Alexander Kluge verdanken wir eine kurze autobiographische Skizze, die von der Trauerfeier für Fritz Bauer berichtet. Sie beschreibt einen Julitag vor 50 Jahren. Es regnete. Ein kleiner Kreis von Weggefährten war zusammengekommen, Familie, Freunde und die kleine Regierungsschicht des Landes, die nach 1945 angetreten ist, einen antifaschistischen Kurs durchzuhalten
. Ansprachen hatte sich der Verstorbene testamentarisch verbeten.
Dieser wortlose Abschied nach dem unerwarteten und viel zu frühen Tod Fritz Bauers war wohl noch schwerer zu ertragen, als Trauerfeiern es ohnehin sind. Auch drei von Theodor W. Adorno bestellte und komplett vorgetragene späte Streichquartette von Beethoven änderten daran nichts. Angeblich ist diese Musik tröstend
, notiert Kluge. Um gleich darauf zu bemerken: Sie ist es nicht.
Die Freunde waren untröstlich, nicht nur über den Verlust, nein, auch darüber, dass der verstorbene Freund in seinem Leben selbst so wenig Trost erfahren hatte, dass er in diesem Land, um das er sich bemüht und verdient gemacht hatte, kaum Beistand bekommen und wenig Anerkennung erlebt hatte.
Fritz Bauer, um den an diesem Julitag vor 50 Jahren getrauert wurde und an den wir heute erinnern wollen, war zu seinen Lebzeiten ein von seinen Gegnern gefürchteter Mann. Den Respekt, den er verdient gehabt hätte, haben ihm seine Zeitgenossen dennoch versagt. In der Rückschau von heute allerdings ist er eine der Schlüsselfiguren in der jungen Demokratie, die Deutschland den Rückweg in die Gemeinschaft der Völker der Welt geebnet hat. Damals gab es nur einen kleinen Kreis enger und engster Freunde: Ernst Schütte, Kultusminister in Hessen, wie Bauer Sozialdemokrat, ein Arbeiterkind, das sich in Abendkursen bis zum Abitur und später zur Promotion hocharbeitete, Thomas Harlan, der Sohn des Regisseurs Veit Harlan, oder Ilse Staff, die sich 1969 als erste Frau in Deutschland in Staatsrecht habilitierte. Ein wichtiger Begleiter, vielleicht der wichtigste, war Georg-August Zinn, Hessens Ministerpräsident von 1950 bis 1969, der Fritz Bauer nicht nur auf den Posten des Generalstaatsanwalts berief, sondern ihm auch, wo es ging, den Rücken freihielt.
Dennoch – nach allem, was wir wissen – war Fritz Bauer ein einsamer Mann, ein Außenseiter, ein verletzlicher und verletzter Mensch. Die um ihn trauerten, wussten es. Sie wussten auch: Die Verletzungen hatten ihm nicht nur seine Feinde zugefügt.
Es war das Land, in dem er lebte, das ihm mit Argwohn begegnete. Und es war der Staat, für den er arbeitete, der ihm misstraute. Ein Land, in das er aus dem Exil zurückgekehrt war, um an einem politischen Neubeginn mitzuwirken. Und ein Staat, zu dessen Rechtspflege und politischer Kultur Bauer in den 1950er und 1960er Jahren wohl so viel beigetragen hatte wie kaum ein anderer.
Die Auschwitz-Prozesse, die es ohne Bauer nicht gegeben hätte, waren eine Wegmarke in der Geschichte der Bundesrepublik. Doch es waren nicht die Prozesse allein, es war Bauers Beispiel, sein Widerstand gegen ein Fortwirken des Personals und der Ideologie des NS-Regimes, das maßgeblich dazu beitrug, dass aus dieser Republik der demokratische Rechtsstaat wurde, der er heute ist.
Zu Lebzeiten blieb ihm die Anerkennung dafür verwehrt. Auch im Bundespräsidialamt kam bis zu seinem Tod niemand auf den Gedanken, dass es das Bundesverdienstkreuz für Menschen wie Fritz Bauer gibt. Der Stiftungserlass Theodor Heuss’ sieht vor, dass es verliehen wird für politische, soziale, wirtschaftliche oder geistige Arbeit, die dem Wiederaufbau des Vaterlandes dient. Eben das hatte Bauer gewollt und getan. Doch was Bauer tat, galt zu seiner Zeit durchaus nicht jedem als Dienst am Vaterland und noch zu vielen als Verrat am selben.
Fritz Bauer war nach Deutschland zurückgekehrt, weil er diesen neuen Staat, die Bundesrepublik Deutschland, als seinen Staat verstand, weil er die Demokratie – mit Thomas Mann – als diejenige Staats- und Gesellschaftsform verstand, welche vor jeder anderen inspiriert ist von dem Gefühl und dem Bewusstsein der Würde des Menschen. In diesem Staat wollte er ein Jurist sein, der dem Gesetz und Recht, der Menschlichkeit und dem Frieden nicht nur Lippenbekenntnisse leistet
. Doch diesen Staat gab es noch nicht. Das Grundgesetz galt, damit war die Bundesrepublik eine Demokratie, aber noch keine Republik von Demokraten. Fritz Bauer wollte, dass sie es wird. Er wollte mitwirken an der Demokratisierung Deutschlands.
Er wusste, dass es dafür galt, dieses Grundgesetz wirksam werden zu lassen, im Alltag der Deutschen wie in der Rechtsprechung. Und er wusste, dass die Demokratie, gerade einmal drei Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur, erlernt werden muss, wenn sie nicht wieder scheitern soll. Zu den Lektionen Freiheit, Demokratie und Verfassungslehre gehörte für Bauer schließlich auch, Rechenschaft abzulegen über die jüngste Vergangenheit und den Anteil eines jeden Einzelnen daran.
Die juristische Aufarbeitung des NS-Unrechts, die Bauer verlangte, war kein Versuch, die Vergangenheit mit den Mitteln des Strafrechts zu entsorgen. Es ging ihm darum, die Deutschen zu immunisieren, sie vor einem erneuten Rückfall in die Barbarei zu schützen. Er glaubte an eine gesellschaftliche Erneuerung, aber mehr noch an die Kraft der Vernunft, daran, dass der freie Mensch sich seines Verstandes bedienen kann und wird. Bauers kindhafter Glaube an eine bessere Zukunft
, wie es Johannes E. Strelitz vor 50 Jahren formuliert hat, war Ausdruck seines universellen Humanismus, der ihm Orientierung im Denken und im Handeln war.
Für den Aufklärer Fritz Bauer stand am Anfang der Erkenntnis die Selbsterkenntnis, die Einsicht, dass mit dem Untergang des Tausendjährigen Reichs, des Führers und seiner Erfüllungsgehilfen die Vergangenheit nicht erledigt war. Der Nazismus, davon war Bauer überzeugt, war eine Bewegung im deutschen Volk. Es gab den Führer, weil es ein Volk gab, das sich führen lassen wollte.
Deshalb ging es Fritz Bauer darum, das System des nationalsozialistischen Unrechtsstaates erkennbar zu machen. Was er vorhatte, war, den Geschäftsverteilungsplan des NS-Staates auf ein Röntgengerät zu legen und die Befehlsketten bis in die letzten Verästelungen sichtbar zu machen. Jeder ehemalige Beamte des NS-Staates hätte sich in diesem Organigramm wiederfinden können. Jeder hätte erkennen müssen, dass Schuld nicht durch Arbeitsteilung unkenntlich zu machen ist. Und schließlich hätte jeder, der in diesem NS-Staat ein Amt bekleidet hatte, erkennen müssen, dass er beteiligt war an einem beispiellosen Menschheitsverbrechen.
Die psychologische Wirkung, die sich Bauer von dieser Erkenntnis erhoffte, war eine kathartische. Ich weiß nicht, ob er auf eine Läuterung der Täter hoffte. Worauf er aber sicher setzte, war der Erkenntnisgewinn für die junge, die unbelastete Generation. Sie sollte erkennen können, wohin unbedingter Gehorsam und blinde Pflichterfüllung führt, und aus dieser Erkenntnis den Schluss ziehen, dass es Situationen gibt, in denen Ungehorsam zur Pflicht wird. Diese Einsicht in die Notwendigkeit eigenverantwortlichen Denkens und Entscheidens schien ihm der einzige Weg zu sein, einer Wiederholung vorzubeugen.
Wer schließlich die Schwere der NS-Verbrechen erkennt, wird sich auch eingestehen müssen, dass Gerechtigkeit mit den Mitteln des Strafrechts kaum wiederherzustellen ist. Den Opfern Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, hieß für Bauer, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür Sorge zu tragen, dass sich dergleichen nicht wiederholt.
Fritz Bauer war kein Nazijäger und kein Rachegott, er war ein Aufklärer und ein Verfassungspatriot avant la lettre. In der Aufklärung lag für Bauer der Sinn der Auschwitz-Prozesse, in der unumgänglichen Erkenntnis, dass Anpassung an einen Unrechtsstaat Unrecht ist. Wenn der Staat kriminell ist, weil er die Menschen- und Freiheitsrechte, die Gewissensfreiheit, das Recht auf eigenen Glauben, auf eigene Nation und Rasse, das Recht auf eigenes Leben systematisch verletzt, ist Mitmachen kriminell.
Und deshalb die Straflosigkeit der Täter eine Verhöhnung der Opfer.
Bauer hat Diskussionen und Kontroversen ausgelöst. Er war ein streitbarer Geist und leidenschaftlicher Demokrat. In all diesen Auseinandersetzungen aber ging es ihm nicht um Rechthaberei, sondern immer auch um die Freiheit des Denkens und der Debatte. Er kannte keine Scheu, sich auch mit dem politischen Gegner an einen Tisch zu setzen, und hatte keine Angst vor dem notwendigen Streit.
Er war bei all dem ein Realist. Ich glaube nicht, dass er sich der Illusion hingegeben hat, der Kampf um und für die Demokratie könne zu einem Abschluss geführt werden. Er wusste, dass der Weg beschwerlich sein und es auch bleiben würde. Doch wenn wir zurückschauen auf die Wegstrecke, die hinter uns liegt, dann können wir sagen, dass wir dem demokratischen Rechtsstaat, wie Bauer ihn wollte, sehr nahe gekommen sind – auch mit einer Justiz, die der Demokratie verpflichtet und deren Unabhängigkeit gewährleistet ist. Wäre er unter uns, würde er den Streit darum aufnehmen. Er würde diesen Staat, an dem er zu seiner Zeit gelegentlich verzweifelte, heute verteidigen, dessen bin ich mir sicher. Er tut es, wenn ich es recht bedenke, durch sein Vorbild noch immer.
Ein letztes Mal zurück zu diesem Julitag vor 50 Jahren: Nach Ende der Gedenkfeierlichkeit begab sich der kleine Kreis derer, die um ihn trauerten, in den Frankfurter Hof. Die Anwesenden
, heißt es bei Alexander Kluge zum Ende der Erzählung, wollten sich von dem Toten nicht trennen. Solange sie hier zusammensaßen, war noch etwas von ihm zu fassen. Wenn sie sich trennten, war der gütige Mann endgültig fort. Niemand aus dem Nachwuchs des Landes ersetzte ihn.
Wir haben ihn nicht ersetzen können, wer könnte das? Aber wir sollten zusammenbleiben und versuchen, von ihm zu fassen, was wir können.
Denn wir brauchen ihn wieder, den streitbaren Geist, der sich gegen das Wiederaufkeimen von Nationalismus und Menschenverachtung wendet. Bauer wusste: Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und nicht auf Ewigkeit garantiert. Eine neue Faszination des Autoritären, die Wiederbelebung alter Ressentiments, des Irrationalen, die Sprache der Wut, die Verächtlichmachung der politischen Institutionen; all das, was wir in diesen Tagen wieder neu erleben, all das hätte Fritz Bauer zutiefst besorgt. Demokratie verlangt Wachheit. Sie erlaubt keinen Rückzug. Sie will Einmischung, um ihretwillen, nicht um der Empörung willen. Diese Haltung hätte Fritz Bauer sich von uns gewünscht – nein, er hätte sie erwartet!