Welches Fazit ziehen Sie von Ihrer "Ortszeit" in Stadtallendorf?
Jede "Ortszeit“ ist anders. Stadtallendorf ist unvergleichlich mit den 13 anderen "Ortszeiten“ davor. Das Stadtbild ist anders, die Themen sind andere. Aber immer wieder bin ich überwältigt von der Gastfreundschaft und der Freundlichkeit, mit denen mir Menschen begegnen. Das wird mir auch aus Stadtallendorf in Erinnerung bleiben: Die vielen Gespräche und Treffen, in der Kernstadt, in Schweinsberg, wo uns Grundschulkinder mit selbst gebastelten Papierblumen überrascht haben. Das waren großartige Tage.
Was haben Sie über Stadtallendorf gelernt?
Es ist eine Stadt, die es nicht unbedingt einfach hatte. Am Anfang gab es hier die zwei größten Munitions- und Sprengstofffabriken in Europa. Daraus entwickelte sich ein großer Industriestandort, auch dank der Aufbauarbeit von Heimatvertriebenen, die hier ankamen. Wir haben deshalb auch der Zwangsarbeiter und der KZ-Insassinnen aus Auschwitz gedacht, die hier schuften mussten. Diese Geschichte gehört ebenso zu dieser Stadt wie der Zuzug von Gastarbeitern in den 1950er Jahren, zuerst vorwiegend aus Italien, später folgten weitere Zuwanderungswellen. Mich hat beeindruckt, dass es hier gelungen ist, aus der eigenen Geschichte heraus Zuwanderung zu einem Gewinn zu machen. Stadtallendorf kann uns in vielem als Vorbild dienen, gerade hinsichtlich der Integration von Zuwanderern.
Was klappt hier besonders gut?
Ein Zeitungsbericht über hier gelingende Integrationsarbeit hatte mich aufmerksam gemacht. Ich bin mit Neugier hierhergekommen, aber nicht naiv in Erwartung eines integrationspolitischen Paradieses. Ich wollte wissen, was hier anders läuft. Was schon auffällig ist: Hier in Stadtallendorf herrscht kein allgemeines Lamento über Zuwanderung. Man spürt einen nach vorne gerichteten Geist, bei dem alle Beteiligten danach suchen, wie man das, was getan wird, möglicherweise noch besser tun kann. Das wurde bei der Diskussion bei unserer "Kaffeetafel kontrovers“ mit ganz unterschiedlichen Vertretern aus der Bevölkerung deutlich.
Was kann man denn besser machen, nicht nur in Stadtallendorf vielleicht?
Immer wieder sind wir in den Gesprächen auf das Thema Schule gestoßen, weil jeder an dieser Kaffeetafel die Erfahrung gemacht hat, dass gute Deutschkenntnisse der Schlüssel zur Integration sind, und dass wir hier noch mehr unternehmen müssen, um vor allem die ganz Kleinen beim Lernen der deutschen Sprache in der Schule zu begleiten. Dahinter steht der Wunsch, nach noch mehr Lehrern und Sozialarbeit. Vor allem kam der Wunsch zum Ausdruck – und den nehme ich mit nach Berlin –, dass gerade jetzt keine finanziellen Hilfen für Sprachunterricht gestrichen werden sollten. Häufig fehlt es aber auch an Lehrern, die die nötige Qualifikation besitzen. Wir müssen das Studium für das Lehramt wieder bekannter machen und weiter verbessern, damit es attraktiver wird. Es fehlt nicht an Stellen, eher an Bewerbern. Da sollte es keinen Konkurrenzkampf der Länder um Kandidaten geben.
Bei Diskussionen über Integration in Stadtallendorf ist zugleich der Hinweis zu hören, dass in der Stadt 27 Prozent der Stimmen auf die AfD entfallen sind. Eine Partei, die Zuwanderung ablehnt und vor allem die Probleme mit Migration beschwört. Relativiert das die Integrationsleistungen dieser Stadt tatsächlich?
Nein, aus meiner Sicht nicht. Gelingende Integration fördert Akzeptanz. Wo Integration scheitert, verbleiben Misstrauen und Vorurteile. In den Wahlergebnissen, die Sie ansprechen, drückt sich vieles aus. Das Wahlergebnis zu erklären, ist komplex. Und glauben Sie mir, ich verwende viel Zeit darauf, um zu verstehen, warum die Menschen so wählen. Es geht um Skepsis an der Leistungsfähigkeit des Staates, um Enttäuschungen, leider auch um gesteuerte Desinformation und Hetze. Dieses Wahlergebnis ist in meinen Augen in Stadtallendorf nicht das Ergebnis von misslungener Integration.
Sie haben in Stadtallendorf auch mit Soldatinnen und Soldaten diskutiert. Diese Stadt gilt als Musterbeispiel für das gute Verhältnis zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung. Steigt die Akzeptanz für die Bundeswehr in unserem Land wieder an?
Ich teile den Eindruck, dass sich Soldatinnen und Soldaten in Stadtallendorf gut aufgehoben fühlen. Die Soldaten haben im Gespräch bestätigt, dass nach ihrer Wahrnehmung die Akzeptanz der Streitkräfte größer wird. Eine Soldatin hat betont, dass es in Stadtallendorf kein Problem ist, in Uniform zur Arbeit in die Kaserne zu gehen. Ich wünsche mir, dass das überall in Deutschland selbstverständlich ist.
Bleiben Sie bei Ihrem Anstoß aus 2022 für eine soziale Pflichtzeit, einschließlich der Option, das bei der Bundeswehr abzuleisten?
Ich gehöre zunächst mal zu denjenigen, die bedauern, dass die Wehrpflicht 2011 ohne Blick auf die Folgen, zum Beispiel auch für den Zivildienst, suspendiert wurde. Und ja, ich bin schon seit einigen Jahren zu der Überzeugung gekommen: Wir müssen jenseits von Wehrpflicht in Richtung einer sozialen Pflichtzeit für alle denken. Ich habe erlebt, dass die Akzeptanz dafür in den letzten Jahren gestiegen ist. Vielleicht wächst angesichts der veränderten Sicherheitslage das Verständnis, dafür dass wir als Gesellschaft eine größere Resilienz brauchen. In der Umsetzung ist beides nicht einfach, auch für die Bundeswehr nicht. Aber erste Schritte dahin sollte die künftige Bundesregierung schnell angehen – am besten in Richtung einer allgemeinen Dienstpflicht, die natürlich auch bei der Bundeswehr absolviert werden kann.
Doch wie will man in Zeiten einer Generation Z wieder Bewusstsein und Akzeptanz schaffen? Diese Generation ist mit Wehrpflicht nie in Berührung gekommen.
Stimmt. In dieser Generation muss man werben und überzeugen. Leider hat die veränderte Sicherheitslage eine Überzeugungskraft, der sich auch die jüngere Generation nicht entziehen kann.
Sie sprechen die Sicherheitslage an. Hat die Diplomatie im Ukrainekrieg die Chance, dass dieser Angriffskrieg Russlands nicht militärisch entschieden werden muss?
Ich könnte leichten Herzens Ja sagen. Aber wir sind in jüngster Zeit Zeugen einer Form von Diplomatie geworden, von der ich überzeugt bin, dass sie so nicht funktionieren kann. Wenn ich an das sogenannte Gespräch im Weißen Haus des amerikanischen Präsidenten mit seinem ukrainischen Amtskollegen denke, da kann ich mit meiner außenpolitischen Erfahrung nur sagen: Wer seinen Gesprächspartner vor den Augen der Welt demütigt, der muss wissen, dass Diplomatie unter solchen Voraussetzungen scheitert. Genauso entscheidend wie, dass die Kämpfe enden, ist die Frage, wie sie enden und unter welchen Bedingungen für die Ukraine. Präsident Selensky hat wiederholt gesagt, dass die Ukrainer selbst den größten Wunsch nach Frieden haben. Wir sollten aber verstehen, dass ein Kriegsende keine Kapitulation für die Ukraine sein darf. Es muss eine unabhängige und demokratische Ukraine bleiben, die die Sicherheit ihrer Bürger gewährleisten kann. Weil das keineswegs klar ist, müssen wir mit anderen Europäern bei unserem Beistand für die Ukraine bleiben. Es bleibt Aufgabe der Politik, die Bevölkerung von der Notwendigkeit zu überzeugen.
Damit meinen Sie die militärische Unterstützung.
Damit meine ich die wirtschaftliche, finanzielle und auch die militärische Unterstützung. Ich wünschte mir, dass wir uns jetzt schon sehr viel mehr Gedanken über den Wiederaufbau der Ukraine machen könnten, aber da sind wir noch nicht.
Bundestag und Bundesrat haben über ein gigantisches Finanzpaket für Infrastruktur und Bundeswehr entschieden. Vor Ort sorgen sich Bürgermeister wie Stadtparlamente darum, wie sie ihre Haushalte finanzieren sollen. Ist es jetzt nicht dringend an der Zeit, die Finanzierung von Städten und Gemeinden neu zu ordnen?
Wir nehmen die wachsenden Sorgen der Kommunen bei jeder "Ortszeit“ wahr. Seit Jahren fehlt es an Wachstum, in vielen Kommunen sinken die Gewerbesteuereinnahmen, auch in Stadtallendorf. Das treibt in Stadtparlamenten Schweißperlen auf die Stirnen. Deshalb ist es für mich von zentraler Bedeutung, dass wir die Wirtschaft wieder in Gang bringen – wichtig für unser Land, aber auch wichtig für Europa: Von Deutschland müssen zukünftig wieder Wachstumsimpulse für die europäische Wirtschaft kommen.
Doch was passiert mit den Kommunen?
Sie sind in einer finanziell schwierigen Lage. Wenn sie nicht besser wird, dann schwinden die Möglichkeiten, etwa Kultur und Sport zu unterstützen. Dann fehlt vieles von dem, was das Leben vor Ort lebenswert macht. Als Gesellschaft sind wir darauf angewiesen, dass Politik vor Ort nicht durch die Finanzlage dauerhaft stranguliert wird. Deshalb war ich sehr froh, dass in dem sehr großen Finanzierungspaket auch eine stärkere Entlastung der Kommunen vorgesehen ist.
Es entstehen jetzt neue Schulden, die schon außergewöhnlich sind. Entsteht da nicht auch eine gigantische Last für die künftigen Generationen?
Ich habe aus meinen Jahren in politischer Verantwortung die Erfahrung mitgenommen, dass Politik immer das Bewegen zwischen Zielkonflikten ist. Mit anderen Worten: Wenn man auf ein Finanzpaket verzichtete, führte das nicht zu mehr Vertrauen in die Demokratie, weil zum Beispiel Straßen nicht gebaut, Brücken nicht saniert, Klimaschutz und bessere Ausrüstung der Bundeswehr nicht finanziert werden können. Aber selbstverständlich hat ein großvolumiges Finanzpaket, das all das möglich macht, auch nicht nur positive Folgen, sondern wird die Zinslasten in kommenden Haushalten deutlich steigen lassen. In diesem Zielkonflikt musste eine Mehrheit im Bundestag und Bundesrat entscheiden. Das ist geschehen.
Ist das Finanzpaket nicht auch das Resultat von Versäumnissen der Vorgängerregierungen?
Die Möglichkeiten für Wachstumsimpulse und Geld für die Infrastruktur waren bisher begrenzt. Erst durch die Entscheidung für ein zusätzliches Sondervermögen und eine Reform der Schuldengrenze hat sich das geändert.
Warum hat es so lange gedauert bis zu diesem Schritt?
Die Debatte um höhere Neuverschuldung war ein Kernpunkt der politischen Auseinandersetzungen bis in den vergangenen Bundestagswahlkampf hinein. Er wurde erst nach der Wahl entschieden. Das zu bewerten, ist nicht Aufgabe des Bundespräsidenten.
Die Fragen stellten: Carsten Beckmann und Michael Rinde