Herr Bundespräsident, mit Blick auf Ihre 13. "Ortszeit" haben Sie Nordhorn als "Mutmacher-Stadt" bezeichnet. Warum?
Ich bin gekommen mit Erinnerungen an eine Zeit, in der es Nordhorn nicht gut ging, in der Anlass für Sorgen bestand, insbesondere bei den vielen Beschäftigten in der Textilindustrie, die nach und nach an Bedeutung verlor und von vielen Konkursen und Insolvenzen betroffen war. Vor 30 Jahren, als ich hier war, gab es große Skepsis in der Bevölkerung, ob sich Nordhorn und die Region von dieser negativen wirtschaftlichen Entwicklung noch einmal erholen könnten. Der Beweis ist geführt, dass das gelingen kann. Und deshalb sage ich in der Tat: Nordhorn ist eine Mutmacher-Stadt. Hier hat man bewiesen, wie man vor dem Hintergrund des wirklich gravierenden Strukturwandels verstanden hat, aus großen Risiken Chancen zu machen und aus den Chancen Erfolge. Das habe ich in dieser Form anderswo nicht gesehen. Und deshalb sage ich: Ja, Nordhorn ist eine Mutmacher-Stadt.
Und damit auch ein Vorbild?
Dieser Aufschwung macht nicht nur den Menschen hier in Nordhorn und der Region Mut, sondern hoffentlich auch vielen anderen, die gegenwärtig die bessere Zukunft noch nicht vor Augen haben. Dass es keinen Grund gibt, die Hoffnung zu verlieren, dass es keinen Grund gibt zur Resignation – das haben die Nordhorner gezeigt. Was sie geschafft haben, kann durchaus als Vorbild dienen, was wir mit der Hilfe von Journalisten und Medien durchaus über die Grenzen von Nordhorn hinaus transportieren wollen.
Da Sie die Medien erwähnen: Wie schätzen Sie die Bedeutung einer gut funktionierenden Struktur gerade im Lokal- und Regionaljournalismus ein?
Freie Medien sind nicht "nice to have" in einer Demokratie, sondern sie sind eine Säule, ein Grundpfeiler jeder liberalen Demokratie. Deshalb müssen wir freie Medien prägen, und insbesondere setze ich darauf, dass nach den Schrumpfungsprozessen der vergangenen Jahre starke lokale, regionale und bundesweite Medien erhalten bleiben; Qualitätsmedien wohlgemerkt, die ihre Bedeutung und Verantwortung für die Demokratie haben. Denn in einer Zeit, in der sich mehr und mehr Menschen aus den sozialen Medien informieren und teilnehmen an der Empörungslogik, die durch die Algorithmen gesteuert wird, ist es umso wichtiger, dass wir Medien haben und behalten, die helfen bei der Einordnung in einer unübersichtlich gewordenen Welt. Und die vor allen Dingen Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können.
Sie waren drei Tage in Nordhorn unterwegs. Wo drückt die Leute der Schuh?
Zunächst mal bin ich selbst begeistert über das Rieseninteresse, was uns hier entgegengeschlagen ist. Ich sage das auch deshalb, weil das nicht in den anderen zwölf "Ortszeiten" überall in der gleichen Weise der Fall war und es für mich auch eine Bestätigung für die "Ortszeit" selbst ist. Trotz manchem Unwohlsein, mancher Skepsis und sicherlich auch stattfindendem Vertrauensverlust gegenüber der Politik wollen die Menschen nach wie vor in Kontakt zu ihr treten, um ihre Fragen zu stellen. Und das habe ich hier auch erlebt.
Wie es schien, waren viele vor allem auf ein Selfie mit Ihnen aus.
Das täuscht. Manchmal ist das Handyfoto sozusagen die Hürde, über die Menschen hinwegkommen, um dann ins Gespräch zu kommen. Das haben Sie ja auch auf dem Wochenmarkt gesehen. Der Kontakt funktioniert eigentlich ganz wunderbar, wenn man sich selbst nicht sofort abwendet, sondern sich ein paar Minuten Zeit nimmt. Für mich waren viele Themen spürbar, die die Menschen in Nordhorn umtreiben, etwa die augenblicklichen Grenzkontrollen und die Hindernisse, die in einem Raum entstehen, in dem die Grenzen ja schon gar nicht mehr spürbar gewesen sind. Andere, wie der Kinderschutzbund, haben nach Unterstützung gefragt. Und es gab eine Präsenz derjenigen, die immer noch Sorgen wegen der Lärmbelästigung durch Nordhorn-Range haben, insbesondere, wenn eine nächste Generation von Kampfflugzeugen dort üben wird. Ich konnte zudem mit einer wirklich beeindruckenden Gruppe von lebensälteren Frauen und Männern sprechen, die sich um Einsamkeit in der Stadt hier kümmern wollen und dazu Angebote machen. Das halte ich für ganz wichtig. Und natürlich gab es Menschen, manchmal auch Gruppen, die uns schon am Bahnhof entgegengekommen sind und die sich mit Blick auf jüngste Wahlergebnisse Sorgen machen um Verschiebungen in unserem demokratischen System. Dazu kamen die geplanten Gespräche – auch die nicht einfachen Debatten am runden Tisch über Migration, Zuwanderung und Fachkräftemangel.
Tausende haben zu Jahresbeginn in Nordhorn und Umgebung für die Demokratie demonstriert, erkennbar auch gegen Rechtsextremismus. Werden sie hinreichend unterstützt?
Naja, stellt sich die Frage, was mit Unterstützung gemeint ist.
Ermutigung...?
Ermutigung ist immer erforderlich, wobei es vielleicht nicht vordergründig eine Ermutigung zu Demonstrationen sein muss. Das, was Demokratie braucht, ist ja die Bereitschaft, auch selbst Verantwortung zu übernehmen. Es gibt Landstriche in Deutschland, in denen finden die Parteien, die auf der kommunalen Ebene kandidieren, nicht mehr genügend Menschen, die bereit sind, sich überhaupt nur auf eine Liste setzen zu lassen. Ermutigen müssen wir dazu, sich mindestens den Gedanken zu machen, ob man den Schritt in die Übernahme von Verantwortung selbst geht. Dazu gehört – und da sind wir dann beim Verhältnis von Politik und Medien –, dass man den Akteuren auf der kommunalpolitischen Ebene das Leben nicht so schwer macht. Ich treffe mich regelmäßig mit ehrenamtlichen Bürgermeistern und erfahre mit Bedauern, wie sehr sich die Verrohung in der Sprache mittlerweile auch im Verhalten zeigt, wenn ehrenamtlich tätigen Kommunalpolitikern Fäkalien in den Briefkasten gesteckt werden oder ein Galgen im Garten aufgebaut wird. Von den Montagsdemonstrationen im Osten habe ich gehört, dass bei jeder Runde um den Marktplatz beim Bürgermeister und seiner Familie sturmgeklingelt wird. Das sind Verhältnisse, die wir nicht zulassen sollten.
Ganz unproblematisch verlief Ihr Ausflug, als Sie zusammen mit Nordhorns Bürgermeister Thomas Berling über die Grenze nach Denekamp geradelt sind. Sie waren ja ganz schön flott unterwegs ...
[Lacht] Ich habe wirklich gestaunt, wie kurz der Weg ist. Wir waren ja in 20 Minuten drüben. Rückblickend gesagt, hätte ich mir keine Turnschuhe anziehen müssen oder einen Anorak – wir waren ruckzuck da.
Welche Bedeutung kommt Ihrer Begegnung mit dem niederländischen König zu?
Zunächst einmal finde ich, dass es schon eine große Geste des niederländischen Königs war, der 200 Kilometer von Leeuwarden bis nach Dinkelland runtergefahren ist, um den deutschen Bundespräsidenten zu treffen. Aber es geht ja um die Symbolik dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, die wirklich fantastisch ist.
Auch im Rathaus in Denekamp kamen die Grenzkontrollen zur Sprache. Thomas Berling hat davor gewarnt, wieder einen Schlagbaum aufzustellen. Es gibt aber auch Grafschafter, die diese Grenzkontrollen beibehalten wollen. Woher rührt dieses Denken?
Also ehrlich gesagt, die zweite Gruppe von Menschen ist mir nicht begegnet – weder auf dem Marktplatz noch am Bahnhof noch in den anderen Debatten, auch nicht im Stadtrat. Der eine Vertreter, von dem eine solche Haltung hätte kommen können, der AfD-Vertreter, hat sich gar nicht geäußert. Es gab aber ein breites Verständnis dafür, dass wir aufgrund der hohen Ankunftszahlen von Flüchtlingen Maßnahmen ergreifen müssen. Noch größer ist allerdings die Hoffnung, dass diese im Augenblick notwendigen Maßnahmen nur vorübergehender Natur sind, damit die erfolgreiche grenzüberschreitende Arbeit, von der ja ehrlicherweise auch Nordhorn massiv profitiert hat, nicht gestört wird.
Der König sieht es genauso, oder?
Ich habe wirklich großen Respekt vor der Art und Weise, wie der niederländische König das Thema behandelt. Er war ja nicht nur vor drei Jahren zum Staatsbesuch mit Königin Máxima in Berlin, sondern, was ich ganz hervorragend finde, die beiden nehmen sich in größeren Zeitabständen vor, die deutschen Bundesländer zu besuchen. Ganz unabhängig von politischen Terminen in Berlin. Ich finde das Bemühen großartig, über Nähe unserer beiden Völker und Nationen nicht nur zu reden, sondern sie auch zu zeigen.
In Nordhorn haben Sie mit Migranten gesprochen und mit Menschen, die sich für Flüchtlinge und Zuwanderer engagieren. Welchen Eindruck nehmen Sie mit nach Berlin?
Wir haben das Thema absichtsvoll nicht gemieden, sondern wir wissen, dass es die Menschen landauf, landab bewegt. Deshalb haben wir es zum zentralen Thema an unserem runden Tisch, den wir "Kaffeetafel kontrovers" nennen, gemacht. Es war eine wohltuend differenzierte Debatte, die alle Facetten zum Ausdruck gebracht hat. Angefangen beim Bürgergeld für ukrainische Flüchtlinge bis zur Skepsis gegenüber den bisher europäisch getroffenen Vereinbarungen, von der Notwendigkeit der Regulierung und Steuerung der Zuwanderung bis zur gleichzeitigen Notwendigkeit von Fachkräften. Wir müssen doch feststellen: Vor 20 Jahren hat die Arbeitslosigkeit unser hohes Wachstum bedroht, heute ist das Gegenteil der Fall. Wohlstand wird bedroht durch den Mangel an Facharbeitskräften und die Tatsache, dass Betriebe schlicht und einfach ihre Aufträge nicht abarbeiten können. In der Stadt Nordhorn kümmert man sich von vornherein, auch um Integration zu erleichtern, um eine dezentrale Unterbringung im Stadtraum. Das finde ich sehr lobenswert, weil Probleme nicht in derselben Schärfe entstehen wie in den Städten, die Flüchtlinge und Zugewanderte in zentralen Einrichtungen meist irgendwo am Rande der Ortschaft unterbringen.
Zur Strategie der AfD gehört es, Migration und Zuwanderung mit Etiketten wie "ungezügelt" oder "Überfremdung" zu versehen, um Angst und Empörung zu schüren. Das BSW plakatiert anmaßend mit "Krieg oder Frieden". Offenbar verfängt es zunehmend, Begriffe zu kapern. Wieso ist die Politik nicht in der Lage, positive Begriffe zu platzieren, um gesellschaftlich ein anderes Klima zu erzeugen?
Ich glaube, es gibt nicht zu jedem Begriff, der versucht, Empörung und Emotionen hervorzurufen, den passenden Gegenbegriff. Deswegen ist ja mein Versuch eher, mit den Menschen in Debatten darüber zu kommen, in denen man mindestens differenziert. Und durch Differenzierung kann man Nachdenklichkeit erreichen, das zeigt sich auch an solchen Gesprächsrunden wie im Capitol in Nordhorn. In ostdeutschen Städten hat Russlands Krieg gegen die Ukraine in den "Ortszeiten" eine deutlich größere Rolle gespielt. Auch da gilt: Wenn man das Thema mal zerlegt, dann fällt den meisten schon auf, dass die Frage nach Krieg oder Frieden auf den falschen Verantwortlichen verweist. Den Krieg hat Russland begonnen, und die Ukraine versucht, sich ihrer Haut zu erwehren und die Unabhängigkeit und territoriale Integrität ihres Staates zu erhalten. Wir unterstützen die Ukraine darin, nicht alles zu verlieren. Aber man braucht ein bisschen mehr Zeit, um darzulegen, warum die einfachen, schon auf die sozialen Medien hin formulierten Schlagzeilen die falschen sind.
Wird die "Ortszeit" in Nordhorn sich konkret widerspiegeln – vielleicht in einer Ihrer nächsten Reden?
Ich bin mir sicher, dass wir während dieser drei Tage viele Beispiele gesammelt haben, die in anderen Reden – Mutmacher-Reden! – wieder auftauchen werden.
Die Fragen stellten: Andre Berend und Guntram Dörr