Teilnahme an der traditionellen Matthiae-Mahlzeit

Schwerpunktthema: Rede

Hamburg, , 22. Februar 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 22. Februar bei der traditionellen Matthiae-Mahlzeit in Hamburg eine Ansprache gehalten: "Wer in diesen prächtigen Saal schaut, oder auf die Traditionen dieses Festmahls, der findet in den Anfängen und Traditionen von Freiheit und Emanzipation immer auch einen Grund für Zuversicht, für Selbstbewusstsein, für einen – im besten Sinne – demokratischen Patriotismus. Das wünsche ich mir nicht nur für das stolze Hamburg, sondern für unser ganzes Land!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der gemeinsamen Teilnahme am Matthiae-Mahl mit dem Präsidenten der Republik Lettland im Festsaal des Hamburger Rathauses

Wie schön, heute Abend hier zu sein, als Gast des Hamburg regierenden Götterkreises!

Bevor Missverständnisse aufkommen: Das sind nicht meine Worte. Sondern so schmeichelte der Komponist Reinhard Keiser dem Senat anno 1711 in einer eigens für das Matthiae-Mahl geschriebenen Tafelmusik. Selbstverständlich meinte er das in höflicher und keineswegs höfischer Courtoisie und nur mit leichter Übertreibung. Sie ahnen es: Keiser war kein gebürtiger Hamburger und daher nicht mit dem nordischen Understatement vertraut.

Genutzt hat ihm die Übertreibung nichts. Wir hören heute Abend nicht Keisers Komposition, sondern – wie die Tradition will – Telemann, Mozart, Händel, Bach und Mendelssohn-Bartholdy. Herzlichen Dank an das Kammerorchester der Hochschule für Musik und Theater für die wunderbare Begleitung!

Ganz ohne Übertreibung darf ich sagen: was für ein schöner Blick von diesem Ehrentisch! Und damit meine ich nicht den Holbein-Pokal, sondern Sie, die Gäste dieses Mahls von nah und fern. In guter Tradition essen heute die Bürgerinnen und Bürger Hamburgs, so heißt es auf historischen Einladungen, mit den Vertretern der Hamburg freundlich gesonnenen Mächte. Lieber Präsident Vējonis, dass Sie in alter hanseatischer Verbundenheit unter den freundlich gesonnenen Mächten nicht fehlen dürfen, versteht sich von selbst. Dass ich hingegen, als Ostwestfale mit Wohnsitz in Berlin, offenbar auch dazugehöre, ist nicht ganz so selbstverständlich, deshalb freut mich das besonders! Herzlichen Dank für die Einladung!

Vor fünf Jahren durfte ich als Außenminister hier sprechen. Damals kam ich gerade rechtzeitig von den Marathonverhandlungen auf dem Maidan in Kiew zurück, mit nicht viel mehr Zeit als für eine schnelle Rasur am Flughafen.

Ich bin also mit den Traditionen des heutigen Abends vertraut. Mein Protokoll hat mich dennoch daran erinnert, dass der Erste Bürgermeister nicht wie üblich am Eingang, sondern oben auf der Senatstreppe auf seine Gäste wartet. Das sei aber kein diplomatischer Affront. Sondern auf diese Weise würden Sie, lieber Bürgermeister Tschentscher, nicht in Verlegenheit geraten, Ihren Gästen aus dem Steigbügel helfen zu müssen. Ich weiß, das Amt des Bundespräsidenten mag einigen etwas altmodisch erscheinen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht vorhatte, mit dem Pferd anzureiten.

Ja, diese und andere alte Traditionen machen den besonderen Reiz, den besonderen Glanz dieses Mahles aus. Aber eine Tradition hat zum Glück in Hamburg, anders als andernorts, seit langem ausgedient. Meine Damen, wie schön, dass Sie mit uns an dieser Tafel sitzen!

Das Matthiae-Mahl zeugt vom großen hamburgischen Traditions- und vor allem Selbstbewusstsein. Zu beidem haben Sie guten Grund. Ihr bürgerschaftlicher Stolz, den wir heute feiern, kristallisiert sich in der Maxime: Es gibt über dir keinen Herren und unter dir keinen Knecht; niedergeschrieben – so wird kolportiert – im Stadtrecht von 1270.

Was für ein kraftvoller Satz! Und was ist das, wenn nicht der selbstbewusst formulierte Anspruch auf bürgerliche Selbstbestimmung und Souveränität.

Diese frühe demokratische Saat keimte hier auf: in der Freien und Hansestadt Hamburg!

Und dieses Selbstverständnis manifestiert sich sogar in der Architektur dieses Rathauses. Was andere zur Ehre ihrer Monarchen bauten, schufen Ihre Vorfahren für ihre gewählten Vertreter. Trotz seines Turms und seiner Giebel ist das hier kein Königsschloss, sondern das Haus freier Bürgerinnen und Bürger. Oder, lieber Bürgermeister Tschentscher, wie man in Lettland zu sagen pflegt: Nicht jeder, der im Schloss wohnt, ist ein König. Ich weiß in Bellevue, wovon ich rede.

Oft war Hamburg in seiner Geschichte der demokratischen Entwicklung um eine Nasenlänge voraus. Mit den Schiffen der Hanse verbreiteten sich freiheitliche Ansätze im ganzen Ostseeraum. Und das nicht nur in eine Richtung. Die Hansestädte bereicherten sich gegenseitig: materiell wie ideell. Wo Waren ausgetauscht wurden; Bernstein, Felle, Honig – die Schätze des Baltikums – gegen die Güter der norddeutschen Städte, da entstanden auch tiefe politische Bande. Diese engen Verbindungen sind bis heute sichtbar. Auf der Fassade des prächtigen Schwarzhäupterhauses auf dem Rathausplatz in Riga prangen neben dem örtlichen Stadtwappen auch die von Bremen, Lübeck und Hamburg.

1859 wurde die Hamburgische Bürgerschaft erstmals in Wahlen bestimmt. Natürlich war sie damals noch kein demokratisches Parlament im heutigen Sinn. Wahlberechtigt waren nur Männer ab 25 Jahren mit Hamburger Bürgerrecht. Wer wählen wollte, musste außerdem mindestens 100 Mark im Monat verdienen – für damalige Verhältnisse viel Geld. Doch das war kein Hindernis für den hanseatischen Pragmatismus. Viele Kleinhandwerker und Meister erkämpften ihr Wahlrecht mit einem einfachen Kniff: Sie haben bei ihrer Einkommenserklärung einfach etwas übertrieben. Dabei nahmen sie in Kauf, das muss man sich einmal vorstellen, sogar höhere Steuern zu zahlen. Also das Gegenteil von Steuerhinterziehung! Den Menschen war ihr Stimmrecht damals wirklich etwas wert!

Wahr ist aber auch: über viele Jahrzehnte war das Wahlrecht, auch hier in Hamburg, ein Privileg von wenigen. Im Jahr 1880 etwa genoss nur jeder zehnte Einwohner die Hamburger Bürgerrechte. Hafen- oder Fabrikarbeiter gehörten nicht dazu. Auch Frauen blieben ihre demokratischen Rechte noch viel zu lange verwehrt.

Das änderte sich vor genau einhundert Jahren. Freie und gleiche Wahlen, endlich auch für Frauen, Wahlen zu einem Parlament, das wirkliche Macht hat, eine Verfassung, die das Volk zum Souverän macht – all das waren die Errungenschaften des Weimarer Aufbruchs, der ersten deutschen Republik, an die wir in diesem Jahr erinnern.

Hier in Hamburg trat am 24. März 1919, nach Jahrzehnten des Ringens, Helene Lange als Alterspräsidentin der Bürgerschaft ans Rednerpult. Ihre Worte hallen bis heute nach: Wer ein Leben lang für Ziele gekämpft hat, die bis zu allerletzt in unerreichbarer Zukunft zu liegen schienen, der bringt aus diesen Kämpfen viel Zuversicht mit zu dem, was man noch nicht sieht.

Aus den Kämpfen der Vergangenheit Zuversicht finden für das, was man noch nicht sieht – ich finde das ist eine wunderbare Formulierung. Und genau deshalb liegt mir ein größeres öffentliches Bewusstsein für unsere Demokratie- und Freiheitsgeschichte so sehr am Herzen. Gerade in dieser Zeit voller Umbrüche und Ungewissheiten. Wer in diesen prächtigen Saal schaut, oder auf die Traditionen dieses Festmahls, der findet in den Anfängen und Traditionen von Freiheit und Emanzipation immer auch einen Grund für Zuversicht, für Selbstbewusstsein, für einen -im besten Sinne- demokratischen Patriotismus. Das wünsche ich mir nicht nur für das stolze Hamburg, sondern für unser ganzes Land!

Die Freiheit, die die Alten erwarben, möge die Nachwelt würdig zu erhalten sich bemühen.

So steht es, in lateinischer Sprache, über dem Portal dieses Rathauses geschrieben. Ich finde, das ist fast etwas zaghaft formuliert. Unsere liberale Ordnung ist heute nicht mehr unangefochten. Eine neue Faszination des Autoritären macht sich auch in Europa breit und sie ist auch bei uns sichtbar geworden. Die Sirenenrufe des Nationalismus werden lauter. Viel steht auf dem Spiel – gerade in diesem Jahr, mit Wahlen in vier Bundesländern und Wahlen zum Europäischen Parlament. Wir müssen also, als Demokratinnen und Demokraten, selbstbewusster, vielleicht auch streitlustiger sein, als es über dem Rathausportal geschrieben steht. Nein, wir müssen uns nicht nur würdig bemühen, Freiheit und Demokratie zu erhalten – wir müssen wieder lernen, für sie streiten, für sie zu kämpfen!

Die Europawahlen im Mai sind ein wichtiger Moment, um das europäische Versprechen von Frieden, Freiheit und Wohlstand zu erneuern. Der Streit über den richtigen Weg gehört zur demokratischen Auseinandersetzung. Wo brauchen wir mehr Europa, wo brauchen wir ein besseres Europa? Ich vermute, auch hier im Saal gibt es dazu unterschiedliche Ansichten.

Aber wie geschichtsvergessen ist es, wenn manche das europäische Einigungswerk grundsätzlich in Frage stellen? Erneuern wir also auch dieses Versprechen: Zusammen schaffen wir mehr. Wir sind Partner, keine Gegner. Am 50. Jahrestag der Römischen Veträge haben wir gesagt: Wir sind in Europa zu unserem Glück vereint! Dass dies angesichts der Geschichte Europa ein Glück ist, dürfen wir nie vergessen. Der Weg hinaus aus Europa, zurück zu alten nationalistischen Reflexen, kann nicht und darf nicht die Lösung sein!

Lassen wir die Hamburgische Maxime vom Beginn nochmals in uns nachklingen: Keinen Herren über dir und keinen Knecht unter dir. Darin spiegelt sich auch das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber fremden Mächten.

Zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs war der dänische König für die Sicherheit Hamburgs verantwortlich. Christian IV. ließ jedoch mitteilen – und ich distanziere mich bereits jetzt ausdrücklich von der königlichen Wortwahl – dass, Zitat, die Hamburger, diese so hochmütigen Krämer und Pfeffersäcke, schmierigen Heringshändler und Bärenhäuter nicht mit seinem Schutz rechnen könnten.

Das war deutlich! Also fasste der Rat den Entschluss, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Hamburg wurde zur stärksten Festung im Deutschen Reich ausgebaut.

Festungen gibt es aber ganz unterschiedlicher Art. Ich möchte heute Abend an eine andere, eine ganz besondere Festungslinie erinnern, lieber Präsident Vējonis. Eine Festungslinie für die Freiheit: Hunderttausende Frauen und Männer aus Lettland, Litauen und Estland bildeten vor 30 Jahren, am 23. August 1989, eine Menschenkette von Vilnius über Riga bis nach Tallinn, 600 Kilometer lang. Wachet auf, ihr baltischen Länder, erschallte es hundertausendfach. Diese Singende Revolution war Ausdruck der unbezwingbaren Freiheitsliebe und des nicht zu unterdrückenden Widerstands gegen Fremdbestimmung und Unterjochung – auf den Tag 50 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt. Diese Freiheitsliebe hat gesiegt, sie hat die Ketten der Fremdbestimmung gesprengt! Auch Sie in Lettland haben allen Grund, mit Stolz auf ihre Freiheitsgeschichte zu blicken, und mit Zuversicht in die Zukunft!

Denn heute sind die baltischen Staaten standfeste und überzeugte Mitglieder der Europäischen Union und der NATO. Sie gehören zu unserer Sicherheits- und Solidargemeinschaft. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim haben die NATO-Partner militärische Mittel zum Schutz der baltischen Staaten ergriffen – die Bundeswehr beteiligt sich am sogenannten Air-Policing über der Ostsee und führt einen NATO-Verband in Rukla in Litauen. Lieber Präsident Vējonis: Lettlands Schutz vor Fremdbestimmung und seine territoriale Integrität sind unsere Verpflichtung. Auch an dieses Versprechen wollen wir heute erinnern!

Lieber Präsident Vējonis, dass der Hamburger Senat Sie heute in diesem festlichen Rahmen empfängt, ist ein Zeichen der tiefen Wertschätzung und Freundschaft zwischen unseren Nationen.

Aber bei allem Glanz und aller Pracht gilt immer noch ein sehr simples, aber sehr wahres Sprichwort aus Ihrer Heimat Lettland: Schönheit allein füllt den Magen nicht.

Deshalb lege ich jetzt den Rest meiner auf zwei Stunden angelegten Grundsatzrede zur Seite und stelle mich dem Fortgang des Matthiae-Mahls nicht weiter in den Weg.

Lieber Präsident Vējonis, wie schön dass Sie und Ihre Frau Deutschland besuchen. Wir freuen uns über Ihren Besuch und diesen schönen Abend!

Herzlichen Dank!