Eröffnung des Dokumentationszentrums der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen

Schwerpunktthema: Rede

Gardelegen, , 15. September 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zur Eröffnung des Besucher- und Dokumentationszentrums der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen in Sachsen-Anhalt am 15. September eine Ansprache gehalten: "Nicht die Erinnerung an die Vergangenheit ist eine Last. Zur Last wird sie, wenn wir sie leugnen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Orte wie diesen haben, Orte des Erinnerns."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Eröffnung des Besucher- und Dokumentationszentrums der Gedenkstätte Gardelegen.

Überall ringsum war Feuer.
Menschen weinten, schrien, wimmerten, riefen um Hilfe […].

Was Romuald Bąk schildert, ist ein Inferno. Ein Inferno, von Menschen gemacht, in der einstigen Feldscheune dort drüben, in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1945.

Romuald Bąk, ein jüdischer KZ-Häftling aus Polen, hat es wie durch ein Wunder überlebt. Und das, obwohl die Flammen in der Scheune 12 Fuß hoch loderten, obwohl von allen Seiten geschossen wurde, Stunden um Stunden, so berichtete es der Häftling Edward Antoniak. Auch er kam aus Polen, auch er gehörte zu den wenigen, die sich retten konnten. Edward Antoniak war 18 Jahre jung, er kannte die Schrecken des Krieges von Beginn an. Er stammte aus Wieluń – sein Schicksal hat mich ganz besonders berührt.

Vor einem Jahr nämlich stand ich als deutscher Bundespräsident dort, auf dem Marktplatz von Wieluń, um gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten und trauernden Einwohnern des Beginns des Zweiten Weltkriegs zu gedenken. Auf die polnische Stadt fielen in den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 die Bomben der Wehrmacht. Es war das erste schwere Verbrechen der Deutschen in diesem Krieg. Das Massaker hier in Gardelegen war eines der letzten.

Ursprünglich wollten wir der Opfer im April gedenken, doch Gedenk- und Eröffnungsfeier konnten wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden. Deshalb freue ich mich umso mehr, dass wir die Eröffnung dieses wunderbar lichten, modernen Dokumentationszentrums heute nachholen können. Es ist mir persönlich ein besonderes Anliegen, heute hier zu sein, und ich danke Ihnen, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Schumacher, sehr geehrter Herr Stiftungsdirektor Dr. Langer, sehr geehrter Herr Gedenkstättenleiter Froese, ganz herzlich für die Einladung!

Auch heute gelten meine Gedanken den Opfern und Hinterbliebenen. Zwei von ihnen sind heute hier, und dafür bin ich zutiefst dankbar.

Romuald Bąk und Edward Antoniak, Guy Chamaillard, Georges Crétin, Geza Bondi – nur wenige Überlebende konnten davon Zeugnis ablegen, wie SS- und Wehrmachtsangehörige und Zivilisten an jenem Abend des 13. April 1945 – die US-Truppen standen nur noch wenige Kilometer entfernt – mehr als tausend wehrlose, von Zwangsarbeit, Hunger, Kälte gezeichnete KZ-Häftlinge in die Feldscheune von Gut Isenschnibbe trieben und diese in Brand steckten.

Diese Menschen gehörten zu den Hunderttausenden von Gequälten, die glaubten, der Hölle in den Lagern entronnen zu sein. Viele kamen in eine neue Hölle. Die Hölle der Todesmärsche.

Die Täter müssen gehört haben, wie die Verzweifelten in der Scheune um Hilfe riefen, auf Russisch, Polnisch, Französisch, Holländisch, Ungarisch, Italienisch. Sie müssen gehört haben, wie sie schrien. Sie müssen gehört haben, wie sie beteten.

Die Mörder kannten kein Erbarmen. Erst in den frühen Morgenstunden senkte sich Stille über die Scheune. Die Stille des Todes.

Grauen, Entsetzen und Wut empfanden die amerikanischen Soldaten, als sie die Toten in den noch rauchenden Trümmern fanden, als sie entdeckten, dass die Täter ihre Tat offenbar vertuschen wollten. Der 102. US-Infanteriedivision unter General Keating verdanken wir, dass die Opfer beigesetzt wurden und dass die Welt erfuhr vom Holocaust of Gardelegen – so nannte die amerikanische Illustrierte Life dieses Massaker, über das sie schon am 7. Mai 1945 mit erschütternden Fotos berichtete.

Ihnen verdanken wir es, dass die Welt erfuhr, was hier in Gardelegen vor 75 Jahren geschehen ist. Ihnen, den Befreiern der US-Armee und ihren Nachfahren, möchte ich heute danken.

Und wir erinnern uns: Es waren Deutsche, die hier mehr als eintausend Menschen umgebracht haben. Als Bundespräsident verneige ich mich in tiefer Trauer und Demut vor den Opfern. Die meisten von ihnen sind bis heute namenlos. Sie kamen aus ganz Europa. Der Schmerz lebt in vielen Ländern, er lebt in den Familien der Opfer bis heute fort. Und das ist nur zu verständlich. Liebe Agnieszka Śliwińska, liebe Swenja Granzow-Rauwald, Ihnen und allen Angehörigen der Opfer möchte ich versichern: Wir Deutsche sind zutiefst dankbar für die Hand der Versöhnung, die uns gereicht wurde – von unseren Nachbarn, aber auch von den Nachfahren der Opfer. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, und wir wollen ihr gerecht werden!

Es ist wichtig, dass wir uns erinnern. Dass wir die Erinnerung wachhalten an Verbrechen, von denen – bis heute – viele, zu viele Deutsche nichts wissen. Gardelegen steht für viele kleine Orte in Deutschland. Es steht für die Verbrechen, die Deutsche in den letzten Wochen und Tagen des Krieges, der längst verloren war, begangen haben. Sie mordeten bis zur letzten Minute. Mitten in Deutschland. Überall in Deutschland.

Ja, es waren Deutsche, auch hier in Gardelegen. Und die Täter waren nicht nur Angehörige der SS und der Wehrmacht, auch die örtliche Polizei und der sogenannte Volkssturm beteiligten sich, alte Männer und halbe Kinder.

Oberst Lynch, der Stabschef der 102. US-Infanteriedivision, formulierte das damals, im April 1945, unmissverständlich: Einige werden sagen, die Nazis seien für dieses Verbrechen verantwortlich. Andere werden auf die Gestapo verweisen. Aber […] es ist die Verantwortung des gesamten deutschen Volkes.

Gewalt und Zerstörung, millionenfacher Mord in den Konzentrationslagern und auf den Todesmärschen: All diese Verbrechen hatten Deutsche zu verantworten.

Wenn wir über die Verbrechen dieser letzten Tage und Wochen im Krieg sprechen, stellt sich die Frage nach der Verantwortung noch einmal mit aller Schärfe. Sie wurde lange, zu lange verdrängt. Die Verantwortung von Bürgermeistern und Dorfvorstehern, von Polizisten und Feuerwehrleuten, von Pfarrern und Ärzten, von Männern und Frauen. Von Menschen, die gesehen hatten, in welchem Zustand die Häftlinge waren, die durch ihre Dörfer und Kleinstädte getrieben wurden, die weder helfen mochten noch dem Morden Einhalt geboten – oder die sich sogar selbst daran beteiligten. Ja, es gab auch die anderen, die Mutigen, die Anständigen, die Häftlinge versteckten, ihnen zur Flucht verhalfen. Es waren nur wenige. Zu wenige.

Nur wenige waren es auch, die sich für Verbrechen in dieser letzten Phase des Krieges vor Gericht verantworten mussten. Ja, es ist beschämend, dass einer der Hauptverantwortlichen für das Massaker von Gardelegen bis zu seinem Tod 1994 in Düsseldorf lebte, ohne dass er für seine Tat zur Verantwortung gezogen wurde. Es wurde geschwiegen über die Gräuel. Es wurde geschwiegen über die Opfer und die Täter. Oder wenn nicht geschwiegen wurde, dann wurde das Gedenken oft politisch instrumentalisiert, und zwar ohne die Bereitschaft zur Selbstkritik und den Willen zu Gerechtigkeit.

Eine offene Auseinandersetzung über die Verbrechen in den letzten Kriegstagen begann erst Jahrzehnte später, und sie ist noch nicht zu Ende. Der israelische Historiker Daniel Blatman, dem wir eine der profunden neueren Untersuchungen über diese Zeit verdanken, hat es einmal so formuliert: Wer es ehrlich meint, der muss sich mit der Beteiligung der zivilen Gesellschaft auseinandersetzen – mit denen, die damals an diesen Orten lebten.

Das geschieht inzwischen. Überall in Deutschland haben sich auch engagierte Gruppen und Initiativen gebildet, gefragt und geforscht. Und sie haben den Opfern der Todesmärsche Denkmäler gesetzt. Auch hier in Gardelegen und seinen Ortsteilen. Ich denke an den Förderverein dieser Gedenkstätte, an die Schülerinnern und Schüler der AG Stolpersteine des Geschwister-Scholl-Gymnasiums und viele engagierte Bürgerinnen und Bürger. Ihnen allen möchte ich danken, dass wir heute mehr wissen.

Wenn es schon unmöglich ist zu verstehen, so ist doch das Wissen notwendig – diesen Satz von Primo Levi habe ich im August vor einem Jahr bewusst an meine Landsleute in Deutschland gerichtet. Ich war damals in Fivizzano, einem Bergdorf in der Toskana, einer jener vielen Orte in Europa, in denen die SS entsetzliche Verbrechen verübt hat. Es war der Beginn einer Reihe von Gedenkveranstaltungen zum Zweiten Weltkrieg. Dass ich als deutscher Bundespräsident zu dem Gedenken in Fivizzano, in Wieluń, in Warschau, in Bastogne und vor allem in Yad Vashem geladen wurde, erfüllt mich mit tiefer Demut und Dankbarkeit. Mit der heutigen Veranstaltung hier in Gardelegen schließt sich für mich ein Kreis.

Ich möchte den Satz von Primo Levi deshalb heute noch einmal wiederholen: Wir müssen wissen, was geschehen ist. Wir müssen wissen und das Wissen weitergeben an die kommenden Generationen.

Heute ist der Internationale Tag der Demokratie. Er erinnert uns daran, dass Demokratie nicht selbstverständlich und erst recht nicht auf ewig garantiert ist. Er erinnert uns daran, dass uns unsere Vergangenheit Lehren aufgibt für die Gegenwart und die Zukunft.

Wir leben in einer Zeit, in der unsere Demokratie, in der unser Rechtsstaat nicht unangefochten ist; in der autoritäres, sogar völkisches Denken neue Verführungskraft entfaltet; in der neue Verschwörungsmythen gedeihen; in der die Taten von Hanau und Halle, in der die NSU-Morde und andere rechtsterroristische Anschläge möglich waren. Unsere Verantwortung ist es, jede Form von Antisemitismus und Rassenhass zu bekämpfen, einzutreten für die Demokratie und die Würde jedes Einzelnen. Diese Prüfung müssen wir heute bestehen vor den nachfolgenden Generationen, und wir müssen sie für sie bestehen. Für sie, die Jungen, die wissen sollen, welches Grauen, welches Leid einst Diktatur, Rassenhass und Nationalismus über Deutschland und Europa gebracht haben.

Deshalb ist es wichtig, dass wir keinen Schlussstrich ziehen und nicht zurückfallen in das alte Verdrängen. Nicht die Erinnerung an die Vergangenheit ist eine Last. Zur Last wird sie, wenn wir sie leugnen.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir Orte wie diesen haben, Orte des Erinnerns. Deshalb ist es wichtig, dass wir Wissen kreativ vermitteln, dass wir neue, historisch fundierte und emotional berührende Formen der Vermittlung finden. Neue Technologien eröffnen uns da auch neue Wege – Sie hier in der Gedenkstätte Gardelegen machen vor, wie das gehen kann. Sie sind neue Wege gegangen, und ich bin sicher, dass Sie eine wichtige Rolle spielen werden, wenn es um die Beschäftigung mit dem letzten dunklen Kapitel der NS-Zeit geht.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und vor allem viele Besucher!

Und wenn ich mir als Bundespräsident heute noch etwas wünschen darf, dann das: dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler mindestens einmal in ihrer Schulzeit eine Gedenkstätte wie die Ihre besuchen. Damit sie – im Sinn von Primo Levi – wissen; wissen, was geschehen ist.