"Die Pandemie hat tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen"

Schwerpunktthema: Interview

30. Januar 2025

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat mit der Zeitschrift "Stern" über die Folgen der Corona-Pandemie, seine Forderung nach Aufarbeitung und über seine persönlichen Erfahrungen gesprochen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird im Rahmen eines Interviews mit dem 'Stern' in Schloss Bellevue fotografiert

Herr Bundespräsident, vor fünf Jahren kam Corona über die Welt. Wann haben Sie das Virus erstmals bewusst zur Kenntnis genommen?

Das war eher ein fortschreitender Prozess. Am 7. Januar wurde das Virus von den Chinesen an die WHO gemeldet, damit war es auch hier offiziell bekannt. Ich persönlich wurde so richtig aufmerksam mit dem ersten Infektionsfall bei einer Firma in der Nähe von München. Allerdings beruhigten das Robert-Koch-Institut und das Gesundheitsministerium zu diesem Zeitpunkt noch: Man sehe für Deutschland keine große Gefahr. Ich sage das ohne Vorwurf, das war zu diesem Zeitpunkt eben Stand der Erkenntnisse. Ich glaube, der große Wendepunkt in der allgemeinen Aufmerksamkeit und auch bei mir waren die Ereignisse im Landkreis Heinsberg mit den vielen Infektionen und ersten Todesfällen.

Sie meinen die hohen Infektions- und Todesfälle in Heinsberg Ende Februar 2020, vermutlich in Folge einer Karnevalssitzung. Wie haben Sie reagiert?

Wir reduzierten die Zahl der Teilnehmer an Gesprächen. Kleine Gruppen, später nur noch ein, zwei Leute. Als ich Ende Februar nach Kenia geflogen bin, wurde das erste Mal dort am Flughafen Fieber gemessen. Das war dann auch für lange Zeit meine letzte Auslandsreise.

Die Infektionszahlen stiegen an. Wann hat das Sie und Ihr Umfeld erreicht?

Einer meiner Sicherheitsbeamten infizierte sich Anfang März. Ich war mit ihm im selben Auto aus Zwickau nach Berlin zurückgefahren. Nach den geltenden Regeln musste ich danach in Quarantäne.

Sie haben Ihrer Frau 2010 eine Niere gespendet. Transplantationspatienten sind wegen einer abgesenkten Immunität besonders gefährdet. Was bedeutete das für Ihr Zusammenleben?

In der Quarantäne habe ich mich mit ein paar Büchern und einem Laptop in die Dachkammer zurückgezogen und auf einer Luftmatratze campiert. Meine Frau und ich sind uns im Haus aus dem Weg gegangen, um mögliche Gefahren für ihre Gesundheit zu vermeiden. Das war schon eine Zeit, die in Erinnerung bleibt.

Haben Sie das auch als psychische Herausforderung empfunden?

Mich hat es nicht so hart getroffen wie andere, die keine Kammer für die Zeit der Quarantäne hatten. Trotzdem, es war eine Isolation. Beklemmend war eins der Bücher, die ich in der Dachkammer las: "1918. Die Welt im Fieber" von Laura Spinney. Das beschäftigt einen schon, wenn man in der Phase einer anschwellenden Pandemie erinnert wird, dass die sogenannte Spanische Grippe 1918 in nur vier Monaten mehr Opfer gefordert hat als der Erste Weltkrieg in vier Jahren. Aber aus diesem Buch habe ich auch gelernt, dass es eine über Jahrhunderte geprägte Praxis der Seuchenbekämpfung gab, zu der zum Beispiel mit den Kontaktbeschränkungen auch Maßnahmen gehörten, die wir schon begonnen hatten, bevor noch Tests, Medikamente und Impfstoffe zur Verfügung standen.

Der Bundespräsident soll eigentlich im Land unterwegs sein und Menschen treffen. In den nächsten Monaten waren Sie plötzlich Gefangener im Schloss Bellevue.

Das war ein fundamentaler Einschnitt in meine Arbeit und auch in mein Verständnis, wie ich dieses Amt führen will. Aber natürlich habe ich es dann auch als Aufgabe gesehen, vorzuleben, wie man sich vernünftig verhält, um nicht zur Ausbreitung des Corona-Virus beizutragen. Dabei ist es mir, wie allen anderen, nicht immer leichtgefallen, sich der neuen Regeln in jedem Moment des Alltags bewusst zu sein.

Wie haben Sie den Kontakt nach außen gehalten?

Wir haben Digitalformate entwickelt, zum Beispiel eine Siebenergruppe mit verschiedenen Vertretern der Gesellschaft, zu denen auch Kritiker der staatlichen Maßnahmen gehörten, die "Bürgerlage". Mit denen haben wir uns regelmäßig zusammengeschaltet. Und immer wieder habe ich auch Menschen einfach angerufen, um zu erfahren, wie es ihnen geht, natürlich viele Wissenschaftler, Ärzte und Pfleger im Krankenhaus oder im Altenheim, aber genauso die Verkäuferin im Supermarkt, die den Streit mit Kunden um die Zuteilung von Nudeln, Mehl und Toilettenpapier führt.

An welcher Stelle war der Bundespräsident in der Pandemie besonders gefordert?

Wir sind durch die erste Welle relativ gut durchgekommen. Man vergisst heute leicht, dass wir ohne die Kontaktbeschränkungen in der ersten Welle nicht rund 9.000 Tote gehabt hätten, sondern womöglich schon 70.000. Das legen Vergleichszahlen nahe. Aber mich erreichten schon damals viele Zuschriften von Menschen, die Verwandte in Pflegeheimen hatten, die an und mit Corona gestorben sind. Das war ein einsamer Tod in dieser Zeit, als selbst Gespräche zum Abschied oft nicht mehr möglich waren. Und es war eine einsame Trauer.

Sie haben deshalb einen nationalen Trauerakt veranlasst, der nicht unumstritten war. Manche sagten, es sei zu früh, andere fanden, das sei nicht Sache des Staates. Warum hielten Sie das für angebracht?

Ich habe damals einen sehr guten Freund verloren. Auch mein Schwiegervater ist gestorben. Ich habe erlebt, was es heißt, wenn man sehr nahen Verwandten sagen musste: Du darfst zur Trauerfeier nicht kommen. Und ich wollte ein Zeichen setzen, dass der Staat, der diese Maßnahmen veranlasst hat, diesen Schmerz sieht. Meine Sorge war, dass die Gesellschaft Schaden nimmt, wenn wir diese Trauer verdrängen. Es waren dann die wichtigsten Repräsentanten des Staates da. Und spätestens als die Angehörigen von Verstorbenen so eindringlich vom Sterben ihrer Liebsten berichteten, waren alle Zweifel am Sinn der Veranstaltung beseitigt. Es gab viel Dankbarkeit dafür.

Wenn Sie heute wieder im Land unterwegs sind, welche Rolle spielt Corona da noch?

Jede große Seuche hat die Gesellschaft verändert. Das gilt auch für diese Pandemie. Wir haben, wenn man einen Strich darunterzieht, im Vergleich mit anderen Staaten erfolgreich gegen die Infektion gekämpft. Trotzdem: Die Pandemie hat tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen, die unübersehbar sind. Es sind Narben geblieben, die schmerzen. Und das ist spürbar, wenn ich im Land unterwegs bin.

Welche Narben sind das konkret?

Ich glaube, wir haben mit den staatlichen Beschränkungen auch eine Phase der Sprachlosigkeit eingeleitet. Die Beschränkung von Kontakten ist ein Gebot der Infektionsbekämpfung. Aber Begegnungen zu verhindern, das ist eine Belastung der Demokratie. Durch die staatlichen Beschränkungen, die die Regierung aussprechen musste, haben wir in Kauf nehmen müssen, dass das selbstverständliche Räsonieren, Diskutieren, Kritisieren und Protestieren nicht mehr wie sonst stattfinden konnte. Der Demokratie fehlte für lange Zeit etwas, was zu ihrem Wesen gehört.

Haben nach ihrem Eindruck auch die Medien den Diskurs durch einseitige Berichterstattung eingeschränkt, wie uns häufig vorgeworfen wird?

Den Eindruck teile ich nicht. Ich würde eher sagen, dass in den Medien eine gewisse Nivellierung der Expertise stattgefunden hat. Da saßen Virologen, die fundiert über das Virus, seine Gefahren und seine Verbreitung reden konnten, mit Menschen zusammen in Talkshows, die Expertise auf anderen Gebieten hatten. Das ging dann manchmal kreuz und quer und hat die Menschen eher verwirrt als aufgeklärt. Dazu kam nach der ersten Welle ein Wettstreit über die schnellsten Lockerungen. Je länger die Pandemie dauerte, desto schwerer war für die Menschen zu erkennen, wer nun eigentlich recht hatte und was getan werden sollte. Ein Teil der Menschen ist dann abgewandert in das Lager von Populisten und Verschwörungstheoretikern, die die Bewirtschaftung der Angst vor dem Staat als ziemlich erfolgreiches Geschäft betreiben.

Für Verwirrung hat aber auch die Politik gesorgt. Über die Vorschrift, dass man zeitweise nicht mehr auf einer Parkbank ein Buch lesen durfte, kann man doch heute nur noch den Kopf schütteln.

Ja. Es gab Vorschriften, die eher geschadet als genutzt haben.

Mittlerweile ist es auch weitgehend Konsens, dass vor allem die Schulschließungen im Verhältnis zu den Folgeschäden zu drastisch waren.

Das ist ein Konsens, der sich erst später einstellte. Ich erinnere mich, dass in der Frühphase der Pandemie in der Politik durchaus Zurückhaltung gegenüber Schulschließungen bestand. Mit Beschleunigung des Infektionsgeschehens drängten immer mehr Länder auf schnelle und konsequente Schulschließungen. Dem Drängen haben sich die eher skeptischen Kultusminister in den Ländern nicht entziehen können. Aber was bleibt, ist das: Wir haben Kinder und Jugendliche zum Schutz ihrer und der Gesundheit anderer nicht nur vom Unterricht ferngehalten. Wir haben ihnen für Wochen Freunde, Bewegung, ihr soziales Umfeld genommen. Darunter haben sie gelitten, manche haben langwirkende psychologische Schäden davongetragen; Schulschließungen müssen für die Zukunft Ultima Ratio bleiben.

Viele Jugendliche fühlten sich vom Staat alleingelassen. Heute wählen viele junge Menschen die AfD. Sehen Sie da einen Zusammenhang?

Der Zusammenhang von der Nutzung sozialer Medien und der Neigung zu populistisch-radikalen Positionen läge dafür noch eher auf der Hand. Was stimmt, ist, dass sich Jugendliche allein gelassen fühlten. Sie haben die Beschränkungen und dieses Fehlen bestimmter Rituale besonders gespürt. Es gab zum Beispiel Proteste, weil man nicht einmal den Schulabschluss feiern durfte. Wir haben einmal ein Video mit einer symbolischen Abschlussfeier mit Prominenten gemacht, das sich sehr viele angeschaut haben. Aber Symbolik reicht natürlich nicht, um die eine reale Lücke zu füllen.

In der Politik selbst wurde sogar der Vorwurf laut, hier machten Menschen Politik, zum Beispiel Frau Merkel, die keine Kinder haben und deshalb für deren Interessen weniger empfänglich seien.

Ich habe nicht am Kabinettstisch oder in den Konferenzen der Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten gesessen. Aber ich weiß aus meinen mit vielen Beteiligten geführten Gesprächen, dass die Frage der Schulschließungen einer der härtesten Streitpunkte gewesen ist. Und ich habe bis heute nicht den Eindruck, dass man Befürworter und Gegner danach einteilen konnte, wer Kinder hatte und wer nicht.

Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn hat früh gesagt, wir werden einander viel verzeihen müssen. Würden Sie für etwas um Verzeihung bitten wollen?

Ich finde, wir sollten erst einmal Danke sagen. Den Ärztinnen und Pflegern, den Menschen hinter den Supermarktkassen, den Lkw-Fahrern. Allen, die sich um uns gekümmert haben. Und wenn es Menschen gibt, denen wir nicht nur danken, sondern sie um Verzeihung bitten sollten, dann sind es die ganz Jungen. Sie haben aus Rücksicht auf Ältere auf viel verzichten müssen. Sie haben sich oft nicht gesehen gefühlt. Der wichtigste Beitrag zur Rückschau auf die Pandemie ist Aufarbeitung. Wir müssen uns selbst gegenüber Rechenschaft ablegen, was gut lief, was weniger gut lief, was geschadet hat. In unser aller Interesse Transparenz herstellen. Darum geht es.

Das stimmt, aber passiert ist nichts. Regierung und Opposition, aber auch die Ampel-Koalition untereinander konnten sich nicht auf eine Form der Aufarbeitung verständigen. Will einfach niemand Schuld in die Schuhe geschoben bekommen?

Meine Überzeugung ist: Wir sollten uns bei der notwendigen Aufarbeitung nicht in der vordergründigen Suche nach Schuldigen verlieren. Vielleicht war das genau der Fehler, der eine Verständigung in der jetzt zu Ende gehenden Legislatur verhindert hat. Wir kommen nicht ans Ziel, wenn es manchen nur darum geht, die vermeintlichen "Täter" dingfest zu machen, und andere mögliche Ergebnisse auf die lange Bank schieben wollen.

Was ist Ihr Vorschlag?

Staaten wie Großbritannien oder Schweden, aber auch einzelne Bundesländer oder Städte haben unterschiedliche Formen gefunden, um die Aufarbeitung zu leisten. Mancherorts ist die Arbeit weit fortgeschritten. Wir werden uns nach den Neuwahlen sehr schnell auf das "Wie" der Aufarbeitung verständigen müssen. Es eilt. Nach meinem Eindruck ist die Erwartung in der Öffentlichkeit groß.

Könnten Sie als Bundespräsident nicht einfach selbst eine Kommission einrichten?

Wenn eine neue Regierung und ein neuer Bundestag sich dieser Aufgabe tatsächlich nicht widmen sollten, werde ich das tun. Aber ich bin überzeugt, Bundestag und Bundesregierung werden erkennen: In der Aufarbeitung der Pandemie liegt eine riesige Chance. Es ist ein Vorteil für die Demokratie, Transparenz herzustellen. Aufarbeitung würde die Chance schaffen, Menschen zurückzugewinnen, die ihr Vertrauen in die Demokratie verloren haben oder zumindest daran zweifeln. Wenn wir nicht aufarbeiten, dann bleibt das Verdrängte. Was aber viel gefährlicher ist: Das Verschwiegene kreiert Verdacht. Und das ist etwas, womit Populisten gerne hantieren.

Ist womöglich die Angst zu groß, dass man sich zu viele Fehler eingestehen müsste?

Wenn man auf die Ergebnisse schaut, kann das eigentlich nicht sein. Natürlich, 186.000 Tote sind wahrlich kein Grund, selbstzufrieden zu sein. Es gab Höhen und Tiefen in der Pandemiebekämpfung. Aber im Vergleich stehen wir in der weltweiten Corona-Sterberate auf einem der hinteren Plätze. Mit anderen Worten: Neben dem, was hätte besser laufen können und müssen, haben wir offenbar auch vieles richtig gemacht. Und es gibt auch die positiven gesellschaftlichen Aspekte, die uns Mut machen können: Die Mehrheit war immer bereit, Rücksicht zu nehmen auf andere. Und wir haben großes Engagement quer durch die Bevölkerung erlebt, beim medizinischen Personal sowieso, aber auch bei Lehrern, die mit Handkarren Unterrichtsmaterial zu ihren Schülern gefahren haben, oder bei Nachbarn, die für gefährdete Menschen einkaufen gegangen sind. Auch das gehört zu so einer Bilanz.

Ein Aspekt, bei dem die Politik sehr wohl Sorge haben müsste, sich nicht an ursprüngliche Zusagen gehalten zu haben, ist die Impfpflicht. Sie wurde erst von fast allen Verantwortlichen ausgeschlossen. Aber als die Impfzahlen zu niedrig waren, wurde sie doch vorangetrieben. Hat das nicht dem Ansehen der Pandemiebekämpfung großen Schaden zugefügt?

Ich stimme Ihnen zu. Das Hin und Her in der Frage der Impfpflicht hat Einfluss gehabt auf die Stimmung im Land und auf das Verhältnis von Teilen der Bevölkerung zur Politik. Und das sage ich als jemand, der absolut davon überzeugt ist, dass der Nutzen der Impfung die Risiken weit überwiegt.

Sie haben sich seinerzeit recht ungehalten über Impfverweigerer geäußert. War das angemessen?

Mir ging es vor allem darum, Kritiker, mit denen ich auch das direkte Gespräch nicht gemieden habe und die allzu häufig harsch und unversöhnlich auftraten, davon zu überzeugen, sich nicht auf randständige Studien zu beziehen, sondern auf gesichertes Wissen der Wissenschaft. Die Debatte um die Impfpflicht ist entstanden, weil wir – auch zu meiner Überraschung – eine deutlich niedrigere Impfrate hatten als andere Länder. Die Folgen erlebe ich tatsächlich heute noch. Zum Beispiel bei einem "Stadtgespräch" in Meiningen, da hatten sich an einem Abend etwa hundert Leute an zwölf Tischen versammelt, um zu reden. Der Bürgermeister und ich sind von Tisch zu Tisch gegangen. Ich war überrascht, wie stark nach dem Ende von Corona die Debatten noch von der Pandemie und vor allem von der Impfpflicht geprägt waren.

Müsste eine Aufarbeitung der Pandemie nicht auch Verbesserungen für die Zukunft liefern?

Unbedingt. Ich denke, an manchen Stellen sind wir schon besser geworden. Einen Maskenmangel wie Anfang 2020 würden wir vermutlich nicht nochmal erleben. Auch die Gesundheitsämter sind inzwischen viel besser aufgestellt. Aber das Verfluchte an Pandemien ist, dass jede anders ist. Deshalb müsste eine Kommission, die aufarbeitet, auch Konsequenzen für die Zukunft ziehen.

Welche?

Ich glaube, wir müssen prüfen, ob wir speziell für den Krisenfall eine zentrale wissenschaftliche Beratung brauchen, beispielsweise ein Gremium mit den anerkannten Spitzen der relevanten Wissenschaftsdisziplinen. Und noch etwas: Ich bin kein Mediziner, aber ich habe im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Expertise den Eindruck, dass die Hürden für klinische Studien in Deutschland zu hoch sein könnten. Auffallend war jedenfalls, dass viele Studien aus den USA oder Großbritannien herangezogen wurden.

Muss sich auch in der politischen Organisation etwas verändern?

Wir sollten klären, wo wir künftig das Krisenmanagement verorten: im Kanzleramt? In einem Ministerium? Vor allem: Wie und wo wird die Verzahnung von Bund, Länder und Kommunen organisiert?

Sollte eine größere Mitsprache des Parlaments nicht auch eine Lehre aus der Corona-Pandemie sein?

Der Bundestag hat ja Ende März die pandemische Notlage festgestellt und damit die Grundlage der Pandemiebekämpfung gelegt. Ich denke, wir müssen aber auch die Frage beantworten, welches Instrument sich ein Parlament schaffen muss, um mit der Geschwindigkeit des Infektionsgeschehens mitzuhalten. Das war nach meiner Beobachtung doch das entscheidende Problem, weshalb Aufgaben, von denen viele auch Sache der Parlamente gewesen wären, immer stärker auf Bundesregierung und Ministerpräsidenten übergegangen sind.

Ein Problem der Pandemie war auch mangelnde Vorsorge.

Deshalb denke ich, wir brauchen auch eine Einrichtung, die kontinuierlich die notwendigen Ressourcen prüft, etwa die Bevorratung von Material und medizinischem Gerät. Sie sollte auch technische Entwicklungen im Digitalen im Blick haben und beitragen, dass mögliche Mängel oder Engpässe aufgelöst werden können. Die Datenschutzbeauftragten sollten prüfen, ob der Datenschutz in epidemischen und pandemischen Situationen angepasst werden kann und muss, um z.B. digitale Nachverfolgbarkeit in einem dynamischen Infektionsgeschehen zu erleichtern.

Herr Bundespräsident, haben Sie sich aus der Pandemie etwas bewahrt, was Sie vorher so nicht gepflegt haben?

Persönlich würde ich sagen: Ich bin heute viel digitaler. Und dennoch bin ich froh, dass das Digitale nur eine Ergänzung ist und persönliche Begegnungen, im Privaten wie Beruflichen, wieder Kern meines Alltags sind.

Und in Ihrem Amt?

Wir warten nicht mehr, bis die Leute sich bei uns melden, sondern gehen selber für längere Zeit raus, wir verlegen den Amtssitz in kleinere Orte, um die Temperatur in unserem Land zu fühlen. Seit dem Ende von Corona und einer Periode der Sprachlosigkeit ist es mir ein Anliegen, die Gesellschaft wieder mit sich selbst ins Gespräch zu bringen. Ich habe inzwischen 13 dieser "Ortszeiten" im ganzen Land gemacht. Und überall sind die Menschen sehr interessiert, ins Gespräch zu kommen. Man kommt sich nahe, übrigens im Osten wie im Westen.

Hätten Sie das in früheren Ämtern nicht auch von sich behauptet?

Als Abgeordneter und Spitzenpolitiker, zumal als Wahlkämpfer, ist man mehr auf Sendung. Man versucht, Menschen zu überzeugen von einer bestimmten Politik, von seiner Partei, von seiner Person. Heute bin ich vor allem auf der Suche nach just dem Austausch, der in der Pandemie zeitweise stillgelegt war. Dieser Austausch bleibt wichtig, denn das Virus hat zwar alle getroffen, aber nicht alle gleich. Eine Pandemie ist nicht der große Gleichmacher, im Gegenteil, die unterschiedlichen Lebensbedingungen treten umso deutlicher hervor. Auch darüber reden die Menschen.

Ihr Fazit?

Wenn wir die Pandemie aufarbeiten und die notwendigen Lehren daraus ziehen, könnte doch noch passieren, was ich mir so dringend wünsche: dass wir in dieser Pandemie nicht nur Schaden genommen haben, sondern auch an ihr gewachsen sind.

Die Fragen stellten: Nico Fried, Miriam Hollstein, Gregor Schmitz