"Ich möchte die Menschen wieder miteinander ins Gespräch bringen"

Schwerpunktthema: Interview

25. Juli 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender haben mit der Zeitschrift "Bunte" über Organspende, Streit in der Familie und das Käsebrot für lange Arbeitstage gesprochen.

Bundespräsident Steinmeier und Elke Büdenbender sitzen während des Interviews mit einer Redakteurin der Zeitschrift Bunte gemeinsam am Frühstückstisch

Herr Bundespräsident, was läuft gerade schief in unserer Gesellschaft?

Bundespräsident Steinmeier: Wir befinden uns in einer schwierigen Situation. Jeden Tag erreichen uns bestürzende Nachrichten aus der Ukraine und dem Nahen Osten. Viele Bürgerinnen und Bürger sind angespannt und verunsichert, wir leben als Gesellschaft im Dauerstress. Zudem werden aus den sozialen Medien ständig neue Empörungswellen übers Land geschickt: Shitstorm statt Debatte – das tut uns nicht gut.

Macht Ihnen diese Lage Sorge?

Bundespräsident Steinmeier: Selbstverständlich. Was mich zusätzlich besorgt, ist ein Ton der Unversöhnlichkeit – in der politischen Debatte wie im Privaten. Es dominiert Schwarz-Weiß-Denken. Das Verständnis für Ausgleich, die Bereitschaft zum Kompromiss schwinden. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dagegen ein Zeichen zu setzen. Wir müssen uns wieder auf unsere Stärken besinnen. Wir sind nicht die erste Generation, die Krisen meistern muss, und ich bin überzeugt, wir haben die Kraft dazu.

Frau Büdenbender, Sie arbeiten als Richterin am Berliner Verwaltungsgericht, wo per se eine formalisierte Kommunikation herrscht. Liegen da die Nerven auch so blank wie in Politik und Gesellschaft?

Elke Büdenbender: Nein, in meiner Kammer habe ich nie erlebt, dass jemand ausfällig geworden ist. Die Menschen haben großen Respekt vor dem Gericht. So wie ich als Richterin großen Respekt habe vor jedem Menschen, der bei uns vor dem Verwaltungsgericht sein Recht sucht.

Herr Bundespräsident, Sie haben erwähnt, dass die Zerrissenheit der Gesellschaft bis ins Private reicht. Was können Sie denn dagegen tun, wenn sich Familien streiten?

Bundespräsident Steinmeier: Ich möchte die Menschen wieder miteinander ins Gespräch bringen. Wir müssen kontroverse Debatten mit Vernunft und Respekt führen. Ich habe deshalb das Format der „Ortszeiten“ gestartet. Ich gehe in die Regionen, um den Menschen zu zeigen, dass sie gesehen und wahrgenommen werden, und um zu erfahren, was sie umtreibt. Was ich immer wieder feststelle: Es gibt eine wachsende Distanz zwischen Jung und Alt, zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen Akademiker- und Nichtakademikerfamilien. Menschen, die sich früher beim Sport, im Ehrenamt, in Vereinen oder auf Dorffesten begegnet sind, kommen kaum noch zusammen. Für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist es allerdings wichtig zu wissen, was die anderen umtreibt. Deshalb habe ich angeregt, über eine soziale Pflichtzeit nachzudenken. Jeder Mensch sollte sich ein paar Monate seines Lebens mit anderen für die Gemeinschaft einsetzen und dabei Menschen außerhalb seines gewohnten Lebensumfeldes begegnen.

Auch Sie beide sind in ländlichen Regionen aufgewachsen, und Sie stammen aus Handwerkerfamilien. Gibt es diese Differenzen auch innerhalb Ihrer Familie?

Bundespräsident Steinmeier: Ich komme aus einer Gegend, in der die Menschen gelassen und eher unaufgeregt sind. Wie in den meisten Familien gibt es auch bei uns unterschiedliche Meinungen bei politischen Themen, und während der Pandemie gab es manchmal Streit über die angemessenen Maßnahmen. Das hat uns in der Familie aber nicht auseinandergebracht.

Elke Büdenbender: Ja, das ist für mich ganz wichtig. Wir streiten uns nie so sehr, dass wir danach nicht mehr miteinander können. So etwas würde ich gar nicht aushalten, keiner in unserer Familie könnte das aushalten. Wir sind Familienmenschen.

Was bewegt denn die Menschen in Ihrer alten Heimat?

Bundespräsident Steinmeier: Die Sorge um Krieg und Frieden steht wohl an erster Stelle. Die fürchterlichen Bilder und Nachrichten aus der Ukraine, Israel und Gaza lassen viele verzweifeln.

Elke Büdenbender: Unsere Geschwister arbeiten in der Industrie und in kleineren Betrieben. Sie machen sich Gedanken, welche Auswirkungen die Entwicklung auf ihre Arbeitsplätze hat.

Viele Menschen haben Angst, dass Deutschland seinen Wohlstand verliert. Ist das ein Thema in Ihrer Familie?

Bundespräsident Steinmeier: Ich begegne dieser Stimmung, wenn ich im Land unterwegs bin. Manche Bürger vermischen berechtigte Sorgen mit einer Generalkritik an den politischen Institutionen, einige mit grundsätzlichen Zweifeln an der Demokratie. Debatten gibt es auch in meiner Familie, aber die Mitglieder können schon unterscheiden, ob alles den Bach runtergeht oder ob wir in einer Krise stecken, die man überwinden kann. Ärmel hochkrempeln und anpacken ist mehr verbreitet als lamentieren.

Elke Büdenbender: Ich würde mal so sagen: Es menschelt bei uns wie in anderen Familien auch.

Wie begegnen Ihnen die Leute, wenn Sie mit Ihrer Entourage in Ihrer Heimat auftauchen?

Bundespräsident Steinmeier: Wenn ich ins Lippische fahre, dann sehen die Leute zwei Fahrzeuge, und in einem sitzt der Bundespräsident. Darüber wundert sich niemand mehr. Und in meinem Dorf bin ich der Frank, nicht der Bundespräsident.

Deutschland wird immer wieder kritisiert, dass soziale Schichten zu undurchlässig seien. Sie beide haben eine außergewöhnliche Karriere gemeistert. Hatten Sie einfach Glück?

Bundespräsident Steinmeier: Ich bin ein Kind der Bildungsreform der 1960er/1970er Jahre, in denen Kinder aus einfachen Verhältnissen an höhere Schulen geholt wurden. Mein Großvater war Wanderarbeiter, der den Sommer über auf Ziegeleien sein Geld verdient hat, mein Vater war Tischler, meine Mutter, Flüchtling aus Schlesien, hat viele Jahre in einer Fabrik gearbeitet. Meinen Eltern war sehr bewusst, dass Bildung der Schlüssel zu einem besseren Leben ist, aber letztlich war es mein Grundschullehrer, der bei meinen Eltern entscheidende Überzeugungsarbeit geleistet hat, das Kind auf’s Gymnasium zu schicken.

Elke Büdenbender: Ich bin ein katholisch erzogenes Arbeitermädchen vom Land. Das mag nicht unbedingt die beste Ausgangslage gewesen sein, aber ich hatte Vorbilder und wurde immer unterstützt: Meine Mutter und deren Schwester hatten eine Berufsausbildung, meine Großmutter hatte Köchin und Hauswirtschafterin gelernt. Die Vorstellung, dass Kinder sich anstrengen und eine gute Bildung haben müssen, war tief im Bewusstsein meiner Eltern verankert. Ich finde übrigens, dass unser Land sehr gute Chancen zum Aufstieg bietet. Leider schaffen wir es oft nicht, die Kinder über ihre Eltern zu erreichen.

Bundespräsident Steinmeier: Trotzdem betrübt mich, dass der Ort, an dem ein Kind geboren wird, zu oft darüber entscheidet, welchen Bildungsweg es nimmt. Wir müssen in Schule investieren, gerade dort, wo es Kinder schwer haben.

Frau Büdenbender, war immer klar, dass Sie einen Beruf ausüben und ihr eigenes Geld verdienen wollen?

Elke Büdenbender: Definitiv! Etwas anderes kam für mich nie infrage.

Als Ihr Mann 2017 Bundespräsident wurde, haben Sie Ihr Richteramt ruhen lassen. Jetzt arbeiten Sie wieder halbtags. Ist es noch zeitgemäß, dass die Ehefrau des Bundespräsidenten als selbstverständliche und unbezahlte Unterstützerin ihres erfolgreichen Mannes gesehen wird?

Elke Büdenbender: Ich habe damals viele Gespräche geführt – mit meinem Mann, unserer Tochter, aber auch mit Kollegen. Ich kannte die Konditionen für meine Rolle, und ich habe es vor allem als eine Herausforderung verstanden – eine Mischung aus großer Ehre, einmaliger Chance und ein bisschen Abenteuer. Die Erfahrungen hätte ich als Richterin nie machen können. Dass die First Lady kein eigenes Geld bekommt, hat bei meiner Entscheidung keine Rolle gespielt.

Aber Geld ist in unserer Gesellschaft die Währung für geleistete Arbeit.

Elke Büdenbender: Natürlich musste ich mich anfangs daran gewöhnen, kein eigenes Einkommen mehr zu haben. Aber wir begreifen das Gehalt meines Mannes als unser gemeinsames.

Bundespräsident Steinmeier: Ich habe die ersten fünf Jahre meiner Amtszeit, in denen meine Frau nicht berufstätig war und wir häufig gemeinsam unterwegs waren, sehr genossen. Ich verstehe aber vollständig, dass sie in ihren Beruf als Richterin zurückkehren wollte. Jetzt sind wir seltener gemeinsam unterwegs, aber wir kriegen die Dinge dennoch gut geregelt.

Elke Büdenbender: Ich liebe meinen Beruf und meine Aufgaben als First Lady. Manchmal ist es schon sehr anspruchsvoll, alles organisiert zu kriegen. Mein Mann unterstützt mich total in meinem Beruf. Manchmal schmiert er mir morgens ein Käsebrot, damit ich für lange Tage am Gericht wenigstens was zu essen habe.

Bundespräsident Steinmeier: Aber dann beißt du doch nur einmal ab …

EB [lacht]: Dafür bin ich dir jedenfalls sehr dankbar.

Sitzen Sie mit Ihren Kalendern am Tisch und verhandeln die Termine der nächsten Wochen?

Elke Büdenbender: Ich habe drei Kalender im Blick: den meines Mannes, meinen beruflichen und unseren privaten. Ich brauche unbedingt auch Zeit für Freunde und Familie, sonst fehlt mir was.

Seit mehr als sieben Jahre sind Sie ein öffentliches Paar. Verändert das die Partnerschaft?

Bundespräsident Steinmeier: Unsere Silberhochzeit liegt schon lange hinter uns.

Elke Büdenbender: Widerspruch – noch nicht so lange. Das war 2020!

Bundespräsident Steinmeier: Vier Jahre ist doch eine lange Zeit [lacht]. Jedenfalls hat sich durch mein Amt nichts zwischen uns verändert. Außer, dass wir uns weniger sehen, seit meine Frau wieder am Gericht arbeitet.

Elke Büdenbender: Und gleichzeitig haben wir uns noch mehr zu erzählen.

Als Sie 2010 Ihre Nierenspende öffentlich gemacht haben, stieg die Zahl der Organspender sprunghaft an. Inzwischen liegt sie auf einem dramatischen Tiefpunkt. Warum ist das wichtige Thema aus dem Blick der Öffentlichkeit geraten?

Elke Büdenbender: Viele Menschen scheuen sich davor, sich mit der eigenen Endlichkeit zu befassen, und schieben deshalb eine Entscheidung über Organspenden hinaus. Ich kann das gut nachvollziehen. Ich habe mich damit ausführlich beschäftigt und ein Buch dazu veröffentlicht – gemeinsam mit einem Transplantationsmediziner.

Bundespräsident Steinmeier: Jedes Jahr sterben viele Menschen in unserem Land, die nicht sterben müssten, wenn genügend Organe zur Verfügung stünden. Seit dem ersten Transplantationsgesetz hat Politik immer wieder versucht, die Zahl der postmortalen Organspenden zu erhöhen. Bisher ist es noch nicht einmal gelungen, die Menschen zu einer Entscheidung zu verpflichten, sich für oder gegen die Organspende auszusprechen. Gleichzeitig profitieren wir von der deutlich höheren Spendenbereitschaft im europäischen Ausland, im Eurotransplant-Verbund. Das hängt wiederum damit zusammen, dass in Deutschland die Organentnahme nach dem Tod nur bei vorher erklärtem Einverständnis des Spenders möglich ist, während in Nachbarländern wie Österreich, den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Spanien oder Portugal die Organentnahme möglich ist, wenn der Betroffene nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen hat.

Braucht es Vorbilder wie Sie, damit die Menschen sich mit dieser Frage auseinandersetzen?

Bundespräsident Steinmeier: Vorbilder sind das eine. Das andere ist, dass wir uns ehrlich machen. Wir haben die Widerspruchslösung bisher vermieden, weil wir gehofft haben, dass andere Maßnahmen zu einem erhöhten Spendenaufkommen beitragen. Das hat nicht geklappt. Selbstverständlich dürfen wir niemanden zwingen, sich für eine postmortale Organspende zu entscheiden; die Organspende ist freiwillig und muss freiwillig bleiben. Aber ich bin heute der Meinung, dass wir uns der Widerspruchslösung öffnen sollten. Ich will die ethischen Bedenken nicht wegreden. Es ist aber ein Widerspruch, wenn wir die Widerspruchslösung im eigenen Land ablehnen und zugleich die Organe aus anderen Ländern, wo die Widerspruchslösung gilt, gerne annehmen. Wir begreifen uns als verantwortungsbewusste, mündige Bürger, und deshalb können wir uns auch abverlangen, eine Entscheidung zu treffen zur Organspende. Wer sich nicht vorstellen kann, nach seinem Tod Organe zu spenden, dem kann zugemutet werden, den Widerspruch in einem Register oder auch im Personalausweis oder Führerschein zu hinterlegen. Ich freue mich, dass die Debatte darüber durch eine Initiative im Bundesrat wieder in Gang gekommen ist.

Elke Büdenbender: Als Betroffene kann ich nur sagen, die Spende hat mir ein Leben geschenkt. Ich denke, dass man durch Aufklärungsgespräche überzeugen kann. Wir haben damals so viele Zuschriften bekommen, darunter auch von Kindern, die mit einem fremden Organ gerettet wurden. Diese positiven Beispiele und die berührenden Schicksale müssen wir erzählen.

Es mag eine seltsame Frage sein, aber spüren Sie die Niere Ihres Mannes?

Elke Büdenbender: Ja, er ist ein Teil von mir.

Wie lange haben Sie damals darüber nachgedacht, ob Sie Ihrer Frau eine Niere spenden?

Elke Büdenbender: Ehrlich gesagt, hat mein Mann es mir schon gesagt, als ich mit unserer Tochter aus dem Krankenhaus kam.

Bundespräsident Steinmeier: Meine Frau hatte bei der Geburt einen Totalausfall der Nieren. Trotz medizinischer Unterstützung war klar, dass sich die Frage der Transplantation irgendwann stellen würde. Dank ihrer enormen Disziplin hat es 14 Jahre gedauert, bis die Transplantation notwendig wurde. Aber dass ich ihr eine Niere spenden würde, war für mich sofort klar.

Ist das Erlebte eine Geschichte, die sie sich manchmal erzählen, weil sie ein wichtiger Teil Ihrer Liebe ist?

Bundespräsident Steinmeier: Die medizinischen Fragen sind das eine, da hatten wir exzellente Ärzte an unserer Seite. Aber als der OP-Termin näher rückte, mussten wir mit unserer Tochter sprechen, die damals 14 war. Das war ein hartes Gespräch. Daran erinnert man sich auch noch nach 14 Jahren.

Elke Büdenbender: Ich hoffe, wir wären auch ohne meine Krankheit für immer miteinander verbunden. Meine Sorge um meinen Mann ist nun allerdings ein bisschen größer geworden, denn er hat jetzt auch nur noch eine Niere. Er hat zwar eine enorme gesundheitliche Kondition, dennoch sorge ich dafür, dass er sich regelmäßig untersuchen lässt, damit ich beruhigt sein kann.

Bedeutet eine geschenkte Niere eine stärkere Verbundenheit als ein Ehering?

Elke Büdenbender: Ja. Auch wenn das nicht bedeutet, dass man sich danach nie mehr streitet.

Das Interview führte Katrin Sachse