"Krise ist kein Schicksal"

Schwerpunktthema: Interview

15. März 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Tageszeitung Westfalen-Blatt während der "Ortszeit Espelkamp" ein Interview gegeben, das am 15. März erschienen ist.

Bundespräsident Steinmeier gibt der regionalen Tageszeitung Westfalen-Blatt ein Interview

Herr Bundespräsident, wie nehmen Sie die Stimmung im Land wahr?

Viele Menschen sind besorgt und das verstehe ich. Wir alle haben nicht an die Rückkehr des Krieges nach Europa geglaubt. Wir haben gehofft, dass nach dem Kalten Krieg eine europäische Sicherheitsarchitektur Frieden hält. Putin, Russland hat diesen Frieden und damit auch diese europäische Sicherheitsarchitektur, an der Generationen gearbeitet haben, gebrochen. Dazu ein Krieg im Nahen Osten, der die Menschen gerade hier in Deutschland in besonderer Weise berührt und besorgt. Aufeinanderfolgende Krisen im eigenen Land. Wir leben in einer Gesellschaft unter Dauerstress. Das verunsichert, und das prägt die Stimmung.

Führt der Stress dazu, dass wir unsere Lage schlechter reden, als sie ist?

Wirtschaftlich gesehen sind die jetzt prognostizierten 0,2 Prozent Wachstum sicherlich kein Grund zum Jubeln. Wir sind in einer wirtschaftlichen Krise, die auch unser Land betrifft. Deutschland ist stark vom Export abhängig. Zugleich sehen wir, dass wichtige Abnehmerländer wie China an Wirtschaftskraft verlieren. Das hat Auswirkungen auf unsere Konjunktur, die im Augenblick sehr schwach ist.

Hört sich aber tatsächlich alles andere als gut an.

Wir hatten fast zwanzig wirtschaftlich sehr gute Jahre. Jahre mit Rückenwind, die andere Länder nicht hatten. Jetzt weht uns der Wind ein wenig ins Gesicht. Ich reihe mich dennoch nicht ein in den Chor derjenigen, die unser Land in den Abgrund reden. Meine Erfahrung aus vielen Jahren Politik ist, dass Pessimismus lähmt und dass Krise kein Schicksal ist. Wenn wir uns ein bisschen auf unsere eigenen Stärken besinnen – auch auf die Vergangenheit der letzten drei, dreieinhalb Jahrzehnte – dann müssten wir doch eigentlich wissen, dass wir immer wieder Krisen durchlebt haben und uns aus ihnen herausarbeiten konnten. Das sollte uns auch jetzt Selbstbewusstsein vermitteln.

Welche Ängste erleben Sie als vorherrschend?

Das ist regional unterschiedlich. Das spüre ich während meiner "Ortszeiten" wie hier in Espelkamp, aber auch in vielen kleineren und mittleren Städten in Ostdeutschland. In einigen ehemaligen Industrieregionen stehen eher wirtschaftliche Sorgen im Vordergrund. In anderen Teilen unseres Landes beschäftigt die Menschen vor allem der Krieg und die schwierige Suche nach Wegen zum Frieden. Oder es ist die Sorge um unsere Umwelt und das Klima.

Was kann man, was können Sie gegen die Sorgen tun?

Ich glaube, es ist wichtig zu wissen, dass diese Idee der „Ortszeiten“ nicht aktuell entstanden ist, sondern sie war zunächst das Ergebnis von Beobachtungen, die ich in der Pandemie-Zeit gemacht habe. Nach vielen Gesprächen, die wir am Telefon hatten oder per Videokonferenz geführt haben, war zu spüren, dass der Ton schärfer und rauer wurde, Unversöhnlichkeiten gewachsen sind – nicht nur zwischen denjenigen, die für oder gegen das Impfen waren. Zwei Jahre, in denen ich den Eindruck hatte, dass nicht nur die Distanz zwischen den Menschen und den sozialen Gruppen zunimmt, sondern auch zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Politik. Noch vor Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine habe ich entschieden: Wir warten nicht, bis sich Bürgerprotest in Berlin abbildet, sondern wir müssen Formate und Möglichkeiten finden, indem wir als Repräsentanten von Politik auf die Bürger zugehen. Daraus ist das Format „Ortszeit“ entstanden. Espelkamp ist inzwischen schon meine zehnte Ortszeit.

Was zeichnet die "Ortszeit" aus?

Die Besonderheit ist, dass ich Zeit mitbringe. Drei Tage, das ist richtig viel. Und es lohnt sich, weil ich dadurch die Möglichkeit habe, nicht nur vor Ort mit dem Bürgermeister, mit den Stadtverordneten zu sprechen, sondern tief einzutauchen in das Geschehen und die Gespräche in einer Stadt. Was es besonders spannend macht, sind neben den geplanten Gesprächen vor allem die vielen zufälligen Begegnungen beim Gang durch die Stadt oder wenn ich auf dem Wochenmarkt mit dem Bürgermeister ein Fischbrötchen esse. Aus den vielen Eindrücken und Gesprächen ergibt sich ein Gesamtbild, das mich mit einem relativ vollständigen Bild über den Ort abreisen lässt und hoffentlich den Eindruck hinterlässt, dass ich die Menschen im ländlichen Raum und ihre Sorgen, die sich unterscheiden von denen in größeren Städten, ernst nehme und weiter trage.

Sie haben eben über Unterschiede zwischen den Regionen gesprochen, wo Sie die "Ortszeit" veranstalten. Im Osten scheint die Stimmung besonders schlecht zu sein. Gleichzeitig hat dort die AfD hohe Umfragewerte. Wie lässt sich die Partei im Osten aufhalten?

Es ist ein Unterschied, ob ich mit den Menschen über ihre persönliche Situation oder die allgemeine Lage rede. Viele sagen: Ja, mir persönlich, meiner Familie, geht es eigentlich ganz gut, ich habe nicht zu klagen, ich komme über die Runden, habe meine Wohnung, habe meine Arbeit. Anders sind die Antworten, wenn es ums große politische Ganze geht. Da gibt es leider viele, die die Errungenschaften unserer demokratischen Ordnung in Frage stellen. Das macht solche Gespräche, wie ich sie während der "Ortszeiten" führe, umso notwendiger, weil man einfach widersprechen muss, wenn manche die Lösung in der immer wieder geforderten autoritären starken Hand suchen. Das ist nicht die Zukunft, die wir uns für dieses Land vorstellen sollten.

Was aber heißt das mit Blick auf die Landtagswahlen im Osten?

Ich bin sehr froh darüber, dass die Recherchen Ihrer journalistischen Kollegen in einer Potsdamer Villa für ein Aufwachen gesorgt haben. Dass endlich begriffen wird, in welche Zukunft Extremisten unser Land führen wollen. Wenn sich in der Folge Menschen mit ganz unterschiedlicher politischer Heimat, aus dem gesamten politischen Spektrum der demokratischen Mitte zusammenfinden – Jung und Alt, Stadt und Land –, um nicht gegen etwas auf die Straße zu gehen, sondern für die Demokratie, dann hat sich etwas in die richtige Richtung bewegt in diesem Land. Ich bin nicht blauäugig und weiß, dass Demonstrationen ihre Zeit haben. Deshalb kommt es jetzt darauf an, dass diese Debatte über das, was es in der Demokratie zu verteidigen gilt, auch im Alltag der Menschen ankommt.

Und wo sehen Sie den Auftrag für die Politik?

Ich glaube, hier geht es zunächst um was ganz anderes. Nämlich darum, eine Grenze zu formulieren. Auf der einen Seite stehen die Demokraten ganz unterschiedlicher Prägung – das ganz breite Spektrum der demokratischen Mitte – und auf der anderen Seite diejenigen, die die Demokratie verachten und zerstören wollen. Diese Abgrenzung schafft Politik nicht alleine. Es braucht diese demokratische Mitte, die sich aktiv für den Schutz der Demokratie einsetzen muss und dies als ihr Anliegen versteht.

Sehen Sie es uns nach, wenn wir die Frage nochmal stellen: Wie lässt sich die AfD im Osten aufhalten?

Durch gute Politik und durch Engagement derjenigen, die Politik verantworten in diesen Ländern. Wenn ich zum Beispiel auf jemanden schaue wie den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, der mit einem wirklich bewundernswerten Engagement in alle Regionen seines Landes geht, nötigt mir das großen Respekt ab. Er redet vor Foren, die ungemütlich sind für Politiker. Wir müssen dankbar sein, dass es Menschen in Verantwortung gibt, die sich dem immer wieder aussetzen. Selbst wenn der Erfolg nicht am gleichen Tage eintritt. Demokratie ist kein Kurzstreckenlauf, sie verlangt Marathonqualitäten.

Würden Sie sich auch so anschreien lassen?

Das scheint bei manchen Akteuren ja zur Gewohnheit zu werden. Viele haben Beschimpfungen in rüdester Form erfahren, und mich hat es auch schon getroffen.

Gehen Sie da wieder hin, wo Sie so angeschrien werden?

Vor der "Ortszeit" in Freiberg in Sachsen im Dezember 2022 zum Beispiel bin ich gefragt worden: Willst du da als Bundespräsident wirklich hingehen? Die Störer bereiten sich doch schon vor! Auch in Senftenberg im Mai 2023 gab es eine Demonstration gegen die Anwesenheit des Bundespräsidenten. Mich beunruhigt das nicht, denn die Zahl derer, die auf dem Marktplatz zusammengekommen waren, um den Bundespräsidenten zu begrüßen und ins Gespräch zu kommen, Fragen zu stellen, war viel, viel größer als die Zahl der Gegendemonstranten.

Sollte die AfD verboten werden?

Im Moment arbeitet das Bundesamt für Verfassungsschutz daran, Belege vorzulegen, die gerade Gegenstand von gerichtlichen Verhandlungen am Oberverwaltungsgericht in Münster sind. Es geht um die Frage, ob eine Einstufung dieser Partei als verfassungsfeindlich zu rechtfertigen ist. Das Verfahren dazu ist noch nicht abgeschlossen. Ich gehe nicht davon aus, dass das schon das Ende der gerichtlichen Auseinandersetzung sein wird. Umso wichtiger ist es, die Grenze zwischen Demokraten und Extremisten immer wieder politisch deutlich zu machen.

Sie bleiben also Optimist, dass die demokratischen Parteien sich durchsetzen?

Was ich vorhin über die Wirtschaft gesagt habe, gilt auch für die Politik. Der alte Satz meines Freundes Schimon Peres, der gesagt hat: Pessimismus lähmt. Und wenn wir uns in Larmoyanz und Selbstmitleid ergießen, dann wird uns niemand die Lösungen für die offenbar bestehenden Probleme präsentieren, sondern wir sind es selbst, die handeln müssen. Wir sind es selbst, die Demokratie verteidigen müssen.

Inwiefern braucht es besseres Regierungshandwerk, damit das Zutrauen wieder zurückkehrt?

Die Menschen sind nicht so blauäugig, dass sie glauben, in der Politik kann und darf nicht gestritten werden. Wenn aber diejenigen, die eine gemeinsame Koalition gebildet haben, in kurzen Abständen immer wieder ihre Uneinigkeit öffentlich austragen, löst das Unzufriedenheit aus. Das ist nicht unbedingt eine Erkenntnis allein des Bundespräsidenten, sondern wir haben Vertreter der Regierung gehört, die diese Besorgnisse in gleicher Weise geäußert haben. Nur abgestellt ist es nicht.

Sie haben jetzt hier auch bei der "Ortszeit" mehrfach darauf hingewiesen, dass Sie besorgt sind über die Debattenkultur bei uns im Land, auch jenseits von extremistischen Auswüchsen. Hat Sie in Bürgergesprächen aber auch schon mal jemand so genervt, dass Sie gesagt haben: Das ist zwecklos, das hätte ich mir sparen können?

Zwecklos nicht, aber dass man von Diskussionen und Diskussionsbeiträgen auch genervt sein kann, das muss ich schon deshalb sagen, weil Sie mir etwas anderes gar nicht glauben würden. (lacht)

Aber im Ernst?

Es sind manchmal Debattenbeiträge, manchmal sind es unverschämte Rufe vom Rand aus oder auch Demonstrationen, die sich abstrus gar nicht gegen eine Person, sondern gegen "die Politik" richten. Das, was mich wirklich besorgt, ist, dass wir Trends in fast allen westlichen liberalen Demokratien haben, von denen wir vielleicht noch vor einiger Zeit geglaubt haben, das sei „typisch amerikanisch“. Es ist eine Haltung gegen die vermeintliche Elite, gegen "die da oben": gegen die Politik, gegen die Medien, gegen die Verbände. Und wenn man dann genauer hinschaut, ist aus der Perspektive derjenigen, die diesen Hass schüren, alles Elite. Am Ende bleiben nur die übrig, die haargenau ihrer Meinung sind.

Unsere Branche steht ganz schön unter Druck.

Und deshalb plädiere ich mit Verve dafür, dass wir dafür sorgen, dass nicht die gesamte politische Kommunikation in die sozialen Medien abwandert. Wir müssen Qualitätsmedien behalten, die sich deutlich davon unterscheiden – etwa, was Themen und den Ton der Auseinandersetzung angeht. Es geht darum, bei Kritik an politischen Entscheidungen den Respekt vor den politischen Institutionen nicht zu verlieren. Und was Social Media angelangt: Ich habe es mir abgewöhnt, in die Kommentarspalten meines Instagram-Kontos zu schauen.

Können Sie nach diesen drei Tagen "Ortszeit" schon sagen, was Sie mitnehmen aus Ostwestfalen-Lippe ins Schloss Bellevue?

Der stärkste Eindruck, den ich mitnehme, ist der Besuch in der Bischof-Hermann-Kunst-Schule. Es ist unglaublich, dass Jugendliche, die erst seit drei Monaten in dieser Schule Deutschkurse absolvieren, in der Lage sind, sich mit dem Bundespräsidenten zu unterhalten. Ganz zu schweigen von denjenigen, die bereits die kompletten ersten beiden Stufen dieser intensiven Deutschlernphase hinter sich gebracht haben und in bewundernswerter Weise flüssig formulieren – ohne Zögern und auch mit sicherem Gespür für das, was sie sagen wollen. Mich hat das wirklich begeistert.

Ein Modell aus Ihrer Sicht?

Es ist im ganzen Land eine riesige Herausforderung, dass wir die Kinder der Eingewanderten und Geflüchteten schnell und gut integrieren. Die Schulen und vor allem die Beherrschung der deutschen Sprache sind dabei der Schlüssel. Deshalb möchte ich allen zurufen: Schaut nach Espelkamp! Die Erfolge, die ich dort bestaune, lassen sich in anderen Regionen unseres Landes nachahmen. Denn es ist im Interesse von uns allen, den neu hinzugekommenen jungen Menschen schnellen Zugang in unsere Arbeitswelt zu ermöglichen.

Sie haben auch auf die Stadtgeschichte zurückgeschaut und dabei ist beim Publikum Ihr Wort von der "Espelkamper Mischung" besonders gut angekommen. Sie haben damit eine Kultur des Anpackens und des Miteinanders umschrieben, die einst den schnellen Aufbau dieser Stadt erst möglich gemacht hat. Fehlt uns heute so eine Mentalität in Deutschland?

Was man hier in Espelkamp einfach toll studieren kann: Aus gemeinsamem Tun entsteht Gutes. Wie hier in einer absoluten Mangelsituation Zehntausende von Vertriebenen aufgenommen worden sind; wie aus einer alten Munitionsanstalt mitten im Wald eine neue Stadt entstanden ist; wie diese Stadt vielen zunächst ein Dach über dem Kopf war, dann ein Zuhause, eine Heimat wurde. Das ist bis heute bewundernswert. Aus der gemeinsamen Anstrengung entstand Fortschritt und Entwicklung, aber auch Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt. Genau das brauchen wir auch heute.

Sind wir zu selbstmitleidig?

Natürlich gibt es Probleme und Herausforderungen. Aber Selbstmitleid ist in keinem Fall die richtige Antwort darauf! Es kommt darauf an, zu verändern, was nicht mehr oder noch nicht gut ist. Und da geht oft mehr – auch im Kleinen – als sich die meisten vorstellen können.

Hier hat ja auch die evangelische Kirche beim Aufbau eine große Rolle gespielt. Besorgt es Sie, dass die christlichen Kirchen in Deutschland einen spürbaren Bedeutungsverlust erlitten haben?

Ich bin seit vielen Jahren immer wieder in der evangelischen Kirche engagiert, war auch im Präsidium des evangelischen Kirchentages. Insofern geht mir jeder Bedeutungsverlust nahe. Manch oberflächlicher Kritik bin ich mit dem Satz begegnet, dass nichts besser wird, wenn die Kirche fehlt. Denn mit dem Schwinden der Kirche fehlt eine Institution, die mit dafür sorgt, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu organisieren. Aber ich verkenne nicht: Kirchen haben mit eigenem Fehlverhalten dazu beigetragen, dass sich neben dem Prozess der Säkularisierung, der in fast allen westlichen Gesellschaften zu sehen ist, sich die Zahl der Austritte dramatisch entwickelt hat.

Sie haben schon davon gesprochen: Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt mit Russlands Überfall auf die Ukraine. Sie selbst haben vor geraumer Zeit eingeräumt, sich in Wladimir Putin getäuscht zu haben. Tut Deutschland genug, um die Ukraine zu unterstützen?

Ich bin der festen Auffassung, dass Deutschland mit Selbstbewusstsein auf das schauen kann, was es zur Unterstützung der Ukraine tut. Die Tatsache, dass Deutschland nach den USA der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine ist, ist ja nicht eben wenig.

Ob das die Ukraine auch so sieht?

Ich kann Ihnen aus dem letzten Gespräch mit Präsident Wolodymyr Selensky vor drei Wochen berichten: Er hat sich in höchsten Tönen für die Unterstützung aus Deutschland bedankt. Insbesondere der Schutz von Menschen in vielen ukrainischen Städten, die mit Drohnen und Raketen angegriffen werden, wäre ohne die Flugabwehrsysteme aus Deutschland nicht annähernd zu gewährleisten. Das weiß man in der Ukraine.

Warum wird – auch in dieser Woche ja gleich mehrfach im Bundestag – so erbittert um die Lieferung von Waffen gestritten, aktuell um den Marschflugkörper vom Typ "Taurus"? Und zwar nicht nur zwischen der Regierung und der Opposition, sondern auch innerhalb der Regierung?

Da fragen Sie besser die Beteiligten aus Regierung und Opposition.

Aber Sie haben eine Meinung dazu?

Sagen wir so: Wer jedenfalls vor zwei Jahren, als wir noch um Helme gestritten haben, prognostiziert hätte, dass daraus einmal militärische Unterstützung in der Größenordnung von 28,3 Milliarden Euro wird, wäre wohl für verrückt erklärt worden. Ich denke, wir müssen bei aller notwendigen, auch kontroversen Debatte um Munition und Waffensysteme darauf achten, dass wir unseren eigenen deutschen Beitrag für die Ukraine nicht kleinreden.

Was sagen Sie den Menschen, denen die Ukraine vielleicht nicht egal ist, aber denen die 28,3 Milliarden Euro viel zu viel sind? 

Ja, die treffe ich häufig. Und denen sage ich: Wir sind keine Kriegsbeteiligten und wollen es nicht sein. Aber dieser Krieg geht uns etwas an! Wir sind mit einem völkerrechtlichen System verbunden, das durch kein besseres ersetzt werden kann. Dazu gehört die Charta der Vereinten Nationen. Sie verlangt den Respekt vor den gezogenen Grenzen samt dem Schutz der Unabhängigkeit von Staaten und der Unverletzlichkeit ihres Territoriums. Wenn diese zentralen Prinzipien eines völkerrechtlichen Systems, denen sich übrigens auch der Angreifer Russland verpflichtet hat, eklatant verletzt werden, dann geht uns ein solcher Krieg etwas an. Und dann müssen wir diejenigen, die Opfer von brutalen Angriffen sind, nach Kräften unterstützen.

In den USA wird im November gewählt. Für den Fall, dass Donald Trump wieder US-Präsident wird: Könnte Europa die Ukraine überhaupt alleine unterstützen?

Wir sollten das Wahlergebnis in den Vereinigten Staaten nicht vorwegnehmen. Ich bin zuletzt im Oktober im Weißen Haus gewesen und hatte ein Gespräch mit Präsident Joe Biden, der zuversichtlich und optimistisch wirkt, und über den wir uns immer wieder klarmachen sollten: Er ist ein wirklicher Freund der transatlantischen Beziehungen und der Europäer, insbesondere Deutschlands. Wenn ich das etwas pathetisch formulieren darf: Biden ist ein wirklicher Glücksfall für unser Land. Aber wählen werden die Amerikaner. Und sie werden sich im November für einen der Kandidaten entscheiden.

Was aber heißt das für uns?

Unabhängig von dem Wahlausgang in den USA müssen wir gewiss sein, dass Europa und auch Deutschland erheblich mehr für die eigene Sicherheit werden tun müssen. Denn auch wenn aus der Perspektive Amerikas die transatlantischen Beziehungen hoffentlich wichtig bleiben werden, so werden die transpazifischen Beziehungen, insbesondere das Verhältnis USA-China, viel stärker in den Vordergrund rücken. Deshalb sind wir gut beraten, die Weichenstellung, die mit dem Sondervermögen des Bundes für die Bundeswehr begonnen hat, fortzusetzen und unseren eigenen Verteidigungsbeitrag zu erhöhen und unseren Beitrag für die NATO zu stärken.

Wie könnte es überhaupt zu einem Frieden in der Ukraine kommen?

Der Frieden in der Ukraine könnte morgen eintreten, wenn Putin sich entschlösse, seine Truppen zurückzuziehen. Leider sehen wir dazu keinerlei Bereitschaft. Deshalb bleibt die Aufgabe, die angegriffene Ukraine mit unseren Möglichkeiten zu unterstützen. Und das wirkt, wie bei der gegenwärtigen Stabilisierung der ukrainischen Verteidigungslinie zu sehen ist. Ob aus der gegenwärtigen Situation irgendwann Gespräche oder Verhandlungen entstehen – diese Entscheidung liegt und muss ganz allein in der Ukraine liegen.

Die Fragen stellten: Friederike Niemeyer, Ulrich Windolph und Thomas Hochstätter