Videoansprache zur Eröffnung des 3. Ökumenischen Kirchentages

Schwerpunktthema: Rede

Frankfurt am Main, , 14. Mai 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 14. Mai mit einer Videoansprache den 3. Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt am Main eröffnet: "Kirchentage blicken nach vorn. Und so hoffe ich, dass von diesem Ökumenischen Kirchentag ein Signal der Ermutigung, ein Signal des Aufbruchs ausgeht. Denn ich bin der festen Überzeugung: Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen, gerade in dieser Zeit!"


Gottesdienste, Podien, Gespräche und Kulturprogramm, engagierte Laien aus dem ganzen Land, hochrangige Kirchenvertreter und so manche Politiker; unterschiedlichste Aktionen von der gemeinsamen Bibelarbeit bis hin zu gemeinsam im Netz: Ja, liebe Brüder und Schwestern, es ist wieder Kirchentag!

Aber wir müssen nicht lange hinschauen, um zu sehen: Es ist ein besonderer Kirchentag, den wir an diesem Freitagabend gemeinsam eröffnen.

Ich meine damit weniger die schmerzhaften Einschränkungen aufgrund der Pandemie, all die gewohnten Bilder, die es heute nicht geben wird: der Trubel in den Frankfurter Straßen, die große Eröffnungsfeier mit zehntausenden Zuschauern, die unverstellte Begegnung von Mensch zu Mensch an einem Ort, das gemeinsame Beten, das Singen, Musizieren und Tanzen. Es stimmt: All das fehlt uns sehr. Umso dankbarer bin ich und sind wahrscheinlich viele von uns für das, was dennoch möglich ist – und vor allen Dingen von so vielen Engagierten möglich gemacht wurde: Ein dicht bepackter, dezentraler und digitaler Kirchentag, der allen Widrigkeiten zum Trotz stattfindet. Dafür meinen herzlichen Dank und Glückwunsch an alle Beteiligten.

Liebe Schwestern und Brüder, dieser Kirchentag ist deshalb besonders, weil er uns aus dem ganzen Land als Christen über die Grenzen der Konfessionen hinweg wieder zusammenbringt, zu einem dritten Ökumenischen Kirchentag. An den ersten in Berlin denke ich ebenso gern zurück wie an den zweiten in München. Aber dieser dritte wird anders sein.

Dieser Ökumenische Kirchentag findet statt in einer für die Kirchen, für beide großen Kirchen, schwierigen Zeit: Das gottesdienstliche Leben ist coronabedingt erheblich eingeschränkt. Die schönen Choräle, nicht nur für Protestanten so wichtig, sind weitestgehend verstummt. Selbst zu Weihnachten und zu Ostern Leere in den meisten Kirchen. Und als sei das nicht traurig genug, im Hintergrund die bange Frage, ob es je wieder ein Zurück zur Normalität gibt. Ob die Pandemie nicht auch hier als Brandbeschleuniger wirkt, dem Prozess der Säkularisierung zusätzlichen Schub verleiht, die Kirchen aus der Mitte der Gesellschaft drängt. Und wir müssen uns kritisch fragen, wo die Kirchen selbst zum Prozess der Entfremdung beitragen. Zuvorderst nenne ich da die quälend langsame Aufdeckung und Aufarbeitung abscheulicher Verbrechen an den Schwächsten unter uns, an Kindern und Jugendlichen. Verbrechen, die in den Kirchen lange Zeit vergessen oder verschwiegen wurden.

Ja, für die Kirchen ist das aus vielen Gründen eine schwierige Zeit. Aber allen Widrigkeiten zum Trotz: Kirchentage blicken nach vorn. Und so hoffe ich, dass von diesem Ökumenischen Kirchentag ein Signal der Ermutigung, ein Signal des Aufbruchs ausgeht. Denn ich bin der festen Überzeugung: Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen, gerade in dieser Zeit!

Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen, um gegen die zunehmenden Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft anzugehen. Ob es die Pandemie ist, der Kampf gegen den Klimawandel, die Frage der Zuwanderung – ich sehe mit Sorge, dass die Auseinandersetzungen in unserem Land mit immer größerer Erbitterung geführt werden. Dass Familien im Streit zerbrechen, Freundschaften auseinandergehen; dass Räume des Dialogs ersetzt werden durch Filterblasen, in denen Hass und Hetze gedeihen. Auch in den Gemeinden werden diese Auseinandersetzungen geführt, wie sollte es auch anders sein. Zeigen wir als Christinnen und Christen, dass geduldiges Zuhören, vernünftiges Argumentieren, gemeinsame Wahrheitssuche möglich sind, ja wichtiger denn je sind!

Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen, die Brücken bauen zu unseren Nachbarn anderen Glaubens, die das Gespräch suchen, die Vorurteilen und Feindbildern entschieden entgegentreten, die für Toleranz und Glaubensfreiheit eintreten. Was auch die Freiheit einschließt, keiner Religion anzugehören.

Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen, im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel, für einen verantwortlichen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen unserer Erde. Ich freue mich, dass viele junge Menschen das zu ihrem Lebensthema gemacht haben. Dass sie, aber nicht nur sie, bereit sind, Verzicht zu leisten und liebgewordene Gewohnheiten aufzugeben. Aber gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass hier nicht eine neue Spaltung droht, zwischen Stadt und Land, Alt und Jung. Ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, den Weg in eine nachhaltigere Gesellschaft so zu beschreiten, dass bei den Verteilungskonflikten, die es unweigerlich geben wird, die gesellschaftliche Solidarität nicht auf der Strecke bleibt.

Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen, im Kampf für eine friedliche, gerechte Welt. Und das gerade in einer Zeit, in der die Spannungen zwischen den großen Mächten wachsen, sich der Kampf um knappe Ressourcen verschärft und die Pandemie viele ärmere Länder um Jahrzehnte zurückzuwerfen droht. Die große Vision von der Einen Welt, der wir uns nach dem Ende der Blockkonfrontation schon so nah fühlten, erscheint vielen schon wieder als blauäugiges Luftgespinst. Aber die christliche Friedensbotschaft kennt keine Grenzen und Blöcke. Sie richtet sich an alle Menschen, unabhängig von Kultur, Religion oder Hautfarbe. Die Botschaft von der Einen Welt muss Christen bleibende Verantwortung und Auftrag im Alltag sein.

Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen, die in einer Gesellschaft, die von Selbstermächtigung und Selbstoptimierung geprägt ist, daran erinnern, dass das menschliche Leben unverfügbar ist, dass Krankheit und Tod dazu gehören und unsere Gesellschaft Schaden nimmt, wenn wir sie an den Rand zu drängen versuchen. Ich danke all denen, die, ob als Seelsorger oder Gemeindeglieder, in der Pandemie den Kranken, den Sterbenden und den Hinterbliebenen zur Seite gestanden haben. Sie haben bezeugt, dass der Tod für Christen nicht das letzte Wort hat, dass das Leben und die Liebe stärker sind als er.

Und schließlich: Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen, die sich dafür einsetzen, die Spaltung der Kirche zu überwinden. Eine Spaltung, die einen dunklen Schatten auf die christliche Friedensbotschaft wirft und die, gestatten Sie mir diese Formulierung, angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen immer weniger verstanden wird. Ich danke deshalb all denen, die sich in beiden Kirchen geduldig darum bemühen, die Annäherung voranzutreiben. Ich weiß, wie schwer es ist, jahrhundertealte Gegnerschaft zu überwinden. Aber ich frage uns: Wie will man die Stadt auf dem Berge sein, Botin des Friedens, wenn Mauern diese Stadt trennen und wir nicht geduldig versuchen, sie einzureißen, so ein Beispiel versöhnter Vielfalt zu sein?

Schaut hin, das ist das Leitwort für diesen Ökumenischen Kirchentag. Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz, heißt es im dafür ausgewählten Psalm. Ich möchte allen Laien in den Kirchen danken, die sich – meist im Ehrenamt – jeden Tag, jede Woche mit offenen Augen einbringen, engagieren und aufreiben, auch und gerade, wenn es schmerzt.

Liebe Brüder und Schwestern, sorgen wir dafür, dass von diesem Kirchentag ein Signal der Ermutigung und des Aufbruchs ausgeht! Die Kirchen brauchen es, sicher. Vor allem aber braucht das die Welt. Eine Welt, die in vieler Hinsicht unfriedlich und zerstritten ist, aber sich nach Frieden und Versöhnung sehnt.

Vielen Dank und Shalom.