Herzlich willkommen zu diesem "BR24 Extra" mit dem Bundespräsidenten hier in Weiden, Frank-Walter Steinmeier. Guten Abend!
Guten Tag, Herr Nitsche.
Lassen Sie uns doch mal mit der EM starten. Wie ging es Ihnen da? Haben Sie da losgebrüllt bei dem 1:1 gegen die Schweiz?
Da auch, aber noch mehr erinnere ich mich an das Eröffnungsspiel in München – ein wunderbares Spiel mit einer Klassestimmung im Stadion. Was übrigens nicht nur an den deutschen Zuschauern, sondern auch an den Schotten lag, die ja das einzige Tor, was fiel, was sogar ein Eigentor der deutschen Mannschaft war, gefeiert haben, als wäre das Spiel gerade umgekippt zu ihren Gunsten. Aber mehr gezittert haben wir in der Tat beim letzten Spiel gegen die Schweiz, und Sie haben die Entlastung vielleicht, die ich gespürt habe, auf den Fotos auch gesehen, die um die Welt gingen.
Ja. Wir waren mal Weltmeister, 1974, da waren Sie 18 Jahre alt. Wie haben Sie – können Sie sich erinnern – damals gefeiert, und haben Sie auch die Nationalhymne gesungen?
Ob ich letzteres getan habe, das weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Die erste Weltmeisterschaft, an die ich mich in der Tat erinnere, war 1966 in England mit dem berühmten Wembley-Tor, 1970 dann Mexiko und 1974 das große Turnier mit Deutschland als Weltmeister. Ich erinnere mich noch gut an das eine oder andere Spiel und vor allen Dingen auch die Spieler jener Zeit. Karl-Heinz Schnellinger, der gegen Italien das entscheidende Tor für die Verlängerung geschossen hat, ist bedauerlicherweise gerade gestorben.
Wir hatten 2006 die WM im Land, und Sie haben damals die Begeisterung der Deutschen gelobt und haben gesagt, dass das auch zu einem positiven Deutschlandbild in der Welt beigetragen hat. Hat diese EM, auch nach der Europawahl mit diesen Ergebnissen, die gleiche Chance, in der Welt so ein Bild zu verändern?
Das erste, was ich dazu sage, ist: So was kann man ja nicht planen, man kann Euphorie nicht planen. Ich würde sagen, die Stimmung, die 2006 herrschte, die haben wir uns selbst gar nicht zugetraut. Wir waren ja überrascht von uns selbst [lacht]. Und viele haben jetzt gesagt: Das müssen wir jetzt in diesem Jahr 2024 wieder schaffen. Schön wäre es, aber die Welt ist eben auch eine andere, in der dieses Turnier stattfindet. Da hinein ragen Kriege und Krisen, die die Stimmung auch beeinflussen und die ein ganz unbefangenes, unbeschwertes Feiern vielleicht für jeden auch nicht zulassen. Trotzdem finde ich, seit dem Eröffnungsspiel hat sich die Stimmung im Lande günstig entwickelt, und je länger die deutsche Mannschaft im Turnier ist, umso mehr wird das auch anhalten. Ich hoffe sehr auf den nächsten Samstag – den Achtelfinalgegner werden wir im Laufe des heutigen Abends kennenlernen.
Blicken wir noch mal auf die Europawahl zurück. Da haben wir gesehen diese Spaltung im Land – also, die stärkste Partei fast flächendeckend im sogenannten Westen war die Union, im Osten fast flächendeckend die AfD. Registrieren Sie eine viel stärkere politische Spaltung in diesem alten Grenzverlauf?
Erstens: Das können wir überhaupt nicht ignorieren, die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse. Im Übrigen würde ich vielleicht auch einen Schritt vorher anfangen und sagen: Dieses Bild einer doch zerrissenen Landschaft zeigt sich ja mit dem Blick auf ganz Europa. Die ersten Kommentierungen der Europawahl waren ja: deutlicher Rechtsruck. Wenn man genauer hinschaut, ergibt sich ein wirklich gemischtes Bild. Wir haben Wahlergebnisse in Schweden, in Polen, in Spanien, die – sagen wir mal – den europafeindlichen Populisten gerade nicht in die Hände gespielt haben, wo die demokratischen Kräfte deutlich im Vorteil waren. Und wir haben, das wollen wir nicht verschweigen, Ergebnisse in Frankreich, in Österreich und auch in Deutschland, die europafeindlichen Populisten ein bemerkenswertes Wachstum an Stimmen eingebracht haben. Und das ist nicht eben irgendwas! Wenn in der Mitte Europas zwei, drei große Länder Desintegrationsbestrebungen zeigen, dann ist das für Europa nicht ganz ungefährlich. Insofern sind diese Wahlergebnisse in Frankreich, in Deutschland schon auch etwas, was Besorgnis auslösen muss. In der Tat aber auch, Sie haben es angesprochen, die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse, die sich auf der deutschen Landkarte abzeichnen. Das ist ein deutlicher Unterschied östlich der Elbe und westlich der Elbe.
Wie bewerten Sie das?
Dass man arbeiten muss. Ich bin ja ein Gegner, wie Sie wissen … ich sage immer wieder: Es hilft überhaupt nichts in solchen Situationen wie der, in der wir sind – in einer Situation der Dauerkrise, in der "Krise" fast zur Normalität unserer heutigen Gesellschaft geworden ist –, jeden Abend den Untergang des Landes herbeizurufen, sondern dagegen muss man arbeiten. Und dagegen arbeiten heißt, dass Regierungen solide arbeiten, dass Regierungen und Politik insgesamt sich bemühen müssen, die Bedürfnisse und Sorgen der Bevölkerung richtig aufzugreifen. Und es gehört auch dazu, wenn ich das verknüpfen darf mit meiner Präsenz hier, es gehört auch dazu, dass Politik ganz einfach präsent ist bei den Menschen. Und gerade dort – das sage ich nicht nur für den Osten unseres Landes, aber da höre ich es am häufigsten –, gerade dort, wo die Menschen den Eindruck haben, nicht genügend gesehen oder nicht genügend gehört zu werden, da besonders muss Politik präsent sein. Deshalb habe ich vor zwei Jahren die Entscheidung getroffen, immer wieder rauszugehen aus dem Schloss Bellevue, aus Berlin, in Regionen, die weder nah an Berlin sind noch nah an den Landeshauptstädten, um dort genauer hinzuhören.
Warum haben Sie sich Weiden ausgesucht?
Ganz einfach: Wir haben ein Suchraster, das uns aufgibt, kleinere und mittlere Städte in Augenschein zu nehmen, in denen nicht alles ganz blank poliert ist, sondern in denen auch Wechsel und Veränderung stattfindet. Und das ist hier in Weiden in klassischer Art und Weise der Fall. Wir haben hier eine traditionsreiche Industrie auf der einen Seite, die Porzellanherstellung, die von Veränderungen, auch von Sorgen betroffen ist. Wir haben auf der anderen Seite, Stichwort "Zeitenwende", einen ganz wichtigen Bundeswehrstandort, der hier ein wichtiger Arbeitgeber ist, in dem auch viel Veränderung stattfindet. Alles das werden wir in den kommenden zwei Tagen sehen. Und deshalb: Es ist jetzt die elfte "Ortszeit"; sechs davon haben im Osten stattgefunden, vier im Westen. Dies ist die erste in Bayern, und wir sind, glaube ich, hier im richtigen Ort.
Sie haben vorhin von Ängsten gesprochen, kumuliert in einer Zukunftsangst. Dahinter stecken sicher verschiedene Ängste, also Kriegsangst, Jobangst, Angst vor Klimawandel, Angst vor Migration auch. Wie kann Politik es schaffen, dass die Menschen wieder nach vorne schauen können, positiver in die Zukunft blicken können? Was muss sich da ändern?
Dazu gehört zum Beispiel das, was ich vorhin gesagt habe: nicht nur sozusagen Verzweiflung zu äußern, nicht nur den Eindruck zu äußern, hier in diesem Lande ändert sich ja nichts, sondern hin und wieder auch darauf zu verweisen, wo unsere eigenen Stärken liegen. Und vielleicht hängt es mit meinem Alter und den Jahren in der Politik zusammen – das ist nicht die erste Krisensituation, die ich erlebe. Wenn ich zurückdenke an die Situation vor 20 Jahren, als wir mit 6 Millionen Arbeitslosen zu kämpfen hatten, Arbeitslosigkeit, die in jeder Familie größte Sorgen ausgelöst hat: Wir haben es auch in diesen Zeiten immer wieder geschafft, uns aus Krisensituationen zu befreien.
Das ist keine der üblichen Krisen, in der wir jetzt gegenwärtig sind. Da ist viel aufeinandergewachsen. Wir haben im letzten Jahrzehnt die Wirtschafts- und Finanzkrise, wir haben die Euro-Krise, wir haben die erhöhte Flüchtlingsmigration, Corona gehabt. Und dann war Corona kaum zu Ende, brach Russland den Krieg gegen die Ukraine vom Zaun. Alles das hat Folgen, und das hinterlässt Spuren, wenn ich das so sagen darf, in der Sozialpsychologie einer Gesellschaft; ich könnte auch sagen: bei den Menschen, die versuchen, mit dieser Krise zurechtzukommen. Und nicht alle Menschen gehen in gleicher Weise damit um. Manche ziehen sich zurück – Sie kennen wahrscheinlich auch viele in Ihrer Nachbarschaft, die sagen, ich schaue mir keine Nachrichten mehr an, das macht nur schlechte Laune. Andere ziehen für sich daraus den Schluss, sich zu engagieren, in Verantwortung zu gehen. Und deshalb versuche ich auch immer wieder, auch hier in Weiden, Menschen zu treffen, die, wie ich finde, die richtigen Schlüsse daraus ziehen: in Verantwortung zu gehen, sei es als Ehrenamtliche in der Kommunalpolitik oder sei es in vielen anderen Ehrenämtern.
Sie treffen ja auch Jugendliche jetzt hier in Weiden, habe ich gehört, und die haben ja jetzt nicht diese Lebensperspektive, diese Erfahrung, die Sie jetzt gerade geschildert haben. Aber trotzdem suchen sie nach Perspektiven, und manche, sicherlich nicht groß unterschiedlich zum Bevölkerungsdurchschnitt, wählen dann eben doch auch extrem. Wie werden Sie dem gerecht als Politiker, mit den Jugendlichen das aufzuarbeiten?
Corona war nicht verantwortlich dafür, dass viele Jugendliche heute möglicherweise rechtsextrem wählen, aber es gibt einen Zusammenhang, der vielleicht hinter dem Vorhang ist, und da will ich es begrüßen, dass gegenwärtig darüber diskutiert wird, die Corona-Krise noch mal aufzuarbeiten. Es wird sich bei der Aufarbeitung zeigen, dass der einfache Schuldvorwurf an die Politik – Landespolitik oder Bundespolitik – wahrscheinlich nicht in allen Punkten gerechtfertigt ist. Professor Drosten hat noch mal darauf hingewiesen: Am Anfang wusste man eigentlich wenig oder nichts. Man musste austesten, was am besten hilft gegen die Ausbreitung. Aber ich bin mir sicher, eines haben wir unterschätzt, und das sind die Langzeitfolgen von einzelnen Maßnahmen gerade bei Jugendlichen, die noch keinen eigenen Umgang mit der Sache, mit dem Lockdown, mit der Schließung von Schulen finden konnten, die aber in der Zeit keine Sozialkontakte mehr hatten, die Freunde und Freundinnen verloren haben. Da hat sich etwas abgelagert, was, glaube ich, ein Teil mangelnder Zukunftsaussicht oder mangelnder Zukunftsperspektive ist. Denn wenn wir jetzt mal die Arbeitsmöglichkeiten und Ausbildungsmöglichkeiten betrachten, so würde ich sagen: Mit Blick auf den Mangel an Facharbeitskräften, den wir gegenwärtig haben, gab es eigentlich in den letzten Jahrzehnten kaum eine günstigere Situation für junge Menschen, in Arbeit zu kommen, auch anspruchsvolle Ausbildungsberufe anzustreben.
Ich würde gern ein Thema aufgreifen, das natürlich auch in Bayern ein größeres ist, aber in den Umfragen sich spiegelt: Migration. Viele sagen, Europa muss sich abschotten, auch um Extremismus kleinzuhalten oder die Demokratie stabil zu halten. Gehen Sie bei so einem Muster mit zu so einem Weg raus aus der Krise?
Für mich ist es keine neue Position, sondern ich habe immer gesagt: Wir müssen Migration steuern. Wir müssen eine Steuerungsmöglichkeit für die Zugänge nach Deutschland haben. Und ich habe vor Jahren – 2016, 2017 schon – öffentlich in einem Artikel geschrieben: Uns werden möglicherweise nicht eine Million Flüchtlinge dauerhaft beschäftigen, aber wir müssen halt sehen, dass das nicht jedes Jahr in dieser Größenordnung stattfinden kann. Insofern sind die Maßnahmen, die jetzt auf der europäischen Ebene (endlich) verabredet worden sind, wichtig, aber daneben, glaube ich, dürfen wir nicht verkennen, dass es in der Gesellschaft, bei den Bürgerinnen und Bürgern die Erwartung gibt, dass die großen demokratischen Parteien in dieser für sie wichtigen Frage, Migration und Flucht, auch Formen der Zusammenarbeit finden. Es gab bei dem letzten Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition ja so Andeutungen davon, dass man anders als in der jüngeren Vergangenheit sich Kooperation vorstellen kann. Ich hoffe, es kommt dazu.
Thema Polarisierung: Was sehr extrem ist, ist der Anstieg der antisemitischen Vorfälle, haben wir jetzt lesen können – 83 Prozent angestiegen im vergangenen Jahr. Wie schockiert sind Sie durch so eine Entwicklung?
Wir haben einen besorgniserregenden Anstieg politisch motivierter Gewalt. Wenn ich Ihnen nur einen Ausschnitt aus meinem Terminkalender der letzten Tage erzähle: Ich war gerade bei der fünfjährigen Gedenkfeier, die an die Ermordung von Walter Lübcke erinnert hat, kurz danach in Mannheim zum Gedenken an den ermordeten Polizisten, wenige Tage später in Köln in Erinnerung an den NSU-Anschlag damals, den sogenannten Nagelbombenanschlag. Das alles deutet darauf hin, dass politisch motivierte Gewalt in dieser Gesellschaft zugenommen hat. Und ich sage auch hier noch mal sehr betont: Wir müssen uns im Klaren sein – Gewalt zerstört Demokratie. Deshalb müssen wir alle ein Interesse daran haben, dass das, was Gewalt vorbereitet, soweit wie möglich verhindert wird. Sie haben gefragt nach Antisemitismus und antisemitischer Gewalt: Das ist in Deutschland besonders bedrückend – ein Land mit unserer Geschichte! Und besonders bedrückend finde ich auch, dass die antisemitische Gewalt nach dem 7. Oktober, nachdem Israel zum Opfer geworden ist, in einem solchen Maße zugenommen hat. Wir müssen mit allen Möglichkeiten, die wir haben, staatlicherseits sowieso, aber auch mit den Mitteln gesellschaftlichen Bürgermuts dagegenhalten. Antisemitismus darf in diesem Lande keinen Platz haben.
Jetzt verlieren viele, wie es scheint, aber man sieht es auch in den Umfragen, den Glauben an die Demokratie. Das ist ja schon für eine Demokratie, eine der wenigen auf dieser Welt, eine wirklich schwierige Entwicklung. Wir leisten extreme Bildungsarbeit, damit das eigentlich nicht passiert, und trotzdem gibt es dies. Und es gibt eben, wie schon angesprochen, auch diejenigen, die mit Gleichgültigkeit darüber wegsehen, dass extreme Parteien diesen Zuwachs in Deutschland haben.
Wir haben, glaube ich, eine Phase wirtschaftlichen und politischen Erfolgs hinter uns die letzten 18 Jahre, bei denen viele den Eindruck gehabt haben, politische Stabilität und wirtschaftlicher Erfolg kommt ganz von selbst und das hat mit Politik nichts zu tun. Demokratie ist aber etwas anderes: Demokratie lebt vom Einsatzwillen, vom Engagement ihrer Bürger, und wir müssen uns selbst wieder wachrütteln und sagen, dass wir dieses Engagement der Bürgerinnen und Bürger brauchen.
Müssen sich Politiker da auch selbst wachrütteln?
Politiker sich selbst vielleicht auch, aber ich glaube, wir müssen gerade darüber auch das Gespräch mit der Gesellschaft wieder führen. Das zweite ist, und da ist meine Antwort möglicherweise noch eher vorläufig: Wir haben jetzt eine erste Generation, die ganz und gar mit sozialen Medien groß wird. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass sich die 16- bis 20-Jährigen, wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe, zu 40 Prozent nur noch aus den sozialen Medien informieren, und da [zunehmend] in Tiktok. Und nun wissen Sie selbst: Wir informieren uns noch in klassischen Zeitungen, möglicherweise auch in einzelnen sozialen Medien, die den klassischen Printmedien benachbart sind – die jungen Menschen, die heute nur noch über Tiktok gehen, die informieren sich ja weniger, als dass sie viel mehr von Tiktok informiert werden. Will sagen: Die Technologie, die hinter Tiktok liegt, sorgt dafür, dass etwas, was sie mal angeklickt haben, dann in schrillerer Form wiederholt wird, und das erzeugt halt Radikalisierungsprozesse, mit denen wir politisch noch nicht umzugehen in der Lage sind. Und vorläufig ist meine Antwort deshalb, weil das Gegenrezept, nach dem immer gerufen wird – alle anderen Parteien sollten genauso aktiv auf Tiktok sein –, mich noch etwas zweifeln lässt. Weil natürlich für jemanden, der differenzieren will, der Nachdenklichkeit erzeugen will, der möglicherweise Bereitschaft zum Kompromiss herstellen will, für den ist Tiktok ein ungeeignetes Medium. Weil: Tiktok ist schwarz, weiß, ja, nein, das ist nicht auf Differenzierung angelegt. Insofern, glaube ich, müssen wir noch etwas kreativer sein, als nur darauf zu verweisen, na, wenn andere auf Tiktok sind, dann wir eben auch.
Ihr Stichwort "Bereitschaft zum Kompromiss" würde ich mal aufgreifen. Wir sehen einen Haushaltsstreit, veritabel, in Berlin auf Regierungsebene. Und da fragt man sich ja auch, weil diese Forderungen ja auch in diesen Tagen immer wieder aufkommen: Wird es Neuwahlen geben? Wie stehen Sie als Bundespräsident zu so einem Szenario?
Als Bundespräsident bin ich auf alle Möglichkeiten und Eventualitäten vorbereitet, natürlich. Die verfassungsrechtlichen Kompetenzen sind sehr, sehr klar geregelt. Und ich schaue mit Interesse auf den Verständigungsprozess, die Verständigungsbemühungen, die im Augenblick innerhalb der Bundesregierung laufen für den Haushalt 2025. Aber meine prophetischen Sehensmöglichkeiten sind beschränkt, deshalb weiß ich nicht, ob die Verlängerung der Beratungszeit, die man sich jetzt erlaubt hat in der Regierung – ich glaube, bis zum 15. Juli will man zum Ergebnis kommen –, ob die Verlängerung der Beratungszeit die Aussichten auf eine Verständigung erhöhen wird. Ich kann da auch nicht genauer hineinschauen – die Glaskugel habe ich jetzt nicht bei mir.
Sind Sie aber enttäuscht – Sie haben hier viele Gespräche mit Bürgern, versuchen, Politik zu erläutern, und dann blicken Sie selbst von Schloss Bellevue ins Regierungsviertel hinein und sehen, dort kommt man nicht voran?
Ob man nicht vorankommt, weiß ich ja noch nicht. Das werden wir in drei Wochen sehen, ob man nicht vorankommt. Aber die Verständigungsbemühungen innerhalb einer Dreierkoalition sind schon etwas, was die Menschen von außen manchmal mit Unverständnis, mindestens mit Ungeduld betrachten. In dieser schwierigen Haushaltsfrage allerdings habe ich Verständnis dafür, dass man die so ganz leicht angesichts der Beengtheiten, die wir haben – einerseits die Notwendigkeit von Transformationen im Bereich der Energiewende, dann, die Zeitenwende bei dem Ausbau unseres militärischen Schutzes zu finanzieren bei gleichzeitiger Geltung des Schuldenbremse – das ist schon nicht so einfach, und ich kann verstehen, dass bei diesem Haushalt die Beratungsmöglichkeiten, die es gibt, ausgeschöpft werden. Ich hoffe, sie führen am Ende auch zu einer Verständigung.
Blicken wir mal nach Frankreich. Da hat ja Präsident Macron Neuwahlen ausgerufen, und wir sehen in den Umfragen – und die Wahlen stehen kurz bevor –, dass die Rechtspopulisten die stärkste Kraft sind im Moment. Wie wichtig ist diese Wahl für Europa?
Ja, ich habe das vorhin angedeutet, nicht wissend, dass wir darauf noch mal zurückkommen werden: In der Tat, wenn sich in einem wichtigen europäischen Land eine europafeindliche, populistische Partei durchsetzen wird und Regierungspolitik maßgeblich bestimmen wird, dann kann das Desintegrationsprozesse in der Europäischen Union auslösen, wenn andere nicht dagegenhalten. Nun ist es nach der französischen Verfassung etwas anders: Der französische Präsident hat eine ganz starke, exekutive Stellung; Außen- und Sicherheitspolitik liegen nicht in der Regierung, sondern beim Präsidenten, und diese Befugnisse hat jeder Präsident in Frankreich auch erschöpfend ausgeübt. Wie viel Spielraum dann tatsächlich für eine in der Anlage eher europafeindliche bis -skeptische Partei, wie viele Möglichkeiten dann für eine solche Partei in Regierungsämtern bestehen, können wir nicht voraussehen. Im Übrigen: Die Wahl, wie Sie gesagt haben, liegt noch vor uns, und ich möchte jetzt auch das Ergebnis nicht vorwegnehmen. Die Umfragen, die Sie zitiert haben, sehe ich natürlich auch.
Wir haben viel über Probleme in dem Interview gesprochen, aber auch über Zuversicht. Und jetzt enden wir mit einer Frage, die an das Thema vom Anfang anknüpft: Werden wir Europameister?
Also, ich habe die Mannschaft im Trainingslager besucht, und ich habe bei einer Nationalmannschaft selten so viel Ehrgeiz, Leidenschaft und Euphorie gesehen wie jetzt in diesem Jahr. Das ist eine gute Voraussetzung. Ob man allein damit Europameister wird, das wissen wir beide natürlich nicht. Aber – hoffen wir auf weiterhin so gute Spiele, wie wir sie vor allen Dingen in den ersten beiden gesehen haben; hoffen wir darauf, dass die deutsche Mannschaft in diesem Turnier möglichst lange vertreten ist. Und, klar, wünschen dürfen wir uns, dass wir Europameister werden.
Okay, wir nehmen die Wünsche mit. Vielen Dank für dieses Interview. Und Ihnen vielen Dank fürs Zuschauen.
Die Fragen stellte: Christian Nitsche