Herr Bundespräsident, der Allgäuer Bauernaufstand vor 500 Jahren gilt als ein Epizentrum der deutschen Demokratiebewegung. In zwölf Artikeln forderten die Bauern damals mehr Rechte, das Abschaffen der Leibeigenschaft und weniger Gängelung durch die Obrigkeit. Wünschen Sie sich heute manchmal etwas mehr von ihrem aufklärerischen Geist?
Jahrhundertelang haben Menschen davon geträumt und dafür gekämpft, was heute in Deutschland verwirklicht ist: Demokratische Selbstbestimmung in Freiheit und mit gleichen Rechten für alle. Die Zwölf Artikel der Bauernschaft und der Kampf dafür waren ein Meilenstein in der deutschen Freiheitsgeschichte auf dem langen und steinigen Weg hin zu unserem Grundgesetz. Wir würdigen heute die Aufständischen, die gegen Bevormundung, Unterdrückung und Privilegien gekämpft haben, unter Einsatz ihres Lebens. Wenn die Stadt Memmingen, der Freistaat und viele Kommunen jetzt mit großem Engagement an 500 Jahre Bauernkrieg erinnern, dann zeigt uns das: Freiheit und Demokratie sind nicht vom Himmel gefallen und sind keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen sie schätzen, bewahren und verteidigen. Der Unterschied zu damals ist: Die Aufständischen haben für Demokratie gekämpft, heute ringen wir in der Demokratie um den richtigen Weg. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
Damals war das ganze Allgäu in Aufruhr. Heute ist es, überspitzt formuliert, das ganze Land. Hunderttausende demonstrieren gegen rechts oder alles, was sie für rechts halten, ein lange nicht mehr erlebter islamistischer Hass lässt Juden wieder um Leib und Leben fürchten, Attentate wie in Magdeburg, Aschaffenburg, München und Mannheim rütteln an den Fundamenten unseres Zusammenlebens. Was läuft im Moment schief in Deutschland?
Keine Frage: Das gesellschaftliche Klima hat sich verändert, in fast allen westlichen Demokratien. Unser aller Meinungen prallen härter aufeinander, Positionen stehen sich häufiger rücksichtslos und unversöhnlich gegenüber. Es bleibt unser aller Aufgabe, unermüdlich für ein friedliches Zusammenleben einzutreten und es auch vorzuleben. Zugleich muss sich Politik noch stärker um die Themen kümmern, die die Bürgerinnen und Bürger schon länger umtreiben. Das sind ohne Zweifel Fragen der Sicherheit, auch der Migration und der Zuwanderung. Ich denke aber auch an die Aufarbeitung der Folgen der Corona-Pandemie. Ich spüre bei meinen Reisen durch unser Land noch immer, wie tief die Wunden sind, die sie hinterlassen hat. Ich bin sicher, dass die Aufarbeitung der grundsätzlichen Fragen, was ist gut gelaufen, was weniger, eine große Chance für unsere Demokratie ist. Wir könnten zeigen, dass wir besser durch die Pandemie gekommen sind als andere und daraus für zukünftige epidemische Verläufe lernen. Ich erwarte, dass der neue Bundestag sich dieses Themas annimmt und kann mir nicht vorstellen, dass er diese Chance verstreichen lassen wird.
Ihr Herzensthema ist die Demokratie und der Kampf gegen deren Erosionserscheinungen. Vieles, was vor zwanzig Jahren noch selbstverständlich schien, etwa stabile politische Verhältnisse, ist es heute nicht mehr. Wie sehr besorgt Sie in diesem Zusammenhang das Ergebnis der Bundestagswahl?
Zuerst einmal freut es mich, dass sich so viele Menschen bei der letzten Bundestagswahl beteiligt haben. 50 Millionen Wahlberechtigte haben abgestimmt. Mit den neuen Mehrheitsverhältnissen wird derzeit eine neue Regierung gebildet. Deren Aufgaben sind gewaltig: Die Menschen wollen, dass der Staat wieder besser funktioniert, dass sie einen Termin beim Amt bekommen und die Züge fahren. Sie wollen, dass ihre Mieten bezahlbar bleiben, die Gesundheitsvorsorge funktioniert und das Klima geschützt wird. Die neue Regierung wird sich darauf verständigen müssen, wie sie etwa für wirtschaftlichen Aufschwung und Zukunftsinvestitionen sorgen sowie die innere und äußere Sicherheit stärken kann. Zugleich sind die internationalen Herausforderungen so groß wie seit Jahrzehnten nicht: Russlands Krieg und die Abkehr der USA von Europa fordern uns in nie gekannter Weise. Unsere eigene Verteidigung wird uns viel Geld kosten. Die Sicherung des Friedens in Europa wird uns vermutlich noch sehr viel abverlangen. Die Bundestagswahl hat uns zudem gezeigt, dass die Bindekräfte der einst großen Volksparteien weiter nachlassen. Die Parteienlandschaft ist vielfältiger, Mehrheitsbildungen sind schwieriger geworden. Was wir heute zugleich erleben, ist eine fundamentale Verschiebung der politischen Kommunikation. Die Debatte wandert von den Qualitätsmedien in die sozialen Netzwerke ab – und das verändert unsere Demokratie tiefgreifend. In klassischen Medien gibt es Raum für Differenzierung, für das Abwägen von Vor- und Nachteilen. Die sozialen Medien hingegen funktionieren nach dem Schwarz-Weiß-Prinzip, nach Ja oder Nein. Dieser Verlust an Nachdenklichkeit ist besorgniserregend. Was das wirklich bedeuten kann, habe ich erst kürzlich in Chile gesehen. Dort wird, – so wurde uns berichtet – durch gezielte Algorithmus-Steuerung ein Kandidat einer rechtsextremen Partei plötzlich nach oben katapultiert und die politische Landschaft durch Einwirken von außen umgepflügt. Wir müssen uns klarmachen, dass es auch bei uns zu solchen Dynamiken kommen kann. Es ist eine riesige Herausforderung für die Demokratie, und ohne Regulierung wird es schwer, dem entgegenzuwirken. Liberale Demokratien zu schützen, bedeutet auch, im Netz aktiv zu werden und denen, die unsere Demokratie bedrohen, nicht das Feld zu überlassen. Darum geht es.
AfD und Linkspartei haben im Bundestag jetzt eine Sperrminorität. Gegen sie kann das Parlament keine Änderung des Grundgesetzes mehr beschließen. Geht da ein Stück demokratischer Handlungsspielraum verloren?
Demokraten müssen mit jedem Wahlergebnis umgehen. Ich bin überzeugt, das werden sie.
Nach der Wahl 2017 mussten Sie die SPD sanft an ihre staatspolitische Verantwortung erinnern, damit sie noch einmal eine Koalition mit der Union einging. Auch im Moment trennt beide Seiten noch viel. Kann es sein, dass Sie bald wieder gebraucht werden?
Die Veränderungen in unserer Demokratie fordern auch den Bundespräsidenten in seiner Rolle anders. Das habe ich bei der Koalitionsbildung 2017 gespürt und auch zuletzt in der schwierigen Verständigung über die Auflösung des Bundestages und der Festlegung eines Wahltermins. Gleichwohl: Ich hoffe, dass eine neue Regierungskoalition zügig zustande kommt, gegründet auf innerer Überzeugung und nicht auf Druck von außen. Europa wartet auf eine stabile, handlungsfähige Bundesregierung.
Einer Ihrer Vorgänger, Richard von Weizsäcker, hat die Parteien einst „machtversessen und machtvergessen“ genannt. Auch der letzte Wahlkampf kreiste am Ende nur noch um den Umgang der Union mit der AfD und weniger um die großen Probleme, vor denen Deutschland steht. Haben die etablierten Parteien die Bodenhaftung verloren?
Ich habe ehrlich gesagt schon das Gefühl, dass die Fragen der Migration und auch des Umgangs mit der AfD, die Sie ansprechen, viele Menschen beschäftigen. Was aber stimmt ist, dass das Gedonner und Getöse hoch emotionalisierter medialer Auseinandersetzungen oft an der Sache vorbeigehen. Deshalb ist es gerade jetzt wichtig, dass die Presse ihre Arbeit gut macht, dass sie genau hinschaut. Und dass die neue Bundesregierung das Vertrauen in unsere Demokratie stärkt. Sie muss den Rahmen für künftiges Wachstum setzen, sie muss Wege finden, unser Land gemeinsam mit den europäischen Partnern zu verteidigen, es muss ihr gelingen, dass die Bürgerinnen und Bürger sich sicher fühlen. Ich bin überzeugt, wir brauchen einen Staat, der besser funktioniert. Ich freue mich, dass die Initiative handlungsfähiger Staat, deren Schirmherr ich bin, erste Vorschläge öffentlich gemacht hat. Nehmen wir sie ernst und lassen Sie uns weiter daran arbeiten!
Teilen Sie eigentlich die Einschätzung, dass die neue Bundesregierung um einiges beherzter agieren muss als die Regierungen vor ihr, weil bei der Wahl 2029 sonst Alice Weidel am Zaun des Kanzleramtes rüttelt?
Rütteln kann jeder, rein kommt aber nur, wen die Mehrheit der Menschen wählt. Es gibt keine Zwangsläufigkeit. Zu jeder Zeit in der Weltgeschichte ist es auf Menschen angekommen; darauf, wie sie entscheiden. Deutschland ist ein starkes Land und unsere Demokratie ist stabil. Wir haben schon viele Stürme überstanden und größte Herausforderungen gemeistert: vom Kalten Krieg über den Terrorismus in den 1970er Jahren, oder Phasen der Massenarbeitslosigkeit. Wir gewinnen die Zukunft nicht mit Selbstzweifel und Kleinmut. Wir gewinnen sie, wenn wir uns wieder stärker auf unsere Stärken besinnen und danach handeln.
Regelmäßig gehen Menschen in Deutschland auf die Straße, um ein Zeichen gegen rechts zu setzen. Gegen den islamistischen Terror demonstriert niemand. Im Gegenteil: Seit den Massakern vom 7. Oktober 2023 in Israel tritt der Judenhass in Deutschland immer offener zutage. Steht unsere Demokratie wirklich nur von einer Seite unter Druck und wo verläuft für Sie die Grenze zwischen legitimer Israel-Kritik und Antisemitismus?
Ich war mit dabei, als nach dem 7. Oktober 2023 Tausende vor dem Brandenburger Tor gegen den Terror der Hamas demonstriert haben. Mir ist wichtig, dass bei diesem Thema nicht die Extremisten den Ton der Debatte bestimmen. Unser Strafrecht zieht der Meinungsfreiheit klare Grenzen. Die Billigung des Hamas-Terrors ist in Deutschland zu Recht strafbar. Wer aber Empathie mit den Menschen in Gaza zeigt und auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts drängt, wird dadurch nicht zum Antisemiten. Es muss möglich sein, über die Zukunft im Nahen Osten ohne gegenseitige Beleidigungen und Gesprächsverweigerung zu diskutieren.
In unserem letzten Interview haben Sie die Deutschen davor gewarnt, zu schnell ihr Urteil über die israelische Politik zu fällen. Heute spricht sich eine Mehrheit in Umfragen gegen Waffenlieferungen an Israel aus. Was gilt Angela Merkels Versprechen, Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson, vor diesem Hintergrund noch?
Deutschland steht in historischer Verantwortung zu Israel. Unsere beiden Länder verbindet eine singuläre, einmalige Partnerschaft. Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel und die Förderung der Verbundenheit zwischen unseren Ländern bleibt mir ein Herzensanliegen. Im Mai werde ich aus Anlass des 60. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen wieder dort sein. Seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 sind Deutsche und Israelis vereint in der Trauer um die vielen Menschen, die von der Terrororganisation ermordet wurden. Einige der Geiseln, die die Hamas entführt hat, haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Manche von ihnen wurden freigelassen, doch noch nicht alle. Wir bangen um ihr Leben und hoffen auf ihre baldige Freilassung. Und wir arbeiten dafür, dass der Krieg und das Sterben aufhören und es eine Zweistaatenlösung gibt, damit alle Menschen in der Region in Frieden leben können.
Die Fragen stellte: Rudolf Wais