"Extremisten waren immer das Unglück unseres Landes“

Schwerpunktthema: Interview

13. Januar 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Süddeutschen Zeitung ein Interview gegeben, das in der Wochenendausgabe vom 13./14. Januar 2024 erschienen ist.

Deutschland hat eine unruhige Woche hinter sich. Die Bauern haben im ganzen Land protestiert. Erst auf Ihrem Neujahrsempfang im Schloss Bellevue haben der Kanzler und der Präsident des Bauernverbands miteinander gesprochen. Hätte Olaf Scholz früher mit den Bauern reden müssen?

Ich finde es in der augenblicklichen Situation dringend notwendig, dass persönliche Gespräche stattfinden. Proteste sind legitim, aber Sprachlosigkeit zwischen der Bundesregierung und den Bauern schadet allen Beteiligten.

Der Unmut der Bauern ist ja nur das augenfälligste Symptom für die Probleme des Kanzlers. Das Vertrauen in seine Regierung ist so niedrig wie noch nie. Und die AfD könnte bei den drei Landtagswahlen in diesem Jahr stärkste Partei werden. Was hat die Bundesregierung da falsch gemacht?

Wir sind in einer außergewöhnlichen Situation. Die vielen aufeinanderfolgenden Krisen schaffen Verunsicherung. Klar ist aber auch: Wenn die Glaubwürdigkeit einer Regierung sinkt, hängt das auch damit zusammen, dass Entscheidungen nicht ausreichend kommuniziert oder akzeptiert worden sind oder von internem Streit, der nach außen dringt, überlagert werden. Die Regierung muss ein Interesse daran haben, das zu verbessern.

Die Folgen des Karlsruher Urteils zum Haushalt haben die Regierung fast zerbrechen lassen. Sie haben mit etlichen Spitzenpolitikern gesprochen. Was war Ihr Eindruck?

Die Debatten in Deutschland sind nicht nur hitziger geworden. Es gibt auch eine wachsende Akzeptanz populistischer Positionen, die das Regieren schwerer macht. Das löst Unruhe aus, auch bei den politischen Verantwortlichen. Umso wichtiger ist es, die Kraft zur Zusammenarbeit zu finden.

Bei einem zentralen Thema dieser Tage, der Migrationspolitik, ist eine solche Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition aber gescheitert. Bedauern Sie das?

Die Bürger haben die Erwartung, dass die Verantwortlichen in den Parlamenten erkennen, wenn es wirklich ums Ganze geht. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder Situationen gegeben, wo auch nach schärfsten Auseinandersetzungen Regierung und Opposition zusammengekommen sind – etwa bei den Fragen der Westbindung oder der Ostverträge oder beim Asylkompromiss 1993. Ich hoffe, dass das auch jetzt nicht ausgeschlossen ist.

An wem ist der Deutschlandpakt Migration gescheitert? An Olaf Scholz oder an Friedrich Merz?

Das kann ich nicht beurteilen. Wichtig ist aber, dass es nach fast zehnjährigem Streit über die Zukunft der europäischen Migrationspolitik jetzt im Europäischen Rat endlich eine Verständigung gegeben hat. Das war dringend notwendig. Und muss zügig umgesetzt werden.

Würden Sie versuchen, Scholz und Merz zu einer großen Koalition zu bewegen für den Fall, dass die Ampelkoalition brechen sollte? Oder lieber Neuwahlen ermöglichen?

In diesem Jahr feiern wir 75 Jahre Grundgesetz. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben aus Weimar die Lehre gezogen, dass es nie wieder politische Instabilität geben darf. Dass es keine vorschnelle Auflösung von Parlamenten und keine regierungslosen Zeiten geben soll. Wegen dieser strikten Vorgaben schauen wir in Deutschland auf eine lange Zeit der politischen Stabilität zurück.

Ihr Plädoyer für Stabilität bedeutet, dass Sie versuchen würden, vorzeitige Neuwahlen zu vermeiden?

Es ist nicht meine Aufgabe, über einen Koalitionsbruch zu spekulieren. Die bevorstehenden Entscheidungen im Bundestag, etwa über den Haushalt, werden Auskunft darüber geben, wie es um die Stabilität der Koalition bestellt ist. Wir haben eine Regierung, die für vier Jahre gewählt ist.

Es gibt nicht nur einen Vertrauensverlust in die Regierung, sondern auch einen generellen in die Politik.

Es ist tatsächlich einiges ins Rutschen geraten. Die politischen Sitten sind verroht, mindestens in den sozialen Medien. Von Respekt gegenüber Andersmeinenden ist nur noch wenig zu spüren. Auch der Respekt vor demokratischen Institutionen und ihren Repräsentanten schwindet. Immer mehr Menschen nehmen ihr eigenes Interesse für das Ganze und leiten daraus das Recht ab, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Und dabei denke ich nicht nur an den Umgang mit Vizekanzler Robert Habeck, der am Fähranleger in Schlüttsiel von Demonstranten bedrängt wurde. Sondern auch an manche Aktivisten der Letzten Generation.

Was ist die Konsequenz daraus?

Wir dürfen das nicht einfach so weiterlaufen lassen. Wir brauchen Auseinandersetzungen, auch scharfe. Aber wir brauchen ebenso Ausgleich und die Bereitschaft zum Kompromiss. Wer diese Grundregeln gesellschaftlichen Miteinanders in Frage stellt, der gefährdet die Demokratie.

Was werden Sie in diesem Jahr tun, um das „nicht einfach so weiterlaufen zu lassen“?

Als ich vor sieben Jahren ins Amt kam, habe ich zur Verwunderung einiger gesagt, dass das Hauptthema meiner Amtszeit der Schutz der Demokratie sein wird. Mir war immer klar, dass das, was wir mit einiger Überheblichkeit vor allem in den USA beobachtet haben, das Erodieren demokratischer Selbstverständlichkeiten, die Zunahme der Polarisierung, dass uns das auch erreichen kann. Ich habe deshalb frühzeitig gesagt, wir müssen das Zusammenleben in unserer Gesellschaft stabilisieren. Dazu gehört die Würdigung des Ehrenamtes, ebenso der Respekt vor den demokratischen Institutionen. Dazu gehört für mich aber auch, dass wir überall dort, wo Entfremdungen stattgefunden haben, etwa zwischen Stadt und Land, diese nicht nur einfach feststellen. Sondern dass wir gegen diese Entfremdungen vorgehen.

Geschieht das im Umgang mit den Bauernprotesten gerade ausreichend?

Ich verlege meinen Amtssitz regelmäßig für ein paar Tage raus aus Berlin in kleine Städte, die nicht im Scheinwerferlicht stehen. Ich treffe jedes Jahr Bauern und Bäuerinnen bei der Erntekrone und Landfrauen in den Bundesländern. Ich will den Leuten das Gefühl nehmen: Für uns interessiert sich keiner, wir werden nicht gehört. Manchmal hilft es schon, hinzugehen und zu sagen: Wir wollen Euch hören. Insofern halte ich mehr Präsenz im ländlichen Raum tatsächlich für dringend erforderlich. Hinzu kommt, dass uns der Griff ins Supermarktregal entfremdet hat von den Produzenten der Lebensmittel. Das mag auch ein Grund sein, dass es in unserem Land insgesamt an einer ausreichenden Würdigung derer fehlt, die für die Erzeugung der Nahrungsmittel und für den Erhalt der Lebensbedingungen im ländlichen Raum verantwortlich sind.

Ist es eine Gefahr für die Demokratie, wenn die AfD in diesem Jahr eine oder mehrere Landtagswahlen gewinnt?

Die Verantwortung tragen die Wählerinnen und Wähler. Und vor dieser Verantwortung kann sich niemand drücken, der den Weg in die Wahlkabine antritt. Ich hoffe, dass jeder, der wählt, das nicht nur in einer Stimmung von Wut oder Frust tut – sondern auch im Bewusstsein über die Folgen. Auch die gerade veröffentlichten Recherchen zu dem Treffen rechtsextremer Aktivisten zeigen ja, dass wir sehr wachsam sein müssen.

Das war eine sehr allgemeine Antwort.

Mit unserer Demokratie, wie sie das Grundgesetz geprägt hat, haben wir bisher sehr gut gelebt. In diesem Land ist vieles gelungen, wonach andere sich sehnen. Es ist gelungen, weil es bei uns auch nach scharfen politischen Auseinandersetzungen die Bereitschaft zum Kompromiss gab. Ich würde mir sehr wünschen, dass sich das jeder Wähler vor der Stimmabgabe sehr nachdrücklich in Erinnerung ruft. Wenn wir in die Geschichte unseres Landes zurückschauen, stellen wir fest: Extremisten waren immer das Unglück unseres Landes.

Der langjährige Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle hat gerade gesagt, es bestehe die Gefahr, dass die westliche Demokratie nur eine kurze Phase in der Geschichte der Menschheit sein könnte. Hat er übertrieben?

Die Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen. Die Demokratie ist nie auf Ewigkeit garantiert. Sie lebt nicht nur vom Grundgesetz, sondern auch vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Dieses Engagement brauchen wir. Die Qualität der Demokratie in Deutschland zeichnet sich eben auch dadurch aus, dass Hundertaussende sich Zeit nehmen, um ihre Gemeinde, ihre Stadt besser zu machen. Ich bin deshalb erschüttert über die Beschimpfungen und die tätlichen Angriffe, die es sogar schon auf der kommunalen Ebene gibt. Wenn sich deshalb Verantwortungsträger zurückziehen oder sich Menschen erst gar nicht entschließen, Verantwortung zu übernehmen, dann trocknet die Demokratie von unten aus.

Nähern wir uns den Weimarer Verhältnissen der 1920er Jahre?

Wir haben heute eine andere Situation. Das hängt zum einen mit der Nachkriegssituation 1918 zusammen, mit der Hyperinflation, mit der Massenarbeitslosigkeit. Das gibt es heute nicht. Zum anderen darf man trotz aller Sorge wegen der Extremisten von rechts zwei Dinge nicht unterschätzen. Wir haben heute Sicherungen im deutschen Grundgesetz, die die Weimarer Verfassung nicht hatte. Und 80 Prozent der deutschen Bevölkerung bekennen sich heute klar und uneingeschränkt zur Demokratie. Das war in der Weimarer Republik nicht der Fall: Damals war die demokratische Mitte gefangen zwischen Radikalen von links und rechts.

Aber heute gibt es eine wachsende Bewegung gegen das sogenannte „Establishment“.

Das kennen wir aus den USA. Donald Trump hat schon in seinem Wahlkampf für die Präsidentschaft 2015, 2016 dem Establishment den Kampf angesagt. Den haben anfangs viele unterstützt. Aber was war das Ergebnis? Dass in seiner Republikanischen Partei alle abgeräumt wurden, die nicht so radikal waren wie er. Denn aus Sicht derer, die gegen das Establishment kämpfen, ist jeder Teil des Establishments, der nicht zu ihnen gehört. Insofern kann ich nur warnen vor allen, die Radikalisierungstendenzen aus einem kurzfristigen, parteipolitischen Kalkül unterstützen.

Einer, der sich immer gern gegen das „Establishment“ stellt, ist Hubert Aiwanger, der Chef der Freien Wähler. Er hat die Vorgänge in Schlüttsiel heruntergespielt.

Es gibt auch hierzulande einige, die sich täuschen. Wer die Radikalisierung vorantreibt, den werden die Folgen am Ende auch selbst treffen.

Aiwanger ist laut einer neuen Umfrage beliebter als Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner.

Ja, und das mag auch einer gewissen Medienlogik geschuldet sein. Die sehen wir auch anderswo: In Sachsen-Anhalt haben hunderte Freiwillige geholfen, die Dämme zu stabilisieren. Als der Kanzler kam, haben ihn eine Handvoll Radikale beschimpft. Und abends in den Nachrichten kommen die vor, die Olaf Scholz beschimpfen, und nicht die Freiwilligen, die Kraft und Zeit investieren, um die Menschen vor den Fluten zu schützen.

Werden Sie vor den drei Landtagswahlen im Osten präsent sein?

Ich habe meine zweite Amtszeit in Altenburg in Thüringen gestartet und war seither oft in den ostdeutschen Ländern unterwegs. Ich werde auch in diesem Jahr viele Male im Osten sein, und ich werde natürlich dazu auffordern, wählen zu gehen, in der Hoffnung, dass es die Demokraten stärkt. Wir müssen uns im Klaren sein, dass radikal-populistische Parteien bereits eine erhebliche Mobilisierung bewirkt haben, vor allem bei den Nichtwählern. Und es hat sich etwas geändert: Wenn wir früher gesagt haben, die Demokratie ist in Gefahr, waren die Leute erschrocken. Für die meisten gilt das weiterhin. Aber es gibt heute auch die, die sagen: na und? Das können wir nicht unwidersprochen lassen. Ich weiß aus unzähligen Gesprächen abseits der Hauptstadt, dass die meisten erreichbar und von Demokratie und Rechtsstaat überzeugt sind.

Unter radikalen Rechten heißt es oft, die Demokratie kehre erst richtig zurück, wenn die AfD regiere.

Der US-Politologe Daniel Ziblatt hat gesagt, es gebe Grundbedingungen für eine funktionierende Demokratie. Zum einen, dass jede Partei die faire Chance habe müsse, an der nächsten Wahl wieder teilnehmen zu können, und zum anderen, dass sie auch nach einer Niederlage nie in ihrer Existenz bedroht sein dürfe. Wenn sich aber eine Partei durchsetzt, die mit unserer heutigen Demokratie fremdelt und rechtsstaatliche Sicherungen in Frage stellt, dann wird es für die anderen Parteien auf lange Sicht keine faire Chance mehr geben. Das ist in der Genetik dieser radikal-populistischen Partei so angelegt, dass sie keine Opposition duldet. Oder sie als Verrat oder Verschwörung diskreditiert.

Es gibt bereits Forderungen, die AfD zu verbieten. Ist das sinnvoll?

Ich kann die Erfolgsaussichten nicht beurteilen. Ein Verfahren würde vermutlich sehr lange dauern. Ich rate dazu, dass wir uns auf das konzentrieren, was unmittelbar in diesem Jahr möglich und notwendig ist: Wir sollten die besseren Antworten geben, wir sollten demokratische Mehrheiten organisieren und diese stärken.

Gefahren gibt es ja nicht nur im Inneren, sondern auch im Äußeren. Verteidigungsminister Boris Pistorius hat gesagt, Deutschland müsse kriegstüchtig werden. Ist dieser Begriff angemessen?

Ich bin froh über einen Verteidigungsminister, der in seinem Ressort in kurzer Zeit viel bewegt hat. Und der die Deutschen dazu bewegt, sich ehrlich zu machen. Erstens zeigt uns der Krieg Russlands gegen die Ukraine, dass wir mehr tun müssen, um unser Land zu verteidigen. Zweitens nahen die Präsidentschaftswahlen in den USA, und jede künftige Regierung wird erwarten, dass die Europäer mehr für die NATO tun. Das geht nicht ohne Deutschland.

Aber der Bundeswehr fehlt es nicht nur an Geld, sondern auch an Personal. Befürworten Sie den Vorschlag von Pistorius, eine „Wehrpflicht light“ nach schwedischem Vorbild einzuführen, also zumindest eine allgemeine Pflicht zur Musterung?

Das Verteidigungsministerium muss Vorstellungen entwickeln, wie es Personal gewinnt. Dabei ist es auch notwendig, Beispiele aus Nachbarländern anzusehen. Ich sehe das Thema noch aus einer anderen Perspektive. Aus Sorge um die Demokratie habe ich eine soziale Pflichtzeit vorgeschlagen: Jeder sollte sich einmal im Leben in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Das bringt Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten zusammen und stärkt den Zusammenhalt. Zu einem solchen Dienst könnte auch der in der Bundeswehr gehören.

Sind Sie enttäuscht, dass Ihr Vorschlag bisher nicht umgesetzt wurde?

Mir war klar, dass mein Vorschlag umstritten sein würde, über Pflichten reden wir nicht so gerne in unserem Land. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass die Zustimmung in der Bevölkerung zur sozialen Pflichtzeit gewachsen ist. Und insofern bin ich erstaunt, dass es von der Koalition nicht aufgegriffen wird. Was mich besonders freut, ist, dass die Debatte über meinen Vorschlag deutlich  Schwung aufgenommen hat und aus vielen Perspektiven geführt wird, in der Zivilgesellschaft, unter Wohlfahrtsverbänden, in Stiftungen und Parteien, in der Wirtschaft und in Unternehmen, unter technischen Diensten und der Bundeswehr. Das stimmt mich optimistisch. Ich bleibe an der Sache dran.

Können Sie den Deutschen zum Jahresauftakt auch etwas Ermutigendes mitgeben?

Ich denke zur Zeit öfter an einen Satz, den der frühere israelische Präsident Schimon Peres gesagt hat: Pessimismus ist einfach Zeitverschwendung. Pessimismus lähmt da, wo wir eigentlich Haltung, Mut und aktives Handeln brauchen. Gehen wir 2024 in diesem Sinne an.

Die Fragen stellten: Robert Roßmann und Nicolas Richter