"Es ist wichtig, hier zu sein"

Schwerpunktthema: Interview

27. Januar 2025

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem ZDF für das „heute journal“ im Anschluss an die Gedenkfeier in Auschwitz zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ein Interview gegeben.

Heute sind zusätzlich zu den Besuchergruppen aus aller Welt die Staatsoberhäupter dieser Welt hier, darunter als höchster Vertreter Deutschlands der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Herr Bundespräsident, guten Abend! Wie ist das, als Vertreter Deutschlands hier zu sein? Ist das der schwierigstvorstellbare Gang für ein deutsches Staatsoberhaupt?

Die schwierigste Rede, die ich gehalten habe, war, glaube ich, die vor fünf Jahren in Yad Vashem, dort vor einer großen Vielzahl von Überlebenden und an diesem Ort. Und ich weiß, dass es in Israel auch durchaus Vorbehalte, auch Proteste gab gegen meine Anwesenheit dort. Und was mich sehr berührt hat, war, nach der Veranstaltung und nach meiner Rede kam ein altes Ehepaar, Überlebende, von der Galerie herunter und hat gesagt: Herr Steinmeier, wir waren dagegen, dass Sie hier auftreten als Repräsentant des Tätervolkes, aber nachdem wir Ihre Rede gehört haben, sind wir sehr einverstanden damit. Insofern – natürlich ist das für einen deutschen Bundespräsidenten immer ein schwieriger Ort. Erst recht hier in Auschwitz, wo Deutsche den Abgrund der Unmenschlichkeit gegraben haben. Aber es ist wichtig, hier zu sein, und ich bin sehr dankbar, dass ich diesen Tag gemeinsam mit Überlebenden und gemeinsam mit so vielen Repräsentanten anderer Staaten gedenken kann.

Jetzt haben wir heute viele Überlebende hier gehört, die sagten: Ihr, die nächsten Generationen, Ihr müsst jetzt die Erinnerung wachhalten. Was haben Sie heute von den Menschen hier gehört über die Situation in Deutschland? Was haben die Ihnen gesagt, auch über mögliche Befürchtungen, die sie haben?

Zunächst mal, was die Aufgabe der Generation angeht: Wir haben heute auch den Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau gehört, der gesagt hat, wir sollten aufhören, uns darüber zu beklagen, dass es bald keine Überlebenden mehr gibt, die Zeugnis ablegen können, sondern das ist jetzt unsere Aufgabe. "Die haben ihren Job gemacht", hat er wortwörtlich gesagt, "jetzt kommt es auf uns an." Sie haben tausende Bücher publiziert, sie haben Zeugnis abgelegt, sie haben Reden hinterlassen, sie haben Filme machen lassen – wir müssen jetzt damit umgehen, es ist eine andere Situation. Natürlich ist all das, was wir zur Verfügung haben, nie so authentisch wie das, was Zeitzeugen selbst sagen können. Aber sie sagen uns alle, diejenigen auch, mit denen wir heute Nachmittag gesprochen haben: Nehmt die Feinde der Demokratie ernst!

Jetzt hat der reichste Mann der Welt, Elon Musk, bei der AfD gesagt, ich zitiere ihn, es gebe in Deutschland zu viel Fokus auf vergangene Schuld. Was sagen Sie dazu?

Ich will gar keinen belehren, ich will nur sagen: Wir haben unsere eigene Geschichte, und die Shoah ist Teil dieser Geschichte und damit auch Teil unserer Identität. Wir haben Glück gehabt mit der Nachkriegsdemokratie, weil Alliierte uns befreit haben vom Nationalsozialismus. Sie haben auch geholfen, die Amerikaner vor allen Dingen, eine Nachkriegsdemokratie aufzubauen – und die steht auf einem Gerüst, das die Lehren zieht aus der Erfahrung des Nationalsozialismus. Und in diese Lehre ist eben auch eingegangen das "Nie wieder!" aus Buchenwald. Und das "Nie wieder!" heißt eben, dass wir nicht nur Vorsorge treffen müssen, dass ähnliche Ereignisse nicht wieder eintreten, sondern heißt eben auch, dass wir jede Art von Relativierung der Geschichte, jede Art von Diskreditierung der Erinnerung vermeiden; und heißt natürlich aktuell, dass wir der Ausbreitung von Antisemitismus in unserem Land widersprechen. Und das ist notwendig.

Nie wieder Ausschwitz, Sie haben es angesprochen, das zählt zum Selbstverständnis, kann man sagen, der Bundesrepublik Deutschland. Aber glauben Sie, das haben wirklich alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes verinnerlicht?

Naja, die jüngsten Studien zeigen, dass es jedenfalls in den jüngeren Generationen eine stark sinkende Sensibilität gibt. Aber Sie waren jetzt auch heute hier in Auschwitz unterwegs und haben viele Jugendgruppen gesehen; es gibt Unternehmen wie Volkswagen, die ihre jugendlichen Auszubildenden hierher schicken, hier Projekte machen lassen. Es gibt viel Anstrengung, dass diese Erfahrung, die wir haben und die ein Auftrag aus der Geschichte ist, weitergetragen wird an die jüngere Generation. Aber es ist überhaupt gar keine Selbstverständlichkeit. Wenn Sie mir nur eins erlauben zu sagen, was mir sehr Sorge macht ist in jüngster Zeit der Angriff, den es auch auf Gedenkstätten gibt. Der Direktor einer Gedenkstätte in Thüringen hat gerade berichtet, dass sie inzwischen zehn Prozent ihrer Mittel, die sie haben, brauchen, um für Sicherheit der Gedenkstätte zu sorgen wegen der Schmierereien und wegen der Hakenkreuze, die auf den Ausstellungsständern angebracht werden. Das ist unerträglich! Und da müssen wir Vorsorge treffen, dass sich nicht auch dort, gerade an den Gedenkstätten Antisemitismus zeigt und ausbreitet.

Würden Sie so weit gehen zu sagen, es sollte vielleicht eine Pflicht geben, Gedenkstätten zu besuchen? Manche Menschen schlagen auch vor, es sollte eine Pflicht geben für alle Schulklassen, hier mal in Auschwitz gewesen zu sein.

Ich bin jedenfalls dafür, dass alle Lehrer, die die Möglichkeit dazu haben, ihre Schüler dazu anhalten und solche Reisen vorbereiten. Ich weiß, dass hier sehr, sehr professionell – gerade in Auschwitz-Birkenau – gearbeitet wird. Und wir wissen beide, dass jeder, der hier war, verändert zurückgeht.

Herr Bundespräsident, vielen Dank!

Die Fragen stellte: Christian Sievers