Videogrußwort zur Eröffnung des World Health Summit 2020

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 25. Oktober 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 25. Oktober den World Health Summit, der ausschließlich digital in Berlin stattfand, mit einer zuvor aufgezeichneten Rede eröffnet. Darin sagt er: "Niemand ist sicher vor COVID-19, bevor nicht alle davor sicher sind. Selbst wer das Virus in seinen eigenen nationalen Grenzen besiegt, bleibt ein Gefangener dieser Grenzen, solange es nicht überall besiegt ist."

Bundespräsident Frank-Walter Steimeier bei der Aufzeichnung seiner Rede zur Eröffnung des World Health Summit 2020

Das hatte sich heute Professor Ganten eigentlich ganz anders vorgestellt. Hier, im Zentrum Berlins, sollte die Weltgemeinschaft der Gesundheitsexperten zusammenkommen. Mediziner, Unternehmer, Politiker, Vertreter internationaler Organisationen, versammelt zu einer Konferenz, die wie kein World Health Summit vorher eine breite öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Stattdessen muss in letzter Minute improvisiert werden. Die neuerliche Dynamik der Pandemie zwingt uns alle zu Einschränkungen. Zu viele Teilnehmer konnten nicht anreisen. Und doch ist, wenn auch nur über Bildschirme zusammengeschaltet, eine Weltgemeinschaft versammelt.

Vielleicht liegt ja in dieser scheinbar paradoxen Situation eines World Health Summit, der noch nie so wichtig war und doch noch nie so wenige Menschen physisch versammelt hat wie in diesem Jahr, vielleicht liegt in dieser paradoxen Situation ein Schlüssel zum Verständnis unserer Lage in Zeiten von COVID-19.

Schon zu Beginn dieses Jahres haben Staaten ihre Grenzen geschlossen, als das Virus sich ausbreitete. Wir haben das öffentliche Leben fast auf null heruntergefahren, um die Dynamik des Infektionsgeschehens zu brechen. Wir alle wissen um die vielen Opfer dieser Wochen, bei vielen unserer Nachbarn noch mehr als bei uns.

Das Virus hat dann über den Sommer vor allem anderswo auf der Welt gewütet. Nun ist es mit Macht zurück in Europa.

Regierungen ringen in diesen Tagen um die richtigen Maßnahmen, um einen zweiten Lockdown und eine erneute unkontrollierte Ausbreitung des Virus zu verhindern. Wir alle werden mit schmerzhaften Einschränkungen leben, Disziplin üben und Geduld haben müssen. Geduld, die in den zweiten sechs Monaten eines langen Jahres noch einmal unendlich viel schwerer fällt als in den ersten sechs Monaten.

Und zugleich wissen wir, dass diese Einschränkungen, diese Rückzüge hinter nationale Grenzen nicht die Lösung bringen für unsere schwierige Lage.

Im Gegenteil, der wirkliche Ausweg aus der Pandemie, der Silberstreif am Horizont unserer endlichen Geduld liegt in der beispiellosen internationalen Anstrengung, in der Sie alle und noch viel mehr Menschen rund um den Globus vereint sind. Forscherinnen und Forscher in Universitäten, Unternehmen und Instituten, Unternehmer und Manager in der Pharmaindustrie, Beamte und Politiker in Ministerien und in internationalen Institutionen, Philanthropen und Experten, die sieben Tage in der Woche rund um die Uhr an Therapeutika und Diagnoseverfahren arbeiten, die Fabriken bauen für die ersehnten Impfstoffe, die die unendlich komplizierte Logistik der Produktion und weltweiten Verteilung austüfteln.

Deshalb freue ich mich, dass Sie alle hier virtuell zusammenkommen heute Abend und für die nächsten Tage. In diesem Sinne: Herzlich willkommen in Berlin!

Ja, ich weiß, manche sehen unser global vernetztes Wirtschaftssystem nun als Fluch. Ein System, dessen Schwäche und Verwundbarkeit in der rasenden Ausbreitung des Virus bis in den hintersten Winkel plötzlich offenbar wird. Ich sehe aber zugleich noch etwas anderes. Ich sehe die Mobilisierung enormer Ressourcen und eines bewundernswerten menschlichen Erfindungsgeistes in einem wahrhaft weltumspannenden Netzwerk. Wohl nie zuvor ruhten die Erwartungen und Hoffnungen von mehr Menschen auf Ihnen, die Sie hier versammelt sind und zuhören. Ich gebe zu: auch meine.

Aus vielen Gesprächen mit Experten ziehe ich außerdem die begründete Zuversicht, dass wir in absehbarer Zeit greifbare Fortschritte sehen werden: neue Testverfahren, die schnellere Ergebnisse bringen, neue Therapeutika, die schwere Krankheitsverläufe lindern, neue Impfstoffe, die sicher und wirksam sind.

Sie wissen besser als ich, dass selbst solche Durchbrüche uns nicht von heute auf morgen die Normalität vor der Pandemie zurückbringen. Sie wissen besser als ich um die enormen, ja beispiellosen medizinischen, technischen und logistischen Herausforderungen der kommenden Monate.

Und doch: All das macht mir Hoffnung, dass wir im kommenden Jahr Schritt für Schritt den Weg aus dieser Pandemie herausfinden.

COVID-19 fordert uns alle, das Virus kennt keine Grenzen, die Nationalität seiner Opfer ist ihm gleichgültig. Es wird auch künftig jede Barriere überwinden, wenn wir ihm nicht gemeinsam entgegentreten. Im Angesicht des Virus sind wir zweifellos eine Weltgemeinschaft. Aber die entscheidende Frage ist doch: Sind wir auch in der Lage, als eine solche zu handeln?

Vor sechs Jahren, als ich diesen Gipfel schon einmal eröffnen durfte, war das beherrschende Thema damals die Ebola-Epidemie. Mit der Hilfe und den Mitteln vieler, auch vieler unter Ihnen, konnte damals der Ausbruch eingedämmt werden.

Heute stehen wir vor einer ungleich größeren Herausforderung, medizinisch wie politisch. Wenn wir heute eine wirkliche Globale Allianz schmieden müssen, dann nicht allein als Akt der Solidarität, nicht um ein Anliegen zu fördern, das nicht primär als das unsere verstanden wird. Sondern auch aus einem wohlverstandenen Eigeninteresse heraus.

Niemand ist sicher vor COVID-19, bevor nicht alle davor sicher sind. Selbst wer das Virus in seinen eigenen nationalen Grenzen besiegt, bleibt ein Gefangener dieser Grenzen, solange es nicht überall besiegt ist. Selbst wer seine eigenen Fabriken wieder öffnen kann, braucht Zulieferer, braucht Partner, braucht Kunden jenseits seiner Grenzen.

Eine Pandemie, die im eigenen Land eingedämmt, aber jenseits unserer Grenzen nicht überwunden ist, kostet weiterhin Menschenleben, kostet aber auch Wohlstand. Die Formel wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht ist nicht nur unethisch, sie ist dumm.

Aber auch wenn das alles für uns klar auf der Hand liegt, bleibt die entscheidende Frage doch immer noch unbeantwortet: Schaffen wir es, wirklich als Weltgemeinschaft zu handeln? Dazu bedarf es mehr als nur der Einsicht!

Ich bin der Europäischen Kommission unter Frau von der Leyen und dem WHO-Exekutivdirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus sehr dankbar für ihre führende Rolle, eine solche globale Allianz zu schmieden. Ebenso dem französischen Staatspräsidenten und der Bundeskanzlerin für ihre starke Unterstützung, schon im Frühjahr, zu Beginn der Pandemie, jedenfalls die Weichen richtig zu stellen. Ich bin den 168 Regierungen dankbar, die sich bis heute dem sogenannten Access to COVID-19 Tools Accelerator (ACT-A) angeschlossen haben.

Ich bin den Ländern, Unternehmen und Stiftungen dankbar, die sich in diesem Rahmen in der Covax-Initiative engagieren. Covax ist unsere beste Chance, einen weltweit fairen, transparenten und bezahlbaren Zugang zu Impfstoffen, Medikamenten und Diagnostik zu organisieren. Bis Ende 2021 sollen so über neunzig Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen zwei Milliarden Impfdosen zur Verfügung gestellt werden.

Doch der Finanzbedarf für Forschung, Entwicklung, Produktion und Verteilung ist bei Weitem noch nicht gedeckt. Die Kosten für eine solche Kraftanstrengung sind enorm. Aber sie machen am Ende nur einen Bruchteil dessen aus, was die Regierungen schon heute für die Stabilisierung ihrer Volkswirtschaften und Sozialsysteme während der Pandemie ausgeben mussten. Das Geld für Covax ist nicht nur aus medizinischen, auch aus wirtschaftlichen Gründen gut ausgegebenes Geld!

Der sogenannte Impfstoffmoment, der uns im Falle erfolgreicher Forschung bevorsteht, ist – wer wüsste das nicht unter Ihnen - medizinisch und logistisch enorm komplex und herausfordernd. Überdies ist er auch politisch voller Risiken und eine Wegscheide. Es hängt von unserem Handeln heute ab, wie die Welt nach der Pandemie aussieht.

Es hängt von den Regeln ab, auf die wir uns in diesen Wochen verpflichten, wie viele Menschenleben wir retten können. Es hängt von unserer Weisheit ab, ob sich die Logik der Zusammenarbeit und des kollektiven Handelns gegen egoistische Impulse und gegen geopolitisches Kalkül behaupten kann.

Es liegt an uns, wieviel Vertrauen als wertvollste Ressource des Miteinanders unter den Staaten am Ende der Pandemie noch vorhanden ist.

Kurz gesagt: Es liegt an uns, den hehren Worten auch Taten folgen zu lassen. Das gilt schon innerhalb unserer Gesellschaften.

Es muss ein Verteilungsschlüssel festgelegt werden. Wer wird wann mit welcher Priorität geimpft? Vor allem in den Monaten, in denen noch nicht ausreichend Impfdosen zur Verfügung stehen, um alle zu impfen, die geimpft werden wollen: medizinisches Personal, besondere Risikogruppen, ältere Menschen, sozial gefährdete Gruppen, und wer noch? Konsens darüber herzustellen, wird alles andere als einfach. Aber erst recht auf der globalen Ebene.

Es wäre eine Illusion zu glauben, dass schon kurz nach der ersten Zulassung genug Impfstoff zur Verfügung stehen wird, um sofort Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt vor einer Infektion zu schützen.

Wir alle wissen auch, dass Regierungen zuallererst ihrer eigenen Bevölkerung verpflichtet sind. Es ist deshalb zunächst verständlich, wenn Regierungen versuchen, sich schon jetzt, vor der Zulassung eines oder mehrerer Impfstoffe größere Mengen davon bei den Herstellern zu reservieren. Aber zur Wahrheit gehört auch: Weil nicht überall auf der Welt sofort Impfstoffe in großer Menge produziert werden können, wird eine solche frühzeitige Impfstoffsicherung einiger zu Lasten anderer gehen.

Präziser ausgedrückt: Fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Staaten, die nicht über die Mittel verfügen, sich den Herstellern als Vorzugskunden anzudienen. Die Folge wird sein, dass in ärmeren, aber nicht weniger bedürftigen Ländern nur ein geringer Teil der Bevölkerung geimpft werden kann, in reicheren Ländern hingegen ein ungleich größerer Teil.

Wird es der Politik gelingen, überzeugend zu erklären, dass es für uns alle von Vorteil ist, wenn zunächst weniger Menschen in allen Ländern geimpft werden, als in wenigen Ländern alle Menschen?

Das kann nur gelingen, wenn wir uns jetzt auf Regeln verpflichten, die dem Ziel, aus dem Impfstoff ein Global Public Good zu machen, so nahe wie irgend möglich kommen. Das ist das Ziel, das sich Covax und seine Unterstützer gesetzt haben.

Um einen solchen, zugegebenermaßen ambitionierten Ansatz, der an das Beste in uns Menschen glaubt, um diesen Ansatz zum Erfolg zu führen, braucht es starke, braucht es weltweite Unterstützung.

Kein Land fehlt zum Erfolg der bisherigen Anstrengungen so sehr wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Ich appelliere deshalb an die nächste Regierung der USA, wer immer sie ab dem 20. Januar stellen wird, sich der Covax-Initiative anzuschließen!

Ich appelliere an China, seinem Beitritt und seiner Rhetorik zu Impfstoffen als Global Public Good substanzielle Taten der Unterstützung für Covax folgen zu lassen. Das wird auch in Chinas wohlverstandenem Eigeninteresse sein!

Ich appelliere auch an alle Akteure der deutschen Bundesregierung, den in Covax gebündelten Bemühungen um weltweiten fairen Zugang zu Impfstoffen und Medikamenten dieselbe Aufmerksamkeit und Unterstützung zukommen zu lassen, wie sie es mit ihrem bewundernswerten Einsatz für eine gemeinsame europäische Antwort auf die Krise tun!

Es ist eine gewaltige Aufgabe, die zu leisten ist. Und doch: Wenn wir auf das Jahr 2021 blicken, haben wir doch Anlass zu begründeter Zuversicht. Das ist die Zuversicht, die die weltweite Gemeinschaft der Forscher und Mediziner uns gibt.

Aber wenn wir nach der Pandemie nicht in einer Welt leben wollen, in der der Grundsatz jeder gegen jeden, und jeder für sich noch mehr Raum greift, dann brauchen wir die aufgeklärte Vernunft unserer Gesellschaften und unserer Regierungen.

Dann müssen wir die Pandemie mit einem Geist der Zusammenarbeit überwinden, nicht im Geist des Impfstoffnationalismus. Selten in der Menschheitsgeschichte liegen die menschenrettenden und wohlstandsichernden Früchte internationaler Zusammenarbeit einerseits und die kalten Folgen einer Jeder für sich-Politik andererseits so offen zutage und vor unseren Augen wie in Zeiten der COVID-19 Pandemie.

Wenn wir hier scheitern, wie können wir dann die Zuversicht bewahren, dass wir im Kampf gegen den ungleich komplexeren Klimawandel, dass wir diesen Kampf gewinnen können? Umgekehrt aber: Wenn es uns im kommenden Jahr durch den menschlichen Erfindungsgeist und die beispiellose Anstrengung einer wirklichen Weltgemeinschaft gelingt, COVID-19 in die Schranken zu weisen, dann können wir mit neuem Optimismus darangehen, auch auf den menschengemachten Klimawandel eine wirkungsvolle Antwort zu geben.

Ich wünsche uns allen den Mut, die Vernunft und die Kraft, darauf hinzuarbeiten.

Vielen Dank.


Die Rede des Bundespräsidenten wurde zuvor aufgezeichnet und als Videobeitrag übermittelt.