Herr Bundespräsident, Chemnitz ist europäische Kulturhauptstadt. Sie kommen gerade von der Eröffnungsfeier, sind seit dem Nachmittag in der Stadt. Wie erleben Sie Chemnitz?
Ja, das konnte heute gar nicht schiefgehen. Wir sind ungefähr zwei Stunden von Berlin aus durch den Nebel gefahren. Je näher wir Chemnitz kamen, umso besser wurde das Wetter. Kurz vor Chemnitz riss der Himmel auf, blauer Himmel. Und als wir in die Stadt kamen, freundliche Menschen, viele schon auf dem Weg zum Hauptveranstaltungsplatz. Und es war eine tolle, tolle Eröffnungsfeier!
"C the Unseen" ist das Motto, das Unentdeckte kennenlernen. Gibt es etwas, was Sie bei Ihrem Tag heute in Chemnitz kennengelernt haben, was Sie vorher noch nicht wussten über Chemnitz?
Es gibt ganz viel, was ich nicht wusste über Chemnitz. Und insofern ist das Motto, was man hier benutzt, "C the Unseen", für die Besucher, die von auswärts kommen, ganz besonders wichtig. Es gibt hier viele verborgene Schätze zu entdecken, die in Hunderten von Projekten dargestellt werden. Aber es ist auch für die Bürger und Bürgerinnen aus Chemnitz ganz wichtig, sich ein eigenes Selbstverständnis über die Stadt zu besorgen. Und die Bürgerinnen und Bürger sind ja nicht bloß Zuschauer bei dieser Kulturhauptstadt Chemnitz Europa 2025, sondern sie sind ja auch mit einbezogen. Sie werden zum Mitmachen animiert, und das über Kultur. Und was gibt es Verbindenderes als Theater, Musik, Tanz, Gespräche, Literatur, Kunst?
Gibt es da etwas Konkretes, was Sie heute über die Stadt neu kennengelernt haben, was Sie vorher nicht wussten, was Sie auch konkret benennen können?
Was ich nicht wusste zum Beispiel ist, dass die Garagenkultur eine solche Vergangenheit hat. Und ich finde das nicht nur mutig, sondern ich finde das sehr inspirierend, dass 3.000 Garagen aus Großanlagen benutzt werden, um sie ganz anders zu zeigen – nicht zu zeigen als Ort, an dem man sein Auto platziert, sondern sie zu zeigen mit den Menschen, die dort gewohnt und gearbeitet haben, die sich am Wochenende dort getroffen haben; oder ein Teil der Garagen, die zu Ateliers umgebaut worden sind. Eins der vielen, vielen tollen Projekte.
Schauen wir kurz zurück in die Vergangenheit. Chemnitz galt ja mal im 18. und auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts als sächsisches Manchester, musste sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg und auch nach der Wende wieder neu erfinden. Was bedeutet jetzt dieser Titel Europäische Kulturhauptstadt für Chemnitz vor dem Hintergrund dieser sehr bewegten Geschichte?
Drei Dinge: Erstens ist es eine Ehre für Chemnitz und unser Land. Zweitens eine Chance für diese Stadt. Und drittens auch eine Herausforderung für die Organisatoren der Europäischen Kulturhauptstadt. Denn es ist leicht, die Kulturhauptstadt dort zu etablieren, wo es keine Brüche gegeben hat, wo es keine industriepolitische Vergangenheit gegeben hat, wo keine Kriegszerstörung stattgefunden hat, wo Gründerzeitarchitektur sich erhalten hat. Chemnitz ist ganz anders, hat eine industrielle Vergangenheit. Es war das Manchester Sachsens, wie man es genannt hat, wegen der vielen Schlote und Kamine, fast wie im englischen Manchester. Und das spürt man natürlich in dieser Stadt. Diese Stadt ist eine Arbeiterstadt. Wenn es Kultur gab, diente sie nicht dazu, die schönen Roben abends zu tragen und auszuführen, sondern diese Kultur war Arbeiterkultur. Und sie hat sich entwickelt. Wir haben heute Nachmittag eine wunderbare, leichte Eröffnungsveranstaltung im Stadttheater gesehen. Und ich glaube, das hat viele, viele Menschen, die dabei sein durften, sehr, sehr neugierig gemacht auf dieses Jahr, was vor uns liegt, was vor Chemnitz liegt.
Kommen wir noch kurz auf die aktuelle gesellschaftliche Lage bundesweit zu sprechen, die sich ja auch hier in Chemnitz zeigt. Wir haben hier heute Nachmittag auch am Rande der Feierlichkeiten rechtsextreme Proteste von den "Freien Sachsen" erlebt. Wie sollten wir als Gesellschaft mit solchen Strömungen umgehen?
Ich erinnere mich gut an August 2018 und war wenige Wochen danach im November hier in Chemnitz, weiß, wie verstört die Stadt war, wie sie noch unter Schock stand von den Ereignissen. Seitdem hat sich viel getan, aber es bleibt viel zu tun. Und während dieser Zeit der "Kulturhauptstadt Europas 2025" kann Chemnitz zeigen, wie man auch Menschen mit Kultur wieder zusammenführt, wie das Gespräch zwischen denjenigen wieder beginnt, die das Gespräch miteinander verloren haben. Und da kann Kultur eine ganz große Rolle spielen und zusammenführen.
Wie kann das konkret gelingen, dass wir als Gesellschaft wieder, wie Sie es gerade auch gesagt haben, mehr in Dialog miteinander treten können?
Die Menschen hier in Chemnitz sind eingeladen, an den Projekten mitzuwirken. Und in den vielen – 1.000 oder 1.500 – Projekten, die in dem Programmheft aufgeführt sind, gibt es ja Einladungen an Menschen ganz unterschiedlichen Lebensalters, ganz unterschiedlichen Herkommens, und die in diesen Projekten zusammenzubringen, ins Gespräch zu bringen, das ist nicht nur die Aufgabe, sondern ich bin nach dem, was ich hier heute erlebt habe, sehr überzeugt davon, dass das gelingen wird.
Herr Bundespräsident, haben Sie ganz herzlichen Dank.
Die Fragen stellte: Manuel Mehlhorn