Ich finde, dieser Abend hat wunderschön begonnen, aber bevor wir uns der Musik weiter widmen, will ich Sie gerne mit einer Frage überraschen, die Sie vielleicht etwas irritieren wird: Passt das eigentlich in unsere Zeit, was wir hier tun? Villa Hammerschmidt, Empfang, getragene Atmosphäre, klassische Musik. Passt das eigentlich zu einer modernen, offenen Gesellschaft? Und wenn man so manche Feuilletonseite in den letzten Jahren gelesen hat, dann verstehe ich, dass viele Freunde der klassischen Musik sich schon einer geradezu anachronistischen Minderheit angehörig fühlen, die immer kleiner zu werden scheint. Und dazu kommt, dass der Besuch klassischer Konzerte immer mal wieder als elitäre Angelegenheit dargestellt wird, sozusagen als Distinktionsmerkmal für Besserverdienende.
Aber wie das so ist mit Vorurteilen und ungeprüften Zuschreibungen: Es ist und bleibt ein Irrtum. Beiden Wahrnehmungen, ich habe das gelesen, widersprach vehement, nicht vor langer Zeit, ein Bericht in einer Zeitung, hinter der angeblich immer ein kluger Kopf stecken soll. Und da hat sich jemand ans Werk gesetzt, um Zahlen und Fakten genau anzuschauen und auch zu überprüfen, und die sogenannte "Klassikkrise" – zu Recht, glaube ich – als empirieresistentes Gerede
beschrieben hat.
Da wird beispielsweise in diesem Artikel die Intendantin des Würzburger Mozartfests mit ihrer Aussage zitiert, sie könne eigentlich jeden Abend, jeden Platz dreimal verkaufen. Und so wird das beim Bachfest in Leipzig sein, beim Rheingau Musik Festival, in Bayreuth sowieso und vielen vielen anderen hochklassigen Konzertveranstaltungen über das ganze Jahr und insbesondere in den Sommern dieser Jahre. Beispiele für erheblich steigende Abonnementzahlen liefern aber nicht nur Festivals; auch feste Ensembles werden genannt. Und eben nicht nur in Berlin, wo man das vielleicht vermutet, sondern auch in der sogenannten Provinz, die in Deutschland ja gerade kulturell, wie wir alle wissen, da wir alle aus der Provinz kommen, eben keine ist. Ob sie etwa die Bamberger Symphoniker nehmen oder das Theater Osnabrück. Der Föderalismus beschert uns jedenfalls eine reiche, niveauvolle, vielfältige Kulturlandschaft, wie wir das außerhalb unserer Grenzen nur selten sehen.
Und ich bin mir – mit den Verantwortlichen – sehr sicher: Hier in Bonn wird das große Beethovenfest 2020, mit dem profilierten Programm, das Nike Wagner dafür vorbereitet, ganz ähnliche Erfolgsnachrichten bringen.
Was übrigens die – wie wir im Karl-Marx-Jahr ruhig einmal sagen können – Klassenfrage angeht, so zeigen nach Einkommensklassen aufgestellte Statistiken: Das Interesse an Festivals mit klassischer Musik ist einkommensunabhängig. Bei Nettoeinkommen unter 1500 Euro im Monat liege es sogar leicht höher als bei allen, die über 3000 Euro im Monat verfügen. Ich fand das alles überraschend, auch erfreulich.
Aber ich sage das natürlich nicht, damit wir uns anschließend bequem und zufrieden zurücklehnen. Sondern ich sage das, weil wir nach meiner Auffassung nie genug für musikalische Bildung tun können, auch nie genug für Nachwuchshörer, die wir zu begeistern versuchen. Denn eines zeigen die Statistiken, die in diesem Artikel wiedergegeben sind, eben auch: die Verbindung von höherer Bildung und Schulabschlüssen und dem ausgeprägten Interesse für klassische Musik – diese Verbindung bleibt signifikant bestehen.
Sie werden kaum erwartet haben, vor einem Konzert oder jetzt schon mitten in einem Konzert mit dieser Art von Zahlen konfrontiert zu werden, aber weil ich das als eine so positive Überraschung empfunden habe, wollte ich sie Ihnen auch nicht vorenthalten.
Aber damit hören die Überraschungen heute noch nicht auf. Wenn Sie nämlich auf das Programm des heutigen Abends schauen, der ja sozusagen zum Vorabend des Beethovenfestes veranstaltet wird, so werden Sie eines vergeblich suchen: Ein Beethovenstück nämlich. Das, was wir heute versuchen, ist vielmehr so etwas wie eine Annäherung an Beethoven – und so hören wir Lieder von Komponisten, die in der Nachfolge Beethovens komponiert haben; die in der einen oder anderen Weise von Beethoven beeinflusst sind, die sich an Beethoven orientieren, manche auch messen und auch einige, die sehr bewusst über Beethoven hinausgehen wollten.
Beispielhaft zeigt die Beethovenverehrung jener Zeit der Text von Richard Wagner, den wir gleich hören werden. Er erzählt von einer natürlich fiktiven Pilgerfahrt nach Wien zu Beethoven – übertrieben, auch ironisch, mit hintersinniger Lust am Fantasieren – aber eben doch im Kern von der tiefen Verehrung geprägt, die die Nachwelt dem Giganten Beethoven schon damals überreich entgegenbrachte.
Ich will nicht vorweg alles haarklein entschlüsseln, was wir uns mit diesem Programm gedacht haben, das nähme Ihnen wahrscheinlich auch den Spaß am Zuhören und Entdecken.
Aber auffallen dürfte, das haben Sie schon im ersten Teil gespürt, dass hier die fruchtbare Spannung zwischen Deutschem und Französischem eine Rolle spielt. Natürlich liegt auch eine Spannung in der Luft, wenn Heine und Wagner zusammenkommen – und wenn wir uns vergegenwärtigen, welche weiten Wege beide noch gegangen sind.
Musik ist eben keineswegs immer nur die allesversöhnende universale Sprache der Weltverständigung. Man muss genau hinhören, man muss versuchen, jedes Idiom genau mit zu vollziehen. Und dann hört man eben auch, wie Musik gleichsam in unterschiedlichen Sprachen spricht. Es kann allerdings auch gelingen, eine, wenn Sie so wollen, versöhnte Verschiedenheit hörbar zu machen. Dann nämlich, wenn man Unterschiede nicht einfach stehen lässt, sondern sie aufeinander bezieht. Das wenigstens ist die Idee dieses Abends – und diese Idee könnte auch unserem Zusammenleben außerhalb dieser vier Wände und über diesen Abend hinaus gut tun.
Es wird, das kann ich versprechen, ein sehr abwechslungsreicher Abend werden – und das ist auf jeden Fall vollkommen im Sinne Beethovens. Denn dieser unübertroffene Großmeister der Variation, der wusste eines: Gelungene Abwechslung ist einer der Namen für gute Musik. Und immer wieder die Möglichkeit zur Abwechslung zu haben: Das ist auch ein anderer Name für Freiheit. Und weniges war Beethoven teurer als sie, die Freiheit.
Wir konnten großartige Interpreten für diesen Abend gewinnen. Ihnen sage ich ganz herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, dieses Konzert zu gestalten. Es singen an diesem heutigen Abend: Fatma Said und Roman Trekel. Am Klavier begleitet sie Daniel Heide. Und Wagners Fantasie von der Pilgerfahrt zu Beethoven liest Markus Meyer, Burgschauspieler.
Ihnen allen weiterhin viel Vergnügen.