"Wir brauchen diese Begegnungen"

Schwerpunktthema: Interview

10. Oktober 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Hörfunksender NDR 1 Niedersachsen vor seiner "Ortszeit Nordhorn" vom 15. bis 17. Oktober im Amtszimmer von Schloss Bellevue ein Interview gegeben, das am 10. Oktober in der Sendung "Unser Thema" gesendet wurde.

Der Bundespräsident im Amtszimmer

Es begrüßt Sie ganz herzlich Katharina Seiler und dieses Mal nicht aus dem Hörfunkstudio, sondern aus dem Schloss Bellevue in Berlin, dem Berliner Amtssitz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Denn in der nächsten Woche wird der Bundespräsident zu seiner "Ortszeit" aufbrechen und seine Amtsgeschäfte für drei Tage ins niedersächsische Nordhorn verlegen, nämlich vom 15. bis 17. Oktober. Warum er das macht, welcher Gedanke hinter diesen "Ortszeiten" steckt und was das mit unserer Gesellschaft und der Demokratie zu tun hat, darüber wollen wir mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier heute in "Unser Thema" reden. Vielen Dank, Herr Bundespräsident, dass wir hier zu Gast sein dürfen.

Guten Tag, Frau Seiler. Ich freue mich.

Ich beschreibe mal ganz kurz, wo genau wir sind im Schloss Bellevue. Wir sind im Amtszimmer und das ist ein großer, heller Raum mit einer Sitzgruppe und einem Schreibtisch. Hier empfängt der Bundespräsident Gäste aus dem In- und Ausland zu Gesprächen, zum Beispiel den Bundeskanzler oder den ukrainischen Präsidenten Selensky hat er hier empfangen. Neben dem Schreibtisch steht die Standarte des Bundespräsidenten und das ist eine große quadratische Fahne auf der der Bundesadler vor einem goldfarbenen Hintergrund mit rotem Rand zu sehen ist. Die Standarte zeigt den Amtssitz des Bundespräsidenten an und diese Standarte wird in der nächsten Woche nicht am Schloss Bellevue gehisst, sondern in Nordhorn, einer Kreisstadt ganz im Westen von Niedersachsen. Herr Bundespräsident, warum machen Sie sich die Mühe und verlegen Ihre Amtsgeschäfte in die Provinz?

Das ist in der Tat eine Überlegung gewesen, die wir angestellt haben nach dem Ende der Corona-Zeit, wo wir den Eindruck hatten, dass das Gespräch in der Gesellschaft zwischen vielen unterbrochen worden ist. Streit in den Familien, denen es gab über Corona-Maßnahmen, Streit in der Nachbarschaft, Streit in kleineren und größeren Gemeinden und das war der Punkt, an dem ich gesagt habe: Da dürfen wir jetzt nicht abwarten, bis die Menschen zu uns kommen, sondern wir müssen dahin – anstiften, das Gespräch wieder neu zu suchen und zu führen. Das war die erste Überlegung zur "Ortszeit" und jetzt sind wir inzwischen schon bei der 13. Wir waren im Osten und im Westen unterwegs, acht "Ortszeiten" im Osten unseres Landes, vier im Westen und die nächste in Nordhorn. Für mich auch eine Gelegenheit, nach Niedersachsen zurückzukommen, wo ich länger und gerne gelebt habe, Freunde habe, von der Küste über die Region Hannover bis nach Göttingen hinunter. Auch an Nordhorn habe ich Erinnerungen und ich freue mich, sie auffrischen zu können.

Bevor wir über Nordhorn weitersprechen, würde ich gerne nochmal zurück auf die "Ortzeiten" und der Gedanke, der dahinter steckt. Ist denn das gelungen, ins Gespräch zu kommen mit den Bürgern in diesen "Ortzeiten", die Sie ja, wie Sie schon gesagt haben, jetzt mehrfach schon gemacht haben?

Das ist sogar sehr gut gelungen, nach meiner Überzeugung. Und ein kleiner Beleg dafür ist auch, dass wir inzwischen viele Wünsche aus anderen Orten, kleineren und größeren Gemeinden haben, die "Ortszeit" dort auszurichten. Das tröstet mich ein bisschen, weil es gleichzeitig auch eine Antwort ist auf viel Pessimismus und Distanz zur Politik, die es sicherlich auch gibt. Aber: Es gibt offensichtlich auch das Bedürfnis, die Politik und die Repräsentanten von Politik vor Ort zu sehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Und ich glaube, ein Grund dafür, weshalb die Ortszeit so beliebt geworden ist, ist die Tatsache, dass ich nicht komme, um meine Rede zu halten, eine Stunde dort bin und nach einer Stunde wieder abreise. Sondern ich bringe eine Ressource mit, die wertvoll ist, nicht nur in der Politik, sondern auch im Alltag der Menschen – und das ist Zeit. Drei Tage vor Ort, im Gespräch mit vielen Bürgerinnen und Bürgern, auch mit der Kommunalpolitik, aber nicht nur, sondern Besuche bei Vereinen, in Schulen, bei der Feuerwehr. Das gibt einem doch ein relativ zuverlässiges Bild darüber, wie die Stimmung in der Gemeinde ist. Und es sind ja nicht die großen Städte, die wir suchen, sondern es sind oft Städte, die fern des Rampenlichts sind und wo wir auch deshalb hingehen, weil ich immer wieder feststelle, Menschen sich beklagen, dass sie nicht gehört, nicht gesehen werden. Und diesen Eindruck möchte ich vermeiden. Ich möchte dem etwas entgegensetzen und sagen: Gerade deshalb kommen wir zu euch, um zu hören, was euch umtreibt, was euch sorgt und was euch möglicherweise freut.

Sie haben ja auch so immer wieder Kontakt zu Bürgern, sage ich mal: Sie machen Bürgerfeste, Sie verleihen Orden, Auszeichnungen. Wie reagieren denn die Menschen auf Sie, wenn sie dann bei Ihnen quasi zu Hause sind bei diesen "Ortzeiten"? Entsteht dann wirklich sowas wie eine Nähe?

Da Sie das erwähnt haben, Bürgerfeste und Ordensverleihungen: Das gehört zum Geschäft des Bundespräsidenten. Das sind Termine, die ich gerne mache, aber es sind andere Termine: Termine, bei denen man nicht in ein wirklich dichtes Gespräch kommt. Man erfährt viel über Personen, die man auszeichnet. Wir kommen meistens nicht dicht ins Gespräch. Bei den Ortszeiten haben wir genau das, was Sie eben angedeutet haben, eine Nähe, die wir sonst nicht erreichen und eine Nähe, die auch nicht nur in einem politischen Gespräch entsteht, sondern in denen auch über Alltagsfragen diskutiert wird. Ich erinnere mich an einen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt etwa, an einer der "Ortszeiten", wo wir dann beim Glühwein miteinander ins Gespräch kommen und Menschen einem fast private Dinge erzählen. Das ist etwas, das entsteht nur dann, wenn Sie wirklich viel Zeit investieren in solche Begegnungen. Und nochmal, ich glaube, wir brauchen diese Begegnungen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Post in den sozialen Medien oder der Chat mit Bekannten, der ersetzt nicht die persönliche Begegnung, das persönliche Gespräch, wo man eben doch dichter beieinander ist. Und dieses Gespräch suche ich.

Ist Ihnen denn auch schon mal was Unvorhergesehenes passiert, was Überraschendes? Also meine Erfahrung ist, wenn man mit Menschen zu tun hat, passiert meistens immer irgendetwas, womit man nicht gerechnet hat.

Ja, das eigentlich Überraschende ist, dass die Menschen einem mindestens mit Interesse entgegenkommen. Es ist nicht so, dass jeder nur freundlich ist oder jeder nur ein Handyfoto haben will, sondern manche kommen dann tatsächlich auch mit ihren Sorgen und Lasten des Alltags. Aber sie kommen nicht in erster Linie, um den Bundespräsidenten, wenn ich dort bin, um den Bundespräsidenten zu beschimpfen, sondern vielen geht es echt jetzt gerade in den Zeiten des Krieges in der Ukraine, um Einschätzungen zu erfahren, um ein bisschen Orientierung zu erhalten und das schätze ich sehr. Das kommt manchmal überraschend, manchmal beim Besuch auf dem Wochenmarkt am Gemüsestand, manchmal aber auch bei den geplanten und vorbereiteten Diskussionen, die wir natürlich auch haben.

Nordhorn wird ja die 13. Station sein, die Sie machen bei den "Ortzeiten". Ist der Plan in allen Bundesländern gewesen zu sein?

Wir haben jedenfalls kein Ende der "Ortszeiten" beschlossen. Wir können das auch gar nicht, weil die Liste der Wünsche jetzt inzwischen so lang geworden ist, dass ich gar nicht weiß, ob wir sie am Ende abarbeiten können. Aber das Bedürfnis nach "Ortszeiten", nach dem Gespräch mit dem Bundespräsidenten ist jedenfalls so groß, dass es keinen Grund gibt, diese "Ortszeiten" jetzt abzubrechen. Wir werden, denke ich, in den nächsten zwei Jahren, in denen wir die "Ortszeiten" weiter ausrichten werden, mindestens fast alle Bundesländer erreicht haben. Ein Großteil ist jetzt schon berücksichtigt worden, in einigem waren wir aber auch noch nicht. Insofern haben wir noch ein bisschen was nachzuarbeiten.

Es könnte also sein, dass diese "Ortzeiten"eine regelmäßige Institution des Bundespräsidenten werden?

Ich möchte sie jedenfalls nicht mehr missen. Und nochmal, ich glaube, die Menschen verstehen, dass es ein Unterschied ist, ob man hier in Berlin wartet, bis die Sorgen hier ankommen oder ob man hingeht und Interesse zeigt an dem Leben auch außerhalb der Ballungsräume, gerade auch im ländlichen Bereich, wo die Probleme doch etwas unterschiedlich sind als in den Landeshauptstädten und hier in Berlin. Will sagen: Dort wo möglicherweise keine Nachfolger für das Ehrenamt gefunden werden, dort wo Landwirtschaft noch eine große Rolle spielt, dort wo Verkehrsinfrastruktur nicht ausreichend entwickelt ist, da sind die Prioritäten eben andere als in den großen Ballungsräumen, wo die Busse, S-Bahnen und U-Bahnen stündlich, halbstündlich oder 20-minütlich fahren.

Nächste Woche wird also in Nordhorn die Standarte des Bundespräsidenten gehisst. Herr Bundespräsident, warum fiel denn ausgerechnet einmal auf Nordhorn?

Nordhorn ist in einer exponierten Lage, ganz am Westrande der Republik, nahe der Grenze zu den Niederlanden. Und ich habe Nordhorn noch aus den frühen 90er Jahren in Erinnerung als eine Stadt, die noch gelitten hat unter dem Strukturwandel, unter der wegziehenden Textilindustrie. Über Nordhorn wurde geredet, wenn es um militärische Tiefflüge ging damals. Und in diesen 30 Jahren hat sich wahnsinnig viel verändert. Die Stadt ist eine prosperierende Stadt geworden mit geringer Arbeitslosigkeit, mit einem großen touristischen Angebot und eine Stadt, die auch Zuwachs erlebt. Insofern vielleicht auch eine Stadt, das werde ich dann feststellen, wenn ich dort bin, vielleicht auch eine Stadt, die ein Vorbild sein könnte für andere Städte dieser Größenordnung, die Strukturwandel zu bewältigen haben und das sind ja viele in unserem Land.

Menschen, die es vielleicht nicht wissen, Sie haben es schon selbst erwähnt, Sie haben lange in Niedersachsen auch gearbeitet, nämlich in den 90er Jahren, fast zehn Jahre in der niedersächsischen Staatskanzlei unter dem damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder. Ist Ihnen damals Nordhorn auch schon untergekommen in der politischen Entscheidung?

Ich bin dort gewesen und wir haben natürlich teilgenommen an den Debatten, die es gegeben hat über Strukturwandel der Textilindustrie. Wir haben teilgenommen an den Debatten über die Notwendigkeit oder schwindende Notwendigkeit von Tiefflügen über Nordhorn Range. Insofern ist Nordhorn noch in guter Erinnerung. Aber vor allen Dingen freut mich, dass sich in diesen 30 Jahren in Nordhorn viel getan hat, viel an Verbesserung der Lebensqualität und Lebensumwelt geschehen ist. Und das gucke ich mir im Abstand von einigen Jahrzehnten gerne wieder an.

Das klingt so, als hätten Sie sich Nordhorn ausgesucht und in dem Fall wäre es dann nicht so gewesen, dass Nordhorn unbedingt gesagt hat: Ha! Wir wollen aber, dass sie mal zu uns kommen.

Ich weiß jetzt gar nicht, von wem die Initiative ausgegangen ist. Aber ich freue mich jedenfalls, dass wir erstens in Niedersachsen zum ersten Mal mit der "Ortszeit" sind und dass die Wahl auf Nordhorn gefallen ist.

Und Nordhorn ist dann quasi ein Beispiel einer gelungenen Transformation?

Wir werden jedenfalls – das habe ich in den Vorbereitungen schon jetzt gesehen –, wir werden jedenfalls in Nordhorn vieles sehen, was gelungen ist. Das ist sicherlich denjenigen zu verdanken, die in der Kommunalpolitik in den letzten Jahren und Jahrzehnten Verantwortung getragen haben. Aber sowas gelingt nie ohne die vielen, die ehrenamtlich Verantwortung auf sich nehmen. Bei denen werde ich mich ganz besonders bedanken. Weil: Das ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Wir werden älter, auch das Ehrenamt altert. Ich weiß von vielen Vereinen und Verbänden, dass es schwer wird, Nachfolger im Ehrenamt zu finden. Insofern müssen wir ganz besonders denjenigen dankbar sein, die heute nicht nur ein, sondern zwei, manche drei Ehrenämter ausfüllen. Viele von denen, die ich dann auch im Nordhorn mit einem Bundesverdienstkreuz auszeichne, gehören genau zu denen. Sie sind das Rückgrat unserer Gesellschaft und wir dürfen gar nicht unterschätzen, was sie für unser Land tun.

In der Pressemitteilung heißt es, Sie verlegen auch Ihre Amtsgeschäfte für drei Tage nach Nordhorn, darum ja auch die Standarte, die da gehisst wird. Was muss man sich denn da rein praktisch drunter vorstellen? Also wird der ganze Bürostab mitziehen?

Es wird ein kleiner Bürostab mitziehen. Wir nehmen den Schreibtisch, den Sie hier neben mir sehen, natürlich nicht mit. Aber immer da, wo wir sind – das ist mal ein Hotel, mal ist es ein Bürogebäude, in dem wir unterkommen in den Gastgeberstädten – wird natürlich ein Büro eingerichtet und dann werde ich vieles von dem dort tun, was ich hier auch tue: mit Kollegen aus dem Ausland telefonieren, Briefe schreiben, Vorlagen lesen und vieles andere mehr, was eben auf der Ortszeit on the road möglich ist.

Das klingt so, als wenn auch das Bundespräsidialamt einiges zu tun hätte damit, die Amtsgeschäfte quasi dorthin zu verlegen.

Oh, da sind wir jetzt inzwischen sehr routiniert. Wir haben zwei große Metallkisten, bei denen wir genau wissen, was einzupacken ist. Insofern ist das hier wirklich ruckzuck gepackt. Und bei den letzten "Ortszeiten" vor Ort fehlte auch nichts, was wir gebraucht hätten, um die Amtsgeschäfte für die drei Tage aus einer unserer gastgebenden Städte zu führen.

Umgekehrt wird aber für die Stadt Nordhorn, glaube ich, jetzt noch allerlei vorzubereiten sein, wenn sie für drei Tage ihre Amtsgeschäfte hinverlegen. Und was genau da jetzt in schon vorbereitet wird, darüber hat sich meine Kollegin Maya Rollberg informiert, was Nordhorn gerade macht, um sich auf ihren Besuch vorzubereiten.

[Einspieler]

Wir sind heute im Schloss Bellevue zu Gast beim Bundespräsidenten, der in der kommenden Woche für drei Tage seine Amtsgeschäfte ins niedersächsische Nordhorn verlegen wird. Herr Bundespräsident, Nordhorn wird die 13. Station bei Ihren "Ortzeiten" sein und die erste hatten Sie ja gleich zu Beginn Ihrer zweiten Amtszeit und das war wenige Wochen nachdem der russische Überfall auf die Ukraine war. Wie haben sich denn die Sorgen und Probleme der Menschen im Laufe der Zeit geändert, die Sie zu hören bekommen haben auf diesen "Ortzeiten"? Denn in dieser Zeit ist ja auch eine ganze Menge passiert.

Also das kann ich relativ einfach beantworten. Die ersten "Ortszeiten" waren noch ganz stark dominiert von dem Streit über Corona, genauer gesagt die Frage von Lockdowns und Impfpflicht. Ich kann mich erinnern, die erste "Ortszeit" in Altenburg war noch begleitet von Montagsdemonstrationen, die sich ausschließlich gegen Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona richteten. Montagsdemonstrationen auf dem dortigen Marktplatz, bei dem auch der Oberbürgermeister und seine Familie nicht unbehelligt geblieben sind, weil ständig an seiner Wohnungstür vorbei marschiert wurde und offensichtlich auch in dem ein oder anderen Fall einige die Dauerklingel gedrückt haben. Das war für die Familie, insbesondere für die Kinder des Bürgermeisters, mehr als nur unangenehm. Insofern habe ich gute Erinnerung daran, dass Corona die ersten zwei, drei "Ortszeiten" sehr dominiert hat. Und ja, Sie haben es angedeutet, je länger der Krieg in der Ukraine dauert, nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, umso mehr bestimmte bei den "Ortszeiten" auch das Thema Krieg und Frieden die Debatten. Jetzt gerade bei den letzten beiden "Ortszeiten" haben es die Bürgerinnen und Bürger unserer gastgebenden Städte ausdrücklich gewünscht, dass wir an einem großen runden Tisch über diese Frage miteinander diskutieren. Und ich weiche diesen schwierigen Debatten auch nicht aus. Ich will gar nicht sagen, dass man am Ende jeden überzeugen kann. Aber wenn es gelingt, die Menschen, die eine scheinbar vorgefasste, eindeutige Meinung hatten, wenigstens nachdenklich zu machen, dann ist schon viel gelungen. Und nach meinem Eindruck, wenn man sich Zeit nimmt, wenn man die Leute ernst nimmt, die am Tisch sitzen, dann gelingt es auch wirklich, Debatten mit hoher Qualität und gegenseitigem Respekt zu führen. Und darum geht es hier eigentlich: Wieder zu trainieren, dass wir nach Zeiten der Gesprächslosigkeit wieder neu lernen, Debatten mit Vernunft zu führen.

Merken Sie das auch, dass sich diese Debattenkultur verändert hat?

Na, ich glaube, wir alle merken, ich glaube, auch die Medien merken, dass ein neuer Ton der Unversöhnlichkeit in unsere Debatten eingekehrt ist. Und das ist sicherlich nicht alles, von der Kommunikation in den sozialen Medien dort zu verantworten. Aber ich glaube, es hat schon viel damit zu tun, dass Menschen, nicht nur, aber vor allem junge Menschen, fast ausschließlich nur noch über soziale Medien kommunizieren. Die Qualitätsmedien, die traditionellen Medien, wenn ich das so sagen darf – Zeitungen und der öffentlich-rechtliche Rundfunk – leiden ja auch durchaus darunter. Und meine Antwort, die ich immer gebe in solchen Situationen, ist die, dass ich sage, am Ende kann diese Dauerempörung, die wir in den sozialen Medien haben, die kann nicht die politische Debatte bestimmen. Ich glaube nicht, dass der Shitstorm auf Dauer das Gespräch und die Debatte mit Vernunft ersetzen kann. Jedenfalls nicht ohne Schaden für die Demokratie. Deshalb gebe ich mir Mühe, um zu werben dafür, dass wir diese politische Debatte auf Augenhöhe – mit Vernunft, in Respekt voreinander – wieder führen und diese Tradition, die Deutschland stark und stabil gemacht hat, nicht verlieren.

Nun gab es ja immer Krisen, das haben gerade Sie in Ihrer langen politischen Laufbahn ja erlebt. Also es gibt ja keine wirklich friedliche, harmonische Zeit, in der man leben kann. Würden Sie sagen, dass aber das eigentliche Problem eher ist, dass man diese Debattenkultur verloren hat, um mit diesen Krisen fertig zu werden? Denn man kann ja nicht ernsthaft darauf warten, dass es eine friedliche Zeit gibt, die ja wahrscheinlich nicht eintreten wird. Sondern man muss einfach immer wieder versuchen, diese Krisen zu bewältigen und zwar ohne großen menschlichen und gesellschaftlichen Schaden anzurichten.

Nein, ich habe ja eben in der Antwort schon gesagt, dass nicht alles den sozialen Medien zu überantworten ist. Sie haben viel dazu beigetragen, dass die Breite der Debatten schmaler geworden ist, dass die Bereitschaft schwarz-weiß zu denken, größer geworden ist. Aber die sozialen Medien sind da eher ein Katalysator. Sie weisen zu Recht darauf hin: Wir haben schwierige Jahre hinter uns. Wir leben in einer Gesellschaft im Dauerstress. Wenn ich jetzt nur an die letzten 15 Jahre zurückdenke, dann haben wir alle noch in Erinnerung die große Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008, 2009. Wir haben in Erinnerung die Euro-Krise, wir haben in Erinnerung die Flüchtlinge aus Syrien in den Jahren 2016, 2017 und Corona. Und Corona war noch nicht zu Ende, da begann schon der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Es war kaum Zeit zum Durchatmen für die Menschen und das ist eine große Dauerbelastung für eine Gesellschaft, die die Menschen auch verunsichert, die die Nerven bloßlegt. Nur das alles zu wissen ist ja noch keine Rechtfertigung dafür, dass man sich am Ende in Empörung und in Wut äußert und nicht mehr darüber nachdenkt, wie wir unsere gemeinsame Zukunft bestimmen. Wir haben, wenn man das wirtschaftlich sieht, eigentlich 16, 17 Jahre Rückenwind gehabt: seit Mitte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrtausends jährlich sinkende Arbeitslosigkeit, zuverlässige Wachstumszahlen. Jetzt haben wir den Rückenwind im Augenblick nicht, sondern wir sind im Gegenwind. Und ich plädiere sehr dafür, dass wir deshalb nicht resignieren, nicht pessimistisch werden, sondern dass wir uns auf unsere eigenen Stärken besinnen und uns daran erinnern, dass wir auch durch andere Krisen, schwere Krisen schon hindurchgekommen sind. Und ich bin sicher, das wird uns auch diesmal gelingen.

Ist in dieser Zeit der Krisen ohne Atempausen auch das Vertrauen, das Zutrauen in die Demokratie verloren gegangen für viele Menschen?

Ja, das ist ja ganz offensichtlich so. Wenn wir die Wahlergebnisse aus jüngsten Zeiten lesen, richtig lesen, dann kommt darin ja zum Ausdruck, dass die Parteien der demokratischen Mitte nicht mehr dieselbe Unterstützung haben, wie das noch vor Jahren der Fall war, sondern dass diejenigen, die unzufrieden sind, eher zu den politischen Rändern gehen. Und das ist ein Alarmsignal. Da müssen die Parteien der demokratischen Mitte nicht nur sehr genau hinschauen, sondern müssen auch mit allen ihnen möglichen Mitteln versuchen, die Erwartungen, die Hoffnungen, die Wünsche der Bürgerinnen und Bürger besser erfüllen.

Das heißt, Sie sehen da auch eine direkte Verantwortung der politisch Handelnden?

Ein Gradmesser für die Demokratie ist auch ihr Erfolg. Und der Erfolg hängt daran, ob die Bürgerinnen und Bürger erstens Mitgestaltungsmöglichkeiten in der Demokratie haben. Das haben sie in Deutschland ganz zahlreich, übrigens mehr als die meisten wissen, denn wenn ich auf die kommunale Ebene schaue, auf die Ebene der Städte und Gemeinden, dort werden händeringend oft Menschen gesucht, die bereit sind Verantwortung zu übernehmen. Aber das andere Erfolgskriterium ist natürlich, ich sagte es eben, dass die Demokratie sich als in der Lage zeigt, Probleme tatsächlich auch zu lösen. Und da gibt es einige Menschen, die ganz offenbar der Meinung sind, dass das bisher nur unzureichend gelungen ist. Das eine liegt auf der Hand: Das ist die Erwartung, dass wir Migration besser steuern, nicht nur in Deutschland, auch in Europa. Das andere ist, dass Infrastruktur zuverlässiger funktioniert, als das im Augenblick der Fall ist. Das betrifft dann vor allen Dingen die Kritik an der Deutschen Bahn. Aber das sind Dinge, bei denen Politik natürlich reagieren muss.

Wenn man mit Menschen auf der Straße spricht, also wenn ich zum Beispiel Umfragen mache, dann bekommt man ganz oft zu hören, da müsse jetzt endlich mal jemand ein Machtwort sprechen, dieses scheinbare Durcheinander mal durchschlagen und einfach mal sagen, wo es lang geht. Haben Sie auch manchmal dieses Bedürfnis, dass Sie die politisch Handelnden gerne mal so schütteln würden und sagen würden, jetzt macht das doch mal so und so?

Ich glaube, darin drücken sich zwei Dinge aus. Es ist, glaube ich, nicht nur die Faszination des Autoritären. Ich glaube nicht, dass das im Wesentlichen die Wahlentscheidungen der Menschen zurzeit bestimmt. Sondern in den jüngsten Wahlergebnissen drückt sich viel Unzufriedenheit aus. Aber auch nach meiner persönlichen Erfahrung, wenn ich nochmal auf die "Ortszeiten" zu sprechen kommen darf, sind das nicht Menschen, die mehrheitlich unerreichbar geworden sind. Viele sind nach wie vor ins Gespräch zu ziehen. Es gelingt häufig, sie mindestens auch nachdenklich zu hinterlassen, um zu überprüfen, ob die vorgefasste Meinung die einzige und die richtige ist. Aber wenn ich davon absehe, dann sage ich, das Zweite, was sich in diesen Wahlergebnissen ausdrückt, ist die Tatsache, dass die Bereitschaft zum Kompromiss in den zunehmenden Schwarz-Weiß-Denken eben auch abgenommen hat. Und wir müssen uns erinnern, dass am Ende in einer Gesellschaft der vielen, die wir sind und ja auch sein wollen – niemand will auf Vielfalt in unserem eigenen Land verzichten –, dass wir auf Kompromiss angewiesen sind. Und wir haben ein Wahlsystem in Deutschland, über das sich ja niemand beklagt, aber das dazu führt, dass Deutschland seit vielen Jahren und Jahrzehnte lang mit großem Erfolg von Koalitionsregierungen regiert wird. Und Koalitionsregierungen bedeutet, dass niemand sein Wahlprogramm zu 100 Prozent durchsetzen kann, sondern darauf angewiesen ist, mit anderen Koalitionspartnern zu Rande zu kommen, sprich Kompromisse zu schließen. Das müssen natürlich Kompromisse sein, die das Land insgesamt nach vorne bringen. Aber ich will jedenfalls nicht die Erwartung nähren und stärken, dass wir zukünftig ohne Kompromisse fertig werden. Eine Demokratie wird Kompromisse brauchen. Deshalb: Ja, wir brauchen in den Landesregierungen, in der Bundesregierungen die Fähigkeit zur Entscheidung, auch die Fähigkeit zur schnellen Entscheidung. Aber das wird nicht bedeuten, dass wir ohne Kompromisse auskommen.

Also ich habe da rausgehört: Ein Machtwort des Bundespräsidenten wird es nicht geben oder kann es ja auch gar nicht geben. Was ist denn …?

Na, wir haben eine Verfassung und eine Verfassung beschreibt die Kompetenzen einer Bundesregierung und ebenso die Kompetenzen eines Bundespräsidenten. Der Bundespräsident kann reden mit den Beteiligten innerhalb der Regierung. Er kann reden mit Parteivorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden. Ein Machtwort innerhalb einer Regierung kann der Bundespräsident nicht sprechen.

Das bringt mich zu der Frage – Sie haben es ja schon angedeutet, Reden ist Ihr Mittel: Ist das auch das Rezept, was Sie jetzt verfolgen, um die Gesellschaft wieder zusammenzubringen?

Naja, wir haben angefangen, über "Ortszeiten" zu reden. "Ortszeiten" sind ein Element, mit dem ich versuche, Gesellschaft wieder zusammenzubringen. Das geht ja nicht zulasten der anderen Möglichkeiten, die ein Bundespräsident hat: die der Reden. Und die Bedürfnisse dafür sind ja landauf, landab sehr groß. Die Einladungen zu Reden des Bundespräsidenten zu vielen Gelegenheiten und gerade jetzt auch in Zeiten der großen Krise sind zahlreich. Die versuche ich genauso zu erfüllen, wie die Wünsche nach der Ausrichtung von "Ortszeiten". Und natürlich sind das Reden, wie jetzt zuletzt bei der großen Veranstaltung in der Gedächtniskirche, der Erinnerungsveranstaltung an den 7. Oktober, wo man versucht in einer komplizierten Lage im Nahen Osten, die bei den Menschen hier bei uns ja auch Verzweiflung hervorruft, Orientierung zu geben. Und das ist etwas, was ich sehr, sehr ernst nehme und ganz regelmäßig tue.

Ein anderes Instrument, so würde ich das jedenfalls interpretieren, was Sie mal vorgeschlagen haben, ist ja die soziale Pflichtzeit. Würden Sie noch Chancen sehen, dass sich dieses Modell durchsetzen könnte?

Es gibt natürlich Gegenwind. Das war mir auch völlig klar, wenn man mit einem solchen Vorschlag an die Öffentlichkeit tritt. Wir haben inzwischen viele Gespräche geführt mit denjenigen, die zu den Anbietern von Beschäftigungsmöglichkeiten für die soziale Pflichtzeit gehören, bis über Jugendverbände, die Wirtschaft und Gewerkschaften. Das, was mir auffällt, normalerweise ist es eigentlich so, wenn man mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit tritt: je länger diskutiert wird, umso größer werden eigentlich die Vorbehalte. Bei dieser Debatte ist es anders. Ich habe eigentlich den Eindruck, dass die Zustimmung eher wächst. Aber das ist gar nicht mein entscheidendes Argument. Ich finde, seit der begonnenen Debatte über einen neuen Wehrdienst gibt es auch eine neue Debatte über soziale Pflichtzeiten, Gesellschaftszeiten – mit unterschiedlichen Überschriften wird das Thema geführt. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass es nicht über den Tag gelingen wird, aber dass es gelingen wird, diese Idee noch stärker zu verankern. Denn es geben einem ja alle Recht, wenn ich sage: Unsere Gesellschaft hat sich verändert; die Distanzen zwischen Jung und Alt sind größer geworden, die zwischen Stadt und Land sind größer geworden, die zwischen Akademiker und Nicht-Akademiker-Familien sind größer geworden. Und da, wo sich früher alle getroffen haben – im Sportverein, im Ehrenamt, bei den Dorffesten – da gelingt das nicht mehr. Und deshalb müssen wir Möglichkeiten schaffen, wo wir Distanzen überwinden, wo Menschen in Begegnung kommen, die sich normalerweise im Alltag nicht begegnen würden. Und dazu könnte die soziale Pflichtzeit einen guten Beitrag leisten. Das wird verstanden und ich hoffe, dass wir die Bedeutung dieser Debatte erhalten und dass das vielleicht in der nächsten Legislaturperiode zu Ergebnissen führt.

Und es sollte eine Pflicht sein?

Aus meiner Sicht ja. Es gibt unter denjenigen, mit denen ich rede, auch viele Nuancen. Manche sagen, man müsste eher Anreize schaffen; manche sagen, es sollte nicht nur eine soziale Pflichtzeit sein, sondern es sollte Ökologie und vieles andere genauso berücksichtigt werden. Ich glaube, es hängt nicht nur, aber auch ein bisschen daran, wie sich die Debatte über den neuen Wehrdienst entwickeln wird. Aber ich bin ganz zuversichtlich, dass was draus wird.

Menschen dazu zu bringen, sich einzubringen in die Gesellschaft, kann ja ein Weg sein, die Gesellschaft auch wieder zusammenzubringen. Was halten Sie denn von mehr basisdemokratischen Instrumenten wie zum Beispiel Bürgerräte? Wir hatten ja jetzt gerade einen. Sollte das vielleicht noch mehr eingeführt werden?

Ich habe gar nichts dagegen, wenn wir diese Debatte führen. Ich habe auch überhaupt nichts gegen Bürgerräte. Ich habe eher was gegen die Beschreibung unserer Gesellschaft und unserer Verfassungsordnung, als ob sie gegen Gestaltungsmöglichkeiten wären. Im Gegenteil. Ich sage es noch mal: Gerade auf der kommunalen Ebene werden händeringend in vielen, gerade ländlichen Regionen Menschen gesucht, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, die bereit sind mitzugestalten. In manchen Regionen, in denen ich auch jetzt unterwegs war, haben die vor Ort tätigen Parteien Mühe, ihre Listen für die Gemeinderäte, für die Stadträte voll zu kriegen. Also es gibt viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten, als die meisten meinen. Und Bürgerräte können auch dazugehören – ja.

Ihre "Ortzeiten" sind ja in gewisser Weise auch ein basisdemokratischer Ansatz. Was wünschen sich denn von der Nordhorner "Ortzeit" mitzunehmen, als quasi ein Ergebnis?

Also ich wünsche mir für mich persönlich erstmal ein ganz aktualisiertes Bild von Nordhorn, dass ich mein altes Bild von Nordhorn, das 30 Jahre zurückliegt, auffrischen kann. Zweitens hoffe ich natürlich, dass ich vieles von dem bestätigt finde, was ich in meiner schriftlichen Vorbereitung als begeisternd für Nordhorn bereits gelesen habe. Ich hoffe sehr, dass wir eine diskussionsfreudige Stadtgesellschaft erleben und freue mich auch auf ein großes Solidaritätskonzert, was die Stadt Nordhorn mit ihrer Partnergemeinde Coevorden ausrichten wird zugunsten einer ukrainischen Stadt. Das finde ich ein wirklich großartiges Zeichen, das wir so bei "Ortszeiten" auch noch nicht hatten.

Herzlichen Dank, Herr Bundespräsident, für das Gespräch.

Ich danke Ihnen, Frau Seiler.

Hinweis: Das Interview ist eine Transkription des vom Bundespräsidenten geführten Interviews mit NDR 1, das auf der Webseite des NDR seit dem 10. Oktober verfügbar ist.

Die Fragen stellte: Katharina Seiler