"Deutschland und Estland – wechselvolle Geschichte, gemeinsame Zukunft"
I. Ein europäischer Gedenktag
Heute ist der 23. August – und ich bin froh, dass ich diesen Tag bei Ihnen und mit Ihnen verbringen darf. Es erfüllt mich mit Freude und mit Dankbarkeit, dass Sie Esten uns Deutsche an diesem Tag als Freunde empfangen.
Heute ist der 23. August – und an diesem Tag wiegt das Gewicht der Geschichte besonders schwer.
Dieser Tag mahnt uns, die wir Freunde sind, dass die Freundschaft zwischen Staaten und Völkern niemals selbstverständlich ist. Dass sie oft leidvoll errungen wurde – und sorgsam gepflegt werden will. Nichts verdient unsere Sorgfalt so sehr wie die Freundschaft der Völker innerhalb der Europäischen Union.
Aber dieser Tag verkörpert zugleich die Hoffnung, dass auch Feindschaft zwischen Staaten und Völkern nicht auf ewig festgeschrieben ist. Er verkörpert die Hoffnung, dass die Freiheit sich Bahn brechen und das Recht sich Geltung verschaffen kann.
Die Geschichte kennt keine Eindeutigkeit, und Erinnerung ist ein komplexes Unterfangen.
Das gilt auch für die lange und wechselvolle Geschichte, die Esten und Deutsche miteinander verbindet, und das gilt ganz besonders für den 23. August. Vor 78 Jahren machten Nazi-Deutschland und die Sowjetunion sich Ostmitteleuropa zur Beute und stellten damit – so hat es der Dichter Tomas Venclova ausgedrückt – die politischen Führungen in den baltischen Staaten vor die Wahl zwischen Hitler, Stalin und dem Tod – wobei das eine nicht automatisch das andere ausgeschlossen hat.
Am 23. August begann die dunkelste Zeit in der Geschichte Ihres Landes – doch genau 50 Jahre später begann ihr Ende. Am 23. August 1989 fassten Hunderttausende in Estland, Lettland und Litauen einander bei den Händen und gingen gemeinsamen den Baltischen Weg
, den Weg in Freiheit und nationale Souveränität.
Der 23. August ist ein vielschichtiger Gedenktag. Und vielleicht eignet er sich gerade deshalb als europäischer Gedenktag. Als solchen erleben Sie ihn hier in Estland und als solcher gehört er, finde ich, viel stärker in unser gemeinsames Gedächtnis, auch bei uns in Deutschland.
Ich bin sicher: Je mehr es uns gelingt, uns nicht nur im nationalen Schneckenhaus, sondern gemeinsam der vielschichtigen Erinnerung zu stellen, desto fruchtbarer können die Lehren sein, die wir aus der Geschichte ziehen. Über diese Lehren für unsere gemeinsame Zukunft möchte ich heute mit Ihnen diskutieren.
II. Die Kraft der Freiheit
Die Botschaft, die mir hier in Tallinn zuallererst entgegenschallt, ist die Kraft der Freiheit – eine Kraft, die keine menschenverachtende Ideologie, keine totalitäre Herrschaft auf Dauer in Fesseln legen kann. Für mich ist das stärkste Bild dieses Tages nicht der Handschlag zweier zynischer Außenminister im Dienst von Diktatoren, sondern der hunderttausendfache Handschlag der Mutigen des Jahres 1989. Von hier bis Vilnius reichte ihre Menschenkette, und vor allem war sie eine singende und klingende Menschenkette.
Wachet auf, Ihr baltischen Länder!
, so hieß eines der Freiheitslieder des Tages: Ärgake Baltimaad – Leedumaa, Lätimaa, Eestimaa!
Wie ich gehört habe, wurde dieses schöne Freiheitslied entlang der 600 Kilometer langen Menschenkette in allen drei baltischen Landessprachen gesungen. Also lassen Sie mich hinzufügen: Bunda jau Baltija!
Und in Lettland, im Land der Dainas, hörte man: Atmostas Baltija!
Ich weiß, man spricht von der „Singenden Revolution“. Aber nachdem Sie meine Sprachkenntnisse erlebt haben, sind Sie wahrscheinlich froh, dass ich das alles nicht auch noch singend vorgetragen habe.
Auch wenn ich in meine Muttersprache zurückkehre: Dem unbeugsamen Freiheitsdrang, der in diesen Liedern zum Ausdruck kommt, gilt meine, gilt unsere tiefe Bewunderung. Die Freiheitsliebe der Esten, Letten und Litauer hat damals, noch vor den Montagsdemonstrationen in der DDR, vielen im Ostblock Mut gemacht. Diese baltische Freiheitsliebe belebt Europa bis heute, und wir brauchen sie dringend.
III. Die neu gewonnene Gemeinschaft
Die zweite Lehre dieses Tages ist die europäische Einigung – und welch ungeheures, historisches Glück sie ist, zeigt sich im Gegenschnitt zu jenem Tag vor 78 Jahren.
Der Hitler-Stalin-Pakt war der Auftakt zu Krieg und Besatzung und abscheulichen Verbrechen, die von Deutschen und in deutschem Namen verübt wurden. Ribbentrops und Molotows Vorarbeit gab Nazi-Deutschland freie Hand für die Vorbereitung eines Angriffskrieges, der wenige Tage später mit dem Überfall auf Polen beginnt, den Kontinent mit Zerstörung und Vernichtung überzieht, die Ermordung der europäischen Juden in Gang setzt, und am Ende über 60 Millionen Opfer fordern wird.
Hier in dieser Region besiegelte der Pakt des 23. August nicht nur das Ende der Eigenstaatlichkeit der baltischen Länder, sondern auch das Ende der jahrhundertealten ethnischen Vielfalt in dieser Region – übrigens auch das Ende des Deutschbaltentums, das dieses Land über Generationen mitgeprägt hatte. Mit der sowjetischen Besatzung begannen Massendeportationen und Zwangsumsiedlungen in der gesamten Region.
In Vilnius schreibt 1941 ein junger Dichter polnischer Herkunft: Durch ein Fenster sah ich die sowjetischen Panzer, die in Vilnius einfuhren. […] Ich ging an den Fluss und setzte mich auf eine Bank […]. Der Sand, […] die Flussströmung, der Himmel ließen mich empfinden, dass dies alles nie wieder so würde wie einst.
Er sollte auf schaurige Weise Recht behalten. Dieser junge Dichter – er hieß Czesław Miłosz – geht 1941 in den Untergrund nach Warschau. Schon kurz darauf dringt die Wehrmacht ins Baltikum ein und mit ihr der nationalsozialistische Rassenwahn und die beispiellosen Verbrechen der Shoah. Übermorgen werde ich den Ort Paneriai besuchen, ein unauffälliges Waldstück außerhalb von Vilnius, wo über 100.000 Juden erschossen, die jüdische Bevölkerung in Litauen ausgelöscht wurde, das Jerusalem des Nordens
ein grausames Ende fand.
Die Europäische Union ist der Gegenentwurf zu dieser zivilisatorischen Katastrophe – der Gegenentwurf zu Krieg und entfesseltem Nationalismus. Die Europäische Union ist unsere neu gewonnene Gemeinschaft, und sie konnte nur vollendet werden, weil Sie, die Esten, und Ihre Nachbarn gesagt haben: Ja, wir sind Teil einer dunklen, einer leidvollen europäischen Geschichte. Aber wir wollen auch Teil einer anderen, einer friedlichen, einer demokratischen europäischen Zukunft sein – und das nicht nur am geographischen Rande, sondern mitten in der Wertegemeinschaft, als integraler und aktiver Bestandteil. Deshalb sind Sie zielstrebig Mitglied der Europäischen Union und der gemeinsamen Währung und auch der NATO geworden.
Ich weiß: Aus estnischer Sicht lag die Voraussetzung für diese neu gewonnene Gemeinschaft vor allem in der Unabhängigkeit und der Befreiung vom Joch der Sowjetunion. Aus unserer deutschen Sicht ist Voraussetzung für diese neu gewonnene Gemeinschaft aber eben auch, dass Sie uns, Deutschland, dem Land der Täter von damals, die Hand gereicht haben – dass Sie uns als Teil dieser neuen, friedlichen Gemeinschaft wollen, dass Sie unsere Zusammenarbeit schätzen und unsere aktiven Beiträge suchen, sogar – möchte ich hinzufügen – in den existenziellen Fragen von Sicherheit und Verteidigung.
Das ist ein weiter, ein erstaunlicher Weg, den wir gekommen sind – und vielleicht machen wir uns das zu selten klar. Heute, 2017, im Alltag der Europäischen Union sprechen wir ganz selbstverständlich von den großen
und den kleinen
Mitgliedsstaaten, vom großen
Deutschland und vom kleinen
Estland. Ich will aber ehrlich bekennen: Heute geht es mir umgekehrt. Am 23. August fühle ich mich als Deutscher klein und stehe demütig vor der Größe der Balten, vor ihrem Mut zu einer neuen Zukunft – einem Mut, den Sie gezeigt haben, als andere ihn noch nicht hatten.
Diesen Mut geben Sie auch uns Deutschen mit, indem Sie sagen: Unsere wechselvolle Geschichte soll uns nicht fesseln. Im Gegenteil: Sie soll uns von der Fessel befreien, vergangene Fehler und Irrwege zu wiederholen. Die Zukunft öffnet uns neue und bessere Wege.
Diese Haltung beweisen Sie in Estland auf beeindruckende Art und Weise in der Europäischen Union. Durch Ihr Handeln weisen Sie in eine bessere europäische Zukunft: Europas Zukunft kann nicht auf einzelnen Schultern oder in wechselnden Allianzen gelingen, in der alten Logik der Großen und der Kleinen, sondern nur, indem alle Teile gleichermaßen Verantwortung tragen für den Zusammenhalt des Ganzen.
Das ist die Haltung, mit der Sie in Brüssel an den Tisch kommen. Unity through Balance
ist das Motto, unter das Sie Ihre aktuelle Ratspräsidentschaft gestellt haben, und Sie nehmen diese Verantwortung für den europäischen Zusammenhalt auch ganz konkret wahr: unter der Belastung der Flüchtlingskrise, beim Thema äußere Sicherheit oder bei der Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn im Rahmen der Östlichen Partnerschaft. Und ganz besonders beim Thema Digitalisierung gehen Sie mit großen Schritten voran, sind Sie ein Zukunftsmotor für ganz Europa.
Glauben Sie mir: In Zeiten, in denen sich manche Europäer vom Einigungswerk und seinen Werten abwenden, sind viele Menschen in Deutschland dankbar für den frischen europäischen Wind, der über die Ostsee aus den baltischen Staaten herüberweht.
IV. Die Stärke des Rechts
Noch eine dritte Mahnung geht von diesem Tag aus: In einem friedlichen Europa herrscht die Stärke des Rechts – und nicht das Recht des Stärkeren. Der Hitler-Stalin-Pakt markiert den Tiefpunkt einer zynischen Politik von Einflusszonen und von Großmächten, die sich Staaten und Völker Untertan machen wie Figuren auf einem Schachbrett. Nie wieder dürfen wir dorthin zurück! Wir haben heute in Europa diese Politik überwunden. Ja, es gibt immer noch größere und kleinere Länder in Europa – aber es gibt ausschließlich gleichwertige Mitglieder der Europäischen Union, mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten. Und mehr noch: Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das Völkerrecht der Vereinten Nationen, die OSZE und ihre Prinzipien der nationalen Souveränität und territorialen Integrität – all diese Errungenschaften stehen für die Überwindung der blutigen Logik des 23. August 1939, in Europa und darüber hinaus.
Und deshalb: Wer das Völkerrecht bricht, wer die Institutionen des Friedens gefährdet, der muss unseren gemeinsamen Widerstand ernten.
International anerkannte Grenzen dürfen nicht einseitig und gewaltsam verändert werden. Deshalb werden wir die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland nicht anerkennen.
Ebenso wenig werden wir die verdeckte Einmischung mit hybriden Mitteln oder gezielte Desinformation hinnehmen, wie Sie sie in Estland erleben und wie wir sie im sogenannten Fall Lisa auch schon in Deutschland erleben mussten.
Militärische Drohszenarien, wie Sie sie längs Ihrer Grenze in den letzten Jahren immer wieder erlebt haben, lehnen wir ab.
Ich versichere den Menschen in Estland: Ihre Sicherheit ist auch unsere Sicherheit. Dieses Bekenntnis ist nicht nur Teil des Beistandsversprechens innerhalb unseres transatlantischen Bündnisses, sondern es folgt auch aus den Lehren des 23. August: Das Völkerrecht muss Geltung behalten. Wer diese Ordnung angreift, gefährdet den Frieden dieses Kontinents. Europa darf nicht zurückfallen in eine alte Spirale aus Konfrontation und Eskalation.
V. Rechtsstaatlichkeit und Vielfalt
Die Herrschaft des Rechts – dieses Versprechen soll nicht nur zwischen freien und souveränen Nationen gelten, sondern natürlich auch unter freien und gleichen Bürgern. Auch das gehört zu den Lehren des heutigen Tages.
Mehrfach in der Geschichte der baltischen Staaten wollten Diktaturen der ethnischen und kulturellen Vielfalt, die dieser Gegend innewohnt, ihre totalitäre Einfalt aufoktroyieren – jene gleiche Farbe des Unglücks
, die Tomas Venclova beschrieben hat.
Erst nach 1991 weicht die eintönige Diktatur der Vielfarbigkeit einer freien Gesellschaft. Aber – nach den furchtbaren Erfahrungen der Geschichte stellte sich doch die Frage: Wie bewahrt man die Vielfalt einer Gesellschaft und die Freiheit ihrer Bürger? Die Antwort gab das estnische Volk vor fast genau 25 Jahren: Am 28. Juni 1992 wurde per Referendum die Verfassung verabschiedet, und wenige Monate später rief Präsident Lennart Meri voller Stolz in seiner ersten Rede an die Bürger: Estland ist ein Rechtsstaat
.
Ich finde, es ist eine glückliche Wendung der Geschichte, dass deutsche und estnische Rechtsgelehrte damals gemeinsam an dieser Verfassung gearbeitet haben. Unter ihnen war auch einer meiner Amtsvorgänger, der Verfassungsrichter und spätere Bundespräsident Roman Herzog, der Anfang dieses Jahres verstorben ist. Liebe Frau Rechtskanzlerin: Ich wünsche mir, dass die Kooperation unserer Rechtsinstitutionen und Rechtsgelehrten, die Jahrhunderte zurückreicht – bis in die Zeiten der Hanse und des Lübischen Rechts –, heute fortgesetzt wird. Ich wünsche mir mehr Austausch, gerade auch in der jungen Generation nachwachsender Juristinnen und Juristen.
Unsere rechtsstaatlichen Verfassungen sind zunächst einmal das Fundament für Freiheit und Vielfalt. Die gelebte gesellschaftliche Praxis allerdings ist und bleibt eine tägliche Herausforderung – insbesondere der Schutz und die Integration von Minderheiten und Zugewanderten. Diese Herausforderung beschäftigt – auf die eine oder andere Weise – fast alle Staaten der EU. Bei Ihnen in Estland gilt dies insbesondere für die Fragen der russischsprachigen Minderheit. Bei uns in Deutschland diskutieren wir intensiv über die Integration von Zugewanderten – gerade jetzt, wo hunderttausende Flüchtlinge in unser Land gekommen sind. Auch die Umwälzungen in der Türkei beschäftigen uns besonders, da sie viele Türkischstämmige in Deutschland bewegt und besorgt haben.
Ich glaube, es gibt kein Patentrezept für gelungene Integration – auch wir in Deutschland haben es nicht. Deshalb ist es gut, dass wir uns in Europa zum Thema Minderheitenschutz und Integration austauschen und dass wir konkret zusammenarbeiten, wie etwa in einer gemeinsamen Initiative hier in den baltischen Staaten, um die Zivilgesellschaft zu stärken und das Angebot an unabhängigen und hochwertigen – auch russischsprachigen – Medien zu erweitern.
Denn uns verbindet in Europa doch ein gemeinsamer Anspruch: Gleiche Rechte sind nicht nur ein abstraktes Versprechen unserer Verfassung, sondern jeder Bürger soll sie im gesellschaftlichen Alltag auch einlösen können.
Dieses Prinzip wappnet uns auch gegen Einflussnahme von außen. Der Anspruch von Rechtsstaatlichkeit im Inneren gehört untrennbar zusammen mit dem Anspruch von Souveränität nach außen. Denn wenn unser Rechtsstaat seine Pflicht erfüllt, für gleiche Rechte und Chancen zu sorgen und gegen die Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen vorzugehen, dann entziehen wir selbsternannten Schutzmächten ihre Grundlage. Kein fremder Staat hat das Recht, sich zur Schutzmacht einer Gruppe in unserem Land oder Ihrem Land aufzuschwingen. Solche Einflussnahme lehnen wir ab. Und übrigens: In einer Welt, die von wachsender Vielfalt innerhalb der Landesgrenzen geprägt ist, ist so ein Schutzmachtanspruch eine Büchse der Pandora, und es gibt gute Gründe, diese Büchse geschlossen zu halten. Unsere Haltung ist eindeutig: Wir Europäer schätzen und schützen Vielfalt – unsere Bürger brauchen keine selbsternannten Schutzmächte von außen!
VI. Geschichte darf keine Waffe sein
Ich habe über die Komplexität der Erinnerung gesprochen. Aber ich mache mir auch über die Komplexität der Gegenwart keine Illusionen. Wir leben in einer Zeit großer und wachsender Spannungen. Sie hier in Estland leben an einer Bruchlinie dieser Spannungen. Ich weiß, wie ernst die Spannungen sind, etwa beim Air Policing in Ämari, wenige Kilometer von hier. Übermorgen werde ich mit den NATO-Truppen im litauischen Rukla über die Lage sprechen.
Da ich hier und heute aber über die Lehren aus der Geschichte gesprochen habe, möchte ich eine Überzeugung ans Ende stellen, die ich nach vielen Jahren der Erfahrung in der Politik, insbesondere in der Außenpolitik, gewonnen habe: Die Geschichte darf nicht zu einer weiteren Frontlinie werden.
Ja, geschichtliche Erinnerung ist komplex und zugleich hoch emotional. Geschichtliche Erinnerung stiftet Identität für Menschen und ganze Nationen. Aber ich bin überzeugt: Geschichte darf keine Waffe sein.
Ich glaube vielmehr: Je mehr wir uns der geschichtlichen Erinnerung gemeinsam stellen, desto eher überwinden wir Missverständnisse und Fehlwahrnehmungen – desto besser gelingt Verständigung zwischen Nationen. Vor fast zehn Jahren habe ich ein Projekt angeregt, in dem sich estnische, lettische und litauische, deutsche und polnische und auch russische Historiker gemeinsam mit dem Hitler-Stalin-Pakt, auch mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen, beschäftigt haben. Ehrlich gesagt: Diese Initiative ist nach wenigen Jahren im Sande verlaufen.
Stattdessen erleben wir mehr und mehr, dass Politiker die Geschichte zu Waffen schmieden. Leider stellen wir solche Entwicklungen selbst innerhalb der Europäischen Union fest. Aber wir erleben auch, dass insbesondere die russische Führung das Selbstbild ihres Landes ganz bewusst in Abgrenzung, ja in Gegnerschaft zu uns im Westen konzipiert.
Wir wollen keine Eskalation, auch keine Eskalation der Erinnerung. Genauso wenig wie wir die machtpolitische Konfrontation suchen, genauso wenig suchen wir die erinnerungspolitische Konfrontation.
Unser Blick auf den heutigen Tag – vom Tiefpunkt des Hitler-Stalin-Pakts über die Selbstbefreiung bis hin zur neu gewonnenen Gemeinschaft in der Europäischen Union: Diese Erzählung ist unsere Erzählung, aber sie ist gegen niemanden gerichtet.
Und deshalb gilt auch für uns: Wenn wir uns selbst nur in Abgrenzung zu anderen definieren, dann spielen wir den Scharfmachern in die Hände. Aber in Europa ist der Blick auf uns selbst immer auch ein Blick auf andere, auf unsere Nachbarn.
Für uns Deutsche ist die Erinnerung an den 23. August 1939 untrennbar verbunden mit dem 22. Juni 1941 und dem gnadenlosen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Für uns gehört zu den Lehren aus derselben Geschichte, die uns unverbrüchlich an die Seite der baltischen Staaten stellt, ebenso die Verantwortung, nie wieder Sprachlosigkeit oder gar blinde Feindschaft zu Russland zuzulassen. Das ist – trotz aller aktuellen Schwierigkeiten, über die man eine weitere Rede halten könnte – jedenfalls eine unserer Lehren aus dieser Geschichte.
Der russische Schriftsteller Daniil Granin, der vor wenigen Wochen verstorben ist, sprach 2014 vor dem Deutschen Bundestag und erinnerte an die Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht, an den Hungertod von über einer Million Menschen, eine Zeit, deren unsagbare Grausamkeit er als junger Soldat erlebt und erlitten hatte. Zu Beginn seiner Rede sagte er: Irgendwie verspüre ich den Wunsch, meine Erinnerungen zu glätten, aber ich werde ihm nicht nachgeben.
Wir sollten es ihm gleichtun. Wer die Erinnerung glättet, der mag sie im zweiten Schritt zuspitzen und im dritten zu einer Waffe schmieden. Wer aber nicht glättet, wer die Komplexität der Geschichte, ihre Widersprüche und auch die Perspektive der anderen zulässt, der verliert dadurch nichts, nicht den Stolz, nicht die Selbstachtung, sondern der mag sogar etwas gewinnen: nämlich die Freiheit, sich von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen und gemeinsam mit anderen eine friedlichere Zukunft zu entwerfen.