"Wir sollten jetzt nicht huddeln"

Schwerpunktthema: Interview

14. Dezember 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat während seiner Reise nach Nigeria, Südafrika und Lesotho dem SWR-Hörfunk ein Interview gegeben. Das Gespräch mit ARD-Hauptstadtkorrespondentin Evi Seibert wurde am 14. Dezember als "Interview der Woche" im Rahmen von "SWR aktuell" gesendet.

Bundespräsident Steinmeier im Interview mit ARD-Hauptstadtkorrespondentin EVi Seibert

Das Interview der Woche, am Mikrofon ist Evi Seibert. Es ist kurz vor Weihnachten und um die 30 Grad. Der Bundespräsident ist in Afrika unterwegs, in Nigeria, im Königreich Lesotho, und wir führen dieses Interview gerade in Südafrika. Guten Tag, Herr Steinmeier.

Guten Tag, ich grüße Sie.

Das ist mal eine etwas andere Weihnachtsstimmung. Überall, wo wir sind, sehen wir neben den Palmen auch Weihnachtsbäume.

Das, in der Tat, hat mich überrascht, dass die Weihnachtsdekoration nicht nur hier in Südafrika – da überrascht es mich weniger –, aber auch in Nigeria sehr sichtbar war. Also insofern können schon etwas heimatliche Gefühle auftreten, wenngleich die Hoffnung auf Schnee hier ergebnislos verlaufen wird.

In der Heimat, auf der politischen Bühne, ist in diesen Wochen vor Weihnachten sowieso eine Menge anders als sonst. Am Montag stellt der Kanzler die Vertrauensfrage, und der Bundespräsident spielt eine ganz besondere Rolle in der Verfassung. Dazu kommen wir später. Wir bleiben erst mal in Afrika. Das Land hat seit diesem Monat den Vorsitz der G20-Staaten, also der großen Industriestaaten der Welt, und fordert seinen Teil an Mitsprache in der Welt in der UNO, im Sicherheitsrat, in anderen Organisationen, ähnlich wie die anderen Player im globalen Süden. Nehmen Sie da auch ein verändertes Selbstbewusstsein wahr auf Ihren Reisen jetzt, auch in Nigeria?

Natürlich ein verändertes Selbstbewusstsein der Staaten des globalen Südens, aber auch inzwischen mehr Einsicht bei den Staaten, wenn man so will, des globalen Nordens. Dass es G20 gibt, ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern wir haben ja jahrelang, jahrzehntelang in anderen, sehr viel kleineren Formaten gearbeitet, in denen afrikanische Staaten überhaupt nicht vorkamen, südamerikanische Staaten auch nicht. Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre, die berücksichtigt, dass die Staaten des globalen Südens selbstbewusster, auch einflussreicher geworden sind, und insofern ist es kein Zufall, dass Brasilien den letzten G20-Vorsitz hatte und jetzt am 1. Dezember übergeben hat an Südafrika. Das ist von riesiger Bedeutung, nicht nur für das Land selbst, sondern für den ganzen afrikanischen Kontinent. Denn immerhin ist es das erste afrikanische Land, das überhaupt den Vorsitz in G20 übernimmt. Wir verfolgen das mit Interesse – ein Grund, weshalb ich hier bin. Ich möchte gerne wissen, was die Themen sind im Detail, die Südafrika in seiner Präsidentschaft besprechen wird. Es werden nicht sämtlich Themen sein, bei denen wir von vornherein einer Meinung sind. Aber es kommt eben darauf an, dass wir erstens Interesse zeigen, zweitens wissen, über welche Themen wir mit Südafrika in nächster Zeit werden reden müssen, und drittens, ja, ernst nehmen, dass Südafrika eine wahrnehmbare Stimme des globalen Südens sein will.

Gleichzeitig zum G20-Vorsitz ist Südafrika ja auch ein BRICS-Staat, also in einem Bündnis, in dem der – in Anführungszeichen – "alte" Westen keinen Zutritt hat, dafür China und auch Russland um die Führung buhlen und mittlerweile auch der Iran Mitglied ist. Suchen sich eigentlich diese großen Player des globalen Südens, mit denen Sie jetzt ja auch zu tun haben, Ihre Partner so, wie es gerade passt?

Jedenfalls suchen sie die Zukunft ihrer gesellschaftlichen und politischen Orientierung nicht mehr nur im Westen. Ich glaube, wir würden einen Fehler machen, wenn wir BRICS und BRICS plus für alle Staaten als gleichbedeutend sehen für eine völlige Abkehr vom Westen. Hier in Südafrika sehen wir es doch ganz besonders: Hier ist das Bedürfnis, die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union, auch mit Deutschland, auch mit den USA zu pflegen, besonders groß. Und Südafrika gehört gleichzeitig BRICS an, dort zu den Führungskräften. Ich glaube, wir müssen uns bei uns in Nordeuropa, auch in Deutschland, auch klar denken: Wenn wir bessere und engere Beziehungen zu den afrikanischen Staaten haben wollen, dann kann die Zugehörigkeit von BRICS nicht gleichzeitig ein Ausschlussgrund sein, sondern wir müssen dann möglicherweise in einen Dialog eintreten, in dem wir unsere Position besser verständlich machen und auch sagen, wo wir möglicherweise nicht mitgehen können. Das betrifft das Verhältnis zu Russland, und das betrifft manche Bewertungen der BRICS-Staaten zum russischen Krieg gegen die Ukraine. Wir werden schwierige Diskussionen zu führen haben, aber meine Überzeugung ist: Wir müssen sie führen.

Afrika, auch als Kontinent der Rohstoffe, wird ja sowohl von China als auch von Russland umworben. Die machen hier Geschäfte – viele sagen eben: ohne mit dem erhobenen Zeigefinger zu kommen. China überschwemmt auf der anderen Seite aber auch hier jetzt die Märkte, und einige afrikanische Staaten denken über Zölle nach. Sie sind auch nicht immer mit der Qualität der Produkte aus China zufrieden. Hat Deutschland eigentlich noch die Chance, hier mitzuspielen oder ist das Rennen schon gelaufen?

In vielen der Staaten habe ich bei den Gesprächspartnern doch auch durchgehört, dass mittlerweile ein selbstkritisches Nachdenken darüber in Gang gekommen ist, ob es nur Vorteile bringt, wenn man sich langfristig nur an China bindet. Ich habe bei vielen Gesprächspartnern festgestellt: Sie suchen eigentlich die Balance bei wirtschaftlichen Partnern in Asien, in Europa und auf der anderen Seite des Atlantiks. Das bedeutet aber auch, dass wir uns stärker präsentieren müssen. Will sagen, bei uns herrscht so manchmal die etwas beleidigte Haltung, mit dem erhobenen Zeigefinger zu sagen: Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, wenn ihr euch an China bindet. Wir haben die Möglichkeit, auf den afrikanischen Märkten in gleicher Weise präsent zu sein. Das sollten wir, das sollten deutsche Unternehmen tun. Deshalb bin ich ganz froh, dass mich eine deutsche Wirtschaftsdelegation hierher nach Nigeria, nach Südafrika, nach Lesotho begleitet. Also, will sagen: Wir müssen auch den Mut haben, Präsenz zu zeigen mit unseren wirtschaftlichen Angeboten auf dem afrikanischen Markt, und wir müssen politisch präsent sein. Das sind jetzt in den anderthalb Amtszeiten, die ich hinter mir habe als Bundespräsident, insgesamt neun Reisen mit etwa 15 afrikanischen Ländern gewesen. Wir wollen zeigen: Wir sind interessiert an euch, wir wollen mit euch arbeiten, nicht nur wirtschaftlich, aber auch wirtschaftlich.

Wenn Sie nach Deutschland zurückkehren, dann passiert etwas in der Bundesrepublik, was nicht sehr häufig passiert, zuletzt vor fast 20 Jahren: Der Kanzler stellt die Vertrauensfrage im Bundestag und wird sie aller Voraussicht nach verlieren. Und dann wären Sie als Bundespräsident laut Verfassung dran und könnten den Bundestag auflösen, damit, wie im Moment geplant, im Februar Neuwahlen stattfinden. Sie haben für diese Auflösung des Parlaments nach einer verlorenen Vertrauensfrage 21 Tage Zeit. Also bis Januar. Haben Sie schon ein Datum im Auge?

Also, ich finde, zunächst einmal sollten wir Respekt vor dem Deutschen Bundestag und vor der Verfassung zeigen. Noch hat der Bundestag nicht entschieden. Wir wissen, dass er in wenigen Tagen entscheiden wird. Und wir haben eine Verfassung, die uns Gott sei Dank mit klugen Hinweisen den Weg weist, wie man eine solche Situation nach einer Vertrauensfrage, in der der Kanzler nicht von der Mehrheit des Bundestages Vertrauen zugesprochen bekommt, umgeht. Es sind weise Entscheidungen, die 1949 getroffen worden sind, die uns getragen haben über Krisen, die es auch in der alten Bundesrepublik schon gegeben hat. Wir haben 1966 eine Situation gehabt, in der die FDP die Regierung verlassen hat und damals die SPD in die Regierung eingetreten ist. 1972 eine Vertrauensfrage durch den damaligen Bundeskanzler. Wir haben ein Misstrauensvotum 1982 gehabt, gefolgt von einer Vertrauensfrage von Bundeskanzler Kohl, und erneut eine Vertrauensfrage 2005 durch Bundeskanzler Schröder. Es sind gleichwohl Ausnahmesituationen geblieben. Und deshalb verstehe ich, dass so ein bisschen Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung entstanden ist. Die Aufgabe des Bundespräsidenten ist nicht nur, die Verfassung zu vollziehen. Dass er das tut, der Bundespräsident, daran wird kein Zweifel bestehen. Aber ich glaube, es ist auch die Aufgabe des Bundespräsidenten, in dieser Situation ein bisschen Beruhigung und Entschärfung der gewachsenen Konflikte, der Konflikte der letzten Monate zu betreiben. Will sagen: Das Ende einer Koalition ist außergewöhnlich, aber es ist nicht das Ende der Welt. Wir haben funktionierende Institutionen, und wenn wir zur Neuwahl kommen, dann werden der Bundestag und die Bundesregierung handlungsfähig sein, bis ein neuer Bundestag, ein neuer Bundeskanzler gewählt ist. Und insofern besteht jetzt eigentlich mit Blick darauf, dass alle Regeln zur Verfügung stehen, wie wir in den nächsten Tagen und Wochen mit der Situation der Vertrauensfrage, dem Ergebnis der Vertrauensfrage umzugehen haben, besteht eigentlich keine Notwendigkeit, verunsichert zu sein. Wenn der Bundestag dem Bundeskanzler nicht das Vertrauen ausspricht, dann hat der Bundespräsident die Möglichkeit: Er kann den Bundestag auflösen. Bevor die Entscheidung darüber zu fällen ist, werde ich ganz sicher – das ist die gute Staatspraxis in Deutschland, da eine Auflösung des Bundestages nicht nur einige wenige, sondern alle Abgeordneten betrifft – werde ich sicher die Gespräche mit den im Bundestag vertretenen Parteien und Gruppierungen aufnehmen und danach entscheiden.

Das ist also im Prinzip Ihre Vorbereitung auf diesen Akt. Aber wie bereiten Sie sich mit den Parteien darauf vor? Also, was ist Inhalt dieser Gespräche mit allen Parteien?

Die Staatspraxis, von der ich gerade gesprochen habe, bringt zum Ausdruck, dass das Ergebnis der Vertrauensfrage das eine ist, dass der Bundespräsident aber auch festzustellen hat, ob sich im Bundestag möglicherweise andere Mehrheiten für andere Regierungen finden lassen, die Stabilität versprechen. Ich werde nicht überrascht sein, wenn sich diese Möglichkeit in den Gesprächen mit den Fraktionsvorsitzenden und Vorsitzenden der Gruppierungen nicht zeigt. Aber die Gespräche sind abzuwarten.

Sie sind ja qua Amt Wahrer stabiler Verhältnisse. Hat Sie das ständige instabile Wackeln dieser Koalition irritiert? Mal völlig abgesehen von politischen Inhalten, aber es vermittelte den Bürgern ja schon so ein bisschen das Gefühl, dass da kein fester Boden unter einer Regierungskoalition ist.

Ja, das ist keine persönliche Geschmacksfrage. Das will ich ausdrücklich sagen. Sondern es war wirklich ein Problem, dass Politik nur noch als Streit wahrgenommen worden ist. Und das goutieren die Bürgerinnen und Bürger nicht. Sie verstehen, dass man auch in einer Koalition nicht von vornherein zwischen allen Parteien einer Meinung ist. Aber dass dieser Streit immer wieder vor der Öffentlichkeit ausgetragen wird, dass Entscheidungen, die schon feststehen, wieder in Frage gestellt werden, alles das, glaube ich, hat zur Verunsicherung, von der ich eben gesprochen habe, beigetragen. Wir sind jetzt in einer anderen Phase. Und deshalb müssen wir jetzt sehen, wie die Entscheidung über die Vertrauensfrage ausfällt, und werden uns dann den Regeln, die die Verfassung vorgibt, widmen, mit Ruhe und mit Sorgfalt handeln. Denn ich glaube, auch darauf haben die Bürger einen Anspruch. Wir sollten jetzt nicht huddeln. Die Hektik der Tagespolitik und die Schlagzahl der Medien gibt jetzt nicht das weitere Verfahren vor, sondern die Verfassung und ihre Regeln.

In Ihrer Amtszeit mussten Sie ja gleich zu Beginn schon als Manager von Instabilität auftreten, als damals die FDP aus dem Jamaika-Koalitionsgespräch mit Angela Merkel ausgestiegen ist und die SPD nicht schon wieder mit der CDU eine große Koalition bilden wollte. Die damalige Kanzlerin Merkel dachte da auch über Neuwahlen nach. Und damals haben Sie abgelehnt und auf die Verantwortung der Parteien hingewiesen. Was war damals der Grund? Warum haben Sie abgelehnt damals, Neuwahlen herbeizuführen?

Ja, ich meine, es gab auch damals ein Missverständnis bei vielen Akteuren in der Politik und, wenn ich das so sagen darf, vielleicht auch bei vielen Journalistinnen und Journalisten, so als hätten wir eine freie Entscheidung darüber, wann wir Neuwahlen herbeiführen oder nicht. Ich habe vorhin gesagt: Die Vertrauensfrage, die Auflösung des Bundestages ist ein Ausnahmefall; und die Verfassung wollte das auch so. Deshalb hat Vorrang immer die Frage: Gibt es Möglichkeiten, Verhältnisse zu schaffen, in denen eine stabile Regierung ihre Handlungsfähigkeit tagtäglich unter Beweis stellt? Damals, 2017, hat sich gezeigt, es gab diese Möglichkeit. Ich will nicht sagen, dass das einfach war, aber am Ende gab es doch Einsicht bei den entscheidenden Beteiligten, die in den Gesprächen, die ich geführt habe, dabei waren. Insofern glaube ich, war es damals eine richtige Entscheidung. Ich kann nicht ausschließen, dass wir in ähnlich schwierige Entscheidungen auch wieder kommen, wenn ein Bundestag aufgelöst werden sollte und Neuwahlen hinter uns liegen.

Diesmal, Sie haben es gerade erwähnt, sind ja noch viel mehr Parteien am Start, und es könnte eine sehr schwierige Regierungsbildung werden. Was sagen Sie: Wir haben ja nicht alle Zeit der Welt in diesen Krisen. Sollte es eine zeitliche Begrenzung für Koalitionsverhandlungen geben?

Die Verfassungswirklichkeit in Deutschland hat diese Notwendigkeit nicht aufgerufen in den letzten Jahrzehnten. Die Akteure in den Parteien, die sich zur Wahl gestellt haben, wussten um ihre Verantwortung und haben innerhalb von vertretbaren Zeiträumen auch den Weg zu einer Koalition gefunden. Ich hoffe, das wird auch in Zukunft so sein. Noch mal: Für den Fall, dass dem Kanzler nicht das notwendige Vertrauen ausgesprochen wird mit der Mehrheit des Bundestages, für den Fall, dass der Bundestag aufgelöst wird und Neuwahlen stattfinden, hoffe ich, dass wir der Tradition früherer Wahlen und Regierungsbildungen folgen und in vertretbaren Zeiträumen eine stabile Regierung zustande bekommen.

Der Streit in der Regierung, aber auch die Tatsache, dass so viele staatliche Aufgaben tatsächlich nicht ordentlich gemacht werden, hat die Bürger vom Staat entfremdet. Also, gängiger Tenor ist, wenn man sich umhört: Nichts funktioniert, die kriegen das nicht auf die Reihe. Das mag ein sehr deutsches Gejammere sein, aber unser Land ist ja tatsächlich in Sachen Infrastruktur und Wirtschaft auf keinem guten Stand. Was würden Sie sagen, was ist die dringendste Aufgabe, wenn wir jetzt quasi einen Neustart hinlegen würden mit einer neuen Regierung, was ist die dringendste Aufgabe der Politik, um das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen?

Ich glaube, dass wir innerhalb der Regierung Verhältnisse herstellen, in denen untereinander – mit großer Neigung zu sachlichen Entscheidungen – nicht öffentlich pausenlos gestritten wird, sondern Entscheidungen tatsächlich gut vorbereitet sind und dann auch getragen werden von den Verantwortlichen. Zweitens, glaube ich, besteht ein großes Bedürfnis in der Bevölkerung danach, dass man sich der Frage von Staatsreform und Entbürokratisierung mit großer Ernsthaftigkeit widmet. Drittens: Infrastruktur ist ein Thema, das ich auch überall höre, wenn ich im Land unterwegs bin. Sie wissen, ich verlege meinen Amtssitz ganz regelmäßig immer für drei Tage in kleinere und mittlere Städte im Land, und in der Tat, das Thema Bahn kommt mir überall entgegen. Nun wissen die meisten, dass gerade in Zeiten, in denen Investitionsmittel zur Verfügung standen, in denen viele Baustellen bei der Bahn und auf den Schienenwegen eröffnet sind, die Verspätungen eher zunehmen, aber ich hoffe doch, dass wir in absehbarer Zeit in eine Situation kommen, in der Baustellen auch wieder beendet und geschlossen werden. Und unabhängig von den Problemen, die wir bei der Bahn haben, werden wir zeigen müssen, dass wir in der Lage sind, unsere Infrastruktur wieder herzustellen. Dafür werden Investitionsmittel einzusetzen sein, aber das wissen all diejenigen, die jetzt in die Verantwortung gehen, und brauchen dazu von mir keine Ermahnung.

Zuerst kommt jetzt aber der Wahlkampf; der ist ja auch schon angelaufen und nimmt Fahrt auf – man merkt das schon, der Ton wird rauer. Was wünschen Sie sich als Bundespräsident von diesem Wahlkampf?

Das sind einerseits Wünsche an die wahlkämpfenden Parteien und ihre Akteure und andererseits vielleicht auch ein Wunsch an die Wählerinnen und Wähler. Von den Wahlkämpfern wünsche ich mir, dass sie die Positionen, die Parteien vertreten zu den unterschiedlichen Fragen – sei es das Thema Infrastruktur, sei es das Thema Steuern, sei es das Thema Gesellschaftspolitik, sei es die Zukunft der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik –, dass sie ihre Unterschiede deutlich machen, dass sie aber einen Stil pflegen, bei dem sie berücksichtigen, dass man möglicherweise mit dem politischen Gegner, der im Wahlkampf bekämpft wird, nach einer Neuwahl und nach einer Regierungsbildung wieder zusammenarbeiten muss. Das verlangt, dass man den Ton mindestens kontrolliert und einen politischen Stil pflegt, der dieser Republik und ihrer Demokratie angemessen ist, nämlich Kooperationsbereitschaft und Fähigkeit zur Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten. Und vom Wähler wünsche ich mir, dass er manche Haltung, die ich auch feststelle, wenn ich im Land unterwegs bin, manche Unlust, an Wahlen überhaupt teilzunehmen, dass solche Wählerinnen und Wähler vielleicht die Weihnachtsfeiertage nutzen, um diese Haltung noch einmal zu überdenken. Denn wir sind in einem besonderen Jahr: 35 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall; wir erinnern uns, dass Tausende auf die Straßen gegangen sind, um für freie Wahlen zu kämpfen, die wir in ganz Deutschland haben, und das sollten wir nicht ohne Weiteres wegwerfen oder für gering achten. Und jeder sollte seine Stimme so abgeben, als sei seine Stimme die entscheidende, die für die Zusammensetzung einer nächsten Bundesregierung relevant ist.

Jetzt sind wir ja demnächst Ende Dezember schon, und man blickt auf das Jahr zurück, und ich würde gerne mit Ihnen jeweils nur einen Satz kurzen Rückblick auf große Ereignisse in diesem Jahr werfen. Olympia in Paris.

Bei der Eröffnung hat es geregnet. Ich war bei den Paralympics, es war wunderbares Wetter und eine ebenso schöne Veranstaltung.

Donald Trump wird wiedergewählt.

Er ist wiedergewählt worden mit sehr viel größerem Abstand, als die Meinungsumfragen das vorhergesagt haben. Und deshalb sollte uns das vielleicht auch vorsichtig machen im Umgang mit Meinungsumfragen in der Politik.

Die NATO wird 75 Jahre alt.

Ein unterschätztes Datum in Deutschland. Ich werde dieses Datum auch nutzen, um daran zu erinnern, dass uns diese NATO Sicherheit und Schutz in 75 Jahren gewährt hat, seit unserem Beitritt jedenfalls zur NATO.

Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt.

Das Grundgesetz ist 75 Jahre alt geworden. Und ich erinnere mich an eine große Veranstaltung vor dem Reichstag, bei der viele vorher Skepsis hatten, ob die Bürgerinnen und Bürger das eigentlich interessiert, ob sie daran teilnehmen. Und es war fantastisch, ein Fest über viele Tage, ein Fest der Demokratie, was wir miteinander gefeiert haben.

Können Sie aus dem Stegreif sagen, was Ihr Lieblingsartikel ist?

Der Artikel 1, der über allem steht.

"Ampel-Aus" wird das Wort des Jahres 2024.

Ja, das ist entschieden. Das kann ich nicht verändern, sondern das ist ja eine Entscheidung, die offensichtlich nach dem Sprachgebrauch der Bürgerinnen und Bürger getroffen worden ist. Und offensichtlich hat man sich in der Gesellschaft über das Ampel-Aus intensiv ausgetauscht. Deshalb ist es das Wort des Jahres.

Angela Merkel schreibt das wohl erfolgreichste Buch des Jahres.

Ja, ich habe ein bisschen hineingeschaut. Natürlich insbesondere in die Passagen, in denen wir zusammen Verantwortung getragen haben. Für mich waren das immerhin fast acht Jahre. Und ich finde, sie hat die Dinge sehr nüchtern dargestellt, und ich verstehe das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Buch.

Fühlen Sie sich angemessen beobachtet von ihr?

Ich fühle mich freundlich behandelt, ja.

Cannabis wird legalisiert.

Ja, eine streitige Entscheidung, die ich respektiere, aber nicht unbedingt für notwendig halte.

2024 wird das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Das Klima erhitzt sich weiter.

Das ist so. Das wird sich durch Entscheidungen, die wir jetzt treffen, auch nicht verhindern lassen. Umso wichtiger ist, dass wir den Pfad nicht aus den Augen verlieren, mit dem wir versuchen, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Und bei dem wir uns wünschen müssen, dass die nächste Weltklimakonferenz Entscheidungen trifft, die uns diesem Ziel näher führen.

Der DAX knackt 2024 die Rekordmarke von 20.000 Punkten.

Ich nehme das zur Kenntnis. Und wir alle wissen, dass die Bewegungen an den Aktienmärkten nicht immer etwas über den Zustand der Wirtschaft aussagen. Wir alle wissen, dass in der Wirtschaft einiges zu tun ist, um uns auf den erfolgreichen Wachstumspfad zurückzuführen.

Fußball-EM in Deutschland.

Ich finde und sage das nicht zum ersten Mal: Wir müssen wieder das Selbstbewusstsein haben, sportliche Großveranstaltungen nach Deutschland zu holen. Nicht nur Fußball-Europameisterschaften, auch Fußball-Weltmeisterschaften und Olympische Spiele. Ich bin sehr dafür.

Assad wird gestürzt.

Ich habe das nicht vorausgesehen, nicht in dieser Geschwindigkeit, und habe nicht vorausgesehen, dass die neuen Machthaber praktisch ohne militärische Gegenwehr des syrischen Militärs nach Damaskus durchmarschieren konnten. Aber wir wissen natürlich auch: Es ist noch nicht das Ende der Entwicklung. Wir hören im Augenblick positive Signale. Die Freilassung der politischen Gefangenen gehört dazu, auch das Angebot an die Opposition, in die Verantwortung einbezogen zu werden. Wir hören, dass die neue Führung auf Kleidervorschriften für Frauen verzichten wird. Ob das in dieser bunt gemischten Truppe am Ende von allen akzeptiert wird, das bleibt abzuwarten.

Weihnachten bei Familie Steinmeier.

Meine Mutter ist 95, wir werden Heiligabend bei ihr sein, und ihrer schlesischen Tradition folgend, wird es gebratenes Kassler mit Sauerkraut geben.

Vielen Dank, Herr Bundespräsident.

Die Fragen stellte: Evi Seibert