Es ist mir eine große Freude, Sie alle hier im Schloss Bellevue begrüßen zu können. Und sehr gerne führe ich für Deutschland die Tradition weiter, Sie alle als Vertreter Ihrer Gerichte zu empfangen – zum zweiten Mal nach der Wiedervereinigung. Wie Sie vielleicht wissen, bin ich der Verwaltungsgerichtsbarkeit in besonderer Weise nahe: Meine Gattin ist, auch wenn sie zurzeit beurlaubt ist, Verwaltungsrichterin – nur ein paar Straßen von Bellevue entfernt am Berliner Verwaltungsgericht. Auch deshalb ein ganz herzliches Willkommen.
Sie sind für das Seminar nach Berlin gereist, obwohl das Bundesverwaltungsgericht doch seinen Sitz in Leipzig hat. Es wird für manche von Ihnen etwas ungewohnt sein, dass das höchste Verwaltungsgericht eines Staates nicht in der Hauptstadt residiert. Wie Sie wissen, ist in Deutschland die Justiz Ländersache. Auf der Bundesebene gibt es nur fünf oberste Bundesgerichte – den für Zivil- und Strafrecht zuständigen Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesarbeitsgericht, das Bundessozialgericht und den Bundesfinanzhof. Auch diese obersten Bundesgerichte sind dezentral lokalisiert. Kein oberstes deutsches Gericht residiert in der Hauptstadt.
Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass Berlin bis zum Jahr 2002 Sitz des Bundesverwaltungsgerichts war. Bis 1989 diente diese Ausnahme von der Regel vor allem als Zeichen dafür, dass Westberlin zur Bundesrepublik Deutschland gehörte. Nach der Wiedervereinigung zogen viele Bundesbehörden und Bundesgerichte um. Zu unserem deutschen Verständnis von Bundesstaatlichkeit gehört es, dass Organe und Institutionen des Bundes in den Ländern angesiedelt sind – vor allen Dingen auch in den neuen Ländern. Es bewirkt eine gewisse Bürgernähe, wenn der Bund mit seinen Behörden und Gerichten vor Ort ist, und deshalb war es richtig, dass das Bundesarbeitsgericht nach Erfurt und das Bundesverwaltungsgericht nach Leipzig gezogen ist.
Leipzig ist nicht nur eine Messestadt, sondern auch die Stadt der ersten Montagsdemonstrationen, der Beginn einer Erhebung, die zur friedlichen Revolution von 1989 führte. Und Leipzig ist schließlich auch eine Stadt mit einer weit zurückreichenden, lebendigen Rechtskultur: Eine traditionsreiche, zugleich junge und moderne rechtswissenschaftliche Fakultät ist am Ort, ein Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat seinen Sitz in Leipzig, und das Bundesverwaltungsgericht konnte das Gebäude des ehemaligen Reichsgerichts beziehen und hat damit vielleicht einen noch repräsentativeren Bau als das Staatsoberhaupt hier in Berlin!
Sogar das Bundesverfassungsgericht tagt fernab von der Tagespolitik in Karlsruhe. Die räumliche Distanz des Verfassungsgerichts und der obersten Gerichte des Bundes zu Legislative und Exekutive hat wohl in erster Linie historische und föderale Gründe. Ich bin überzeugt, dass diese räumliche Entfernung der Judikative von der Tagespolitik der Gewaltenteilung nutzt – auch wenn man nicht mehr am gleichen Ort sein muss, um miteinander zu kommunizieren. Denn die räumliche Distanz trägt doch zu einer Konzentration auf die Anwendung des bestehenden Rechts bei und beugt einer möglichen Einflussnahme auf die Rechtsprechung durch zu viel Nähe zur Politik vor.
Sie alle kommen aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, Sie kommen aus Norwegen und der Schweiz und als Beobachter auch aus Montenegro, Serbien und der Türkei. Damit verkörpern Sie als Repräsentanten der obersten Verwaltungsgerichte und Staatsräte Ihrer Länder Europa. Die europäische Rechtstradition ist maßgeblich vom Respekt vor dem Recht geprägt. Nicht wenige Rechtshistoriker bestimmen die Reichweite Europas gar danach, wo das lateinische Recht zur Rechtsgrundlage der Rechts- und Gesellschaftsordnungen geworden ist. Die Begrenzung der Macht durch Recht ist eines der wesentlichen Kennzeichen der rechtskulturellen Entwicklung. So überrascht es nicht, dass die europäische Einigung der Idee folgte, eine Integration durch Recht zu schaffen. Die Europäische Union ist ein Zusammenschluss von Staaten, die sich vormals feindlich gegenüberstanden und sich heute, auf der Grundlage einer Unterordnung unter eine von allen Mitgliedstaaten konsentierte und für alle gleich geltende Rechtsordnung, als Partner verstehen. Dieses vereinigte Europa ist keine durch bloße Macht erzwungene Gemeinschaft, sondern ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
Die Überzeugungskraft dieser Idee kommt auch in der Entwicklung einer selbstständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Staaten der Europäischen Union zum Ausdruck. Sie wird sichtbar im Zusammenschluss der Gerichte, die Sie hier repräsentieren. Sie wird sichtbar in Ihrer Zusammenarbeit, in Ihrem Gedanken- und Erfahrungsaustausch. Ihre Zusammenkünfte fördern das gegenseitige Verständnis – für die jeweilige andere Rechtsordnung, aber auch für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Und nicht zuletzt – davon bin ich überzeugt und weiß es aus eigener Praxis – entstehen persönliche Beziehungen und Freundschaften. Sie alle pflegen diese Tradition, seit 1968 erstmals die höchsten Verwaltungsgerichte der damals noch sechs EG-Staaten zusammenkamen. Damit leisten Sie einen unverzichtbaren Beitrag zum Zusammenwachsen Europas, und das verdient höchste Anerkennung und Respekt.
Als Ihre Vereinigung das letzte Mal in Deutschland zu Gast war, konnte mein Vorgänger Horst Köhler noch feststellen, dass zwar die Europaeuphorie der Gründerjahre und dann der Jahre nach dem Vertrag von Maastricht verflogen sei. In einem Europa der 25 oder gar 30 Mitgliedstaaten – so sagte Herr Köhler damals – werde es nicht leichter, angesichts der Vielfalt von Sprachen, Geschichte, Kultur und Wirtschaft die Einheit Europas zu erreichen. Und er sagte damals schon, man müsse die Ängste der Menschen ernst nehmen. 2006 war das!
Seither ist viel Krisenhaftes in Europa geschehen. So vieles, das wir damals nicht für möglich gehalten hätten: Staatsschuldenkrise, stagnierende Wirtschaftsentwicklungen, zum Teil hohe Arbeitslosenquoten, Europaskepsis, aufkeimender Nationalismus und Populismus, die Austrittserklärung Großbritanniens nicht zu vergessen – ich will hier nur einige Stichworte nennen. Und in jüngster Zeit sind wir zudem noch mit einer offensiven, manchmal geradezu aggressiven Ablehnung unserer liberalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Überzeugungen konfrontiert, eine Ablehnung, die eine ernste Bedrohung für das Erreichte darstellt. Sie wissen: Es hat lange gedauert, um zu diesem einigen Europa in der heutigen Form zu kommen. In den vergangenen fast 70 Jahren sind auf unserem Kontinent Friedens-, Freiheits- und Wohlstandversprechen erfüllt worden. Es ist ein Trugschluss, wenn nationale Politiker glauben machen, als Nationalstaat könne man in der Globalisierung bestehen, oder sogar sagen, Frieden, Freiheit und Wohlstand könnten nur durch den Nationalstaat besser verteidigt werden. Sie sind im 21. Jahrhundert nur in einer starken Gemeinschaft mit festen Partnern an der Seite wirklich gesichert. Und uns sollte klar sein: Viel schneller, als dieses Europa erbaut wurde, kann das europäische Einigungswerk von seinen Gegnern zum Einsturz gebracht werden. Wie schnell vermeintlich stabile Gesellschaftsordnungen zusammenbrechen können, das haben wir 1989/1990 erlebt.
Wir müssen täglich verteidigen, was zu unseren Fundamenten zählt, und wir müssen täglich dafür arbeiten. Gerade zurzeit, vor den Wahlen zum Europäischen Parlament, müssen wir für die Vorzüge eines einigen Europas werben, ohne zu verleugnen, dass es auch einiges zu verbessern und vieles zu reformieren gilt in dieser Europäischen Union.
Zu unserem Europa gehört eine liberale, rechtsstaatliche Demokratie. Unabdingbar sind Meinungs-, Versammlungs- und Medienfreiheit, eine Kontrolle der politischen Macht, unabhängige Gerichte. Essenziell ist unserem Demokratieverständnis nach die volle Chancengleichheit für die Opposition, in freien, unbeeinflussten Wahlen politische Macht zu erringen. Dazu gehört auch das Risiko, diese Macht in Wahlen auch wieder zu verlieren. Leider gibt es auch in Europa Demokratiefeinde, die eben diese Prinzipien eines liberalen Rechtsstaats ablehnen oder sie sogar missachten! Die etwa unter dem Siegel einer illiberalen Demokratie behaupten, das wahre Volk zu vertreten und alleinige Inhaber der Wahrheit zu sein. Wir alle wissen, es gibt beides nicht: das Volk und die alleinige Wahrheit.
Aber die Erfahrung lehrt uns: Autoritäre Politik beseitigt als einen der ersten Schritte alle Formen rechtlicher Bindungen. Sie versucht, die Unabhängigkeit der Justiz zu beschränken, verkürzt Presse- und Meinungsfreiheit und versucht, Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Und sie bedient sich dazu auch Falschnachrichten, gezielter Desinformation oder der Beeinflussung von Wahlen – was heute mit den Mitteln moderner Technologien des Internets, der sozialen Netzwerke von Fall zu Fall auch gelingt. Wer sich dieser Mittel bedient, um an die Macht zu kommen, wird auch wenig Skrupel haben, alle demokratischen rechtsstaatlichen Sicherungen und Vorkehrungen zu beinträchtigen oder gar zu beseitigen. Es ist auch Aufgabe der Gerichte, solchen Tendenzen entgegenzuwirken. Hierzu sollten auch Sie, die Gerichte, die zur Überprüfung und Kontrolle staatlichen Handelns berufen sind, beitragen.
Zum Ende möchte ich noch zu einem anderen Thema in die Zukunft schauen und eine weitere Herausforderung ansprechen, die auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit beschäftigt. Es geht um die tiefgreifenden Veränderungen, die mit der Digitalisierung einhergehen und die auch die Rechtspflege und Rechtsprechung in der Zukunft beeinflussen werden.
Vor 30 Jahren, als ich an der Uni gearbeitet habe, waren diese Entwicklungen unvorhersehbar: Ein deutscher Pionier der Rechtsinformatik – Fritjof Haft – hielt es damals für ausgeschlossen, dass der Richter durch einen Subsumtionsautomaten ersetzt werden könne. Fritjof Haft, eigentlich Strafrechtler, hat das immer verdeutlicht an einem Straftatbestand, den wir unerlaubtes Entfernen vom Unfallort nennen. In Deutschland enthält dieser Straftatbestand besonders viele unbestimmte Rechtsbegriffe, für die es eine fast unüberschaubare Einzelfallrechtsprechung gibt. Es war damals unvorstellbar, dass man die Vielgestaltigkeit der Fälle mit einem Computer erfassen könne. Inzwischen ermöglicht es die Explosion der Speicherkapazität und der Rechnerleistungen, unzählige Entscheidungen zu verarbeiten. Wir stehen deshalb heute am Anfang einer Entwicklung, in der selbstlernende Algorithmen und künstliche Intelligenz die Subsumtion des Sachverhalts unter einen Tatbestand ohne den menschlichen Rechtsanwender vornehmen könnten. Dort, wo vergleichsweise einfache Rechtsnormen anzuwenden sind – im Steuerrecht durch die Finanzverwaltung etwa –, prüfen schon heute Computeranwendungen die Steuererklärungen. Schon heute wird der Finanzbeamte nur noch im Ausnahmefall tätig.
Es braucht nicht viel juristische Fantasie, um sich solches auch in anderen Bereichen der Rechtsanwendung vorstellen zu können.
Auch wenn der Weg in eine solche Zukunft weit zu sein scheint – autonom fahrende Autos waren vor nicht allzu langer Zeit auch eine Utopie –, sollten wir uns die Frage stellen und diskutieren: Wollen wir eine solche technische und kalte Rechtsanwendung, wollen wir entmenschlichte Gerichte? Gefühllose Gleichheit vor dem Recht? Viel besser als ich wissen Sie alle: Es ist ein enormer Unterschied, ob man einen Fall nach bloßer Aktenlage beurteilt, nach dem, was aufgeschrieben steht, oder nach der Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Es ist eben etwas anderes, wenn die Beteiligten vor einem stehen, und alle Richterinnen und Richter haben in ihrem Berufsleben sicher die Erfahrung gemacht, dass man einen Fall anders beurteilt, wenn man den Menschen kennt und mit ihm spricht. Ich bin der festen Überzeugung: Wir sollten diese menschliche Komponente in unserer Gerichtsbarkeit auf keinen Fall preisgeben.
Es ist spannend, was Sie in Ihren Kolloquien behandeln, und ich bin überzeugt, dass wir alle davon profitieren. Herzlichen Dank für Ihr Engagement und Ihre fortwährende Arbeit an der Weiterbildung des Rechts, an der Erarbeitung eines europäischen ius commune. Ich bin gespannt auf das, was Sie mir, lieber Herr Rennert, nun berichten werden. Und ich freue mich auf viele Gespräche, die wir im Anschluss während des Empfangs führen können.
Herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind!