krieges lag. Der Schatten eines unersetzlichen Verlusts.

Diese Erfahrung, so glaube ich, ist auch der Ausgangspunkt Ihrer Kunst. Die Bank vor dem Haus, auf der die Frauen sitzen und miteinander sprechen, Ehefrauen, Mütter, Schwestern – ohne Männer, ohne Väter, ohne Söhne und ohne Brüder. Erzähltes, Geflüstertes, auch Unausgesprochenes, an dem Sie Ihr Ohr geschult haben und Ihre Gabe zu erzählen. Wir können diese Geschichten nachlesen in Ihren ersten Büchern Der Krieg hat kein weibliches Gesicht und Die letzten Zeugen.

Ein Mensch will sich seine Geschichte, das Erlebte, das ihm widerfahren ist, erklären können. Doch nicht jeder kann aus der Summe des Erlebten und Erfahrenen eine Erzählung formen, in der sich auch die Erfahrungen anderer wiederfinden. Sie können es. Dass die Summe des Erlebten in einer Erzählung nicht zur höchsten Form der Abstraktion gebracht werden muss, sondern gerade in ihrer Vielstimmigkeit aufgehen kann, das ist es, was wir von Ihnen lernen können. Es sind die vielen einzelnen Stimmen im Chor, die eine Epoche zur Sprache gebracht haben, wie Karl Schlögel es in seiner Laudatio auf Sie sagte, als Sie 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielten.

Doch es hieße, diesen Chor misszuverstehen, wollte man nur die Stimme des Leidens heraushören. Auch ist Ihr Werk keine Chronik des Leids oder gar seine Verherrlichung. Es lässt uns vielmehr erkennen, dass es das Leid ist, das den Menschen unfrei macht. Damit sich ein Mensch entfalten kann, braucht er glückliche oder doch normale Lebensumstände, haben Sie einmal gesagt.

Das haben wir in den Sommermonaten des vergangenen Jahres erleben dürfen: Der Mensch muss nicht nur frei sein von Leid, er muss frei sein für die Freiheit. Die Männer, Frauen und Kinder, die wir auf den Straßen überall in Belarus gesehen haben, wollten eben das: ein Versprechen auf Freiheit einlösen.

Wir haben von Ihnen, liebe Swetlana Alexandrowna, gelernt, dass die Freiheit auf der Straße gefeiert, aber im Alltag gelebt sein will. Dass sie eine anspruchsvolle Pflanze ist, die nicht an jedem Ort gedeiht, aus dem Nichts. Allein aus unseren Träumen und Illusionen.

Freiheit, sagt Ihre Schwester im Geiste Hannah Arendt, wird nur selten – in Revolutions- und Krisenzeiten – zum direkten Zweck politischen Handelns und ist doch der eigentliche Sinn von Politik. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im politischen Handeln. Und nur dort erfahren sie, dass Freiheit mehr ist als ein Nicht-gezwungen-Werden.

Wir haben über Ihr Land, dem wir so viel Grauenhaftes angetan haben und das wir so lange vergessen hatten, in diesem vergangenen Jahr mehr gelernt, als wir je zuvor wussten. Wir haben neue Namen und Nationalfarben kennengelernt, vor allem aber haben wir in diesem Jahr gelernt, dass dieses Land Belarus im Aufbruch ein weibliches Gesicht hat.

Nein, der Krieg hat kein weibliches Gesicht, umso mehr aber dieser friedliche, mutige und noch immer brutal unterdrückte Aufbruch in die Zukunft – der hat es, seh- und spürbar für uns alle! Dieses Land, Belarus, ist keine entfernte osteuropäische Verwandte. Seine Menschen sind uns nah, sie verdienen unsere Aufmerksamkeit und unsere Unterstützung.

Es ist mir eine große Freude, Ihnen heute das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verleihen zu dürfen.