In Meiningen begrüße ich jetzt den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Guten Abend, Herr Steinmeier.
Guten Abend, Herr Breske, nach Leipzig.
Herr Bundespräsident, bevor wir gleich auch über die Ereignisse in Israel und Gaza und deren Auswirkungen sprechen, beginnen wir erst einmal in Meiningen. Ihre "Ortszeit" dient dazu, ein Gespür für die Probleme der Menschen zu bekommen. Sie sind seit gestern in Süd-Thüringen. Was ist Ihr Gefühl, was sind die drängendsten Probleme?
Zunächst einmal bin ich ganz begeistert von dem, was die Bürgerinnen und Bürger aus ihrer Stadt gemacht haben. Es ist ja nicht nur das historische Erbe aus monarchischer Zeit, eine klassizistische Architektur und eine reiche und vielfältige Kultur – es ist vieles hinzugekommen in den letzten zehn Jahren. Vor zehn Jahren war ich zum letzten Mal hier. Und ich kann nur sagen, es ist wirklich eine hohe Lebensqualität in dieser Stadt. Was nicht heißt, dass jeder zufrieden ist. Natürlich hören wir auch Erwartungen, hören wir auch Kritik. Die Migrations-Frage ist allgegenwärtig. Und natürlich gibt es auch Fragen nach den Unterschieden Ost/West und was da möglicherweise in den nächsten Jahren noch auszugleichen ist. Ich stelle jedenfalls fest: Entgegen landläufiger Meinung gibt es ein riesengroßes Interesse am politischen Gespräch. Die Leute haben mich hier nicht nur freundlich empfangen, sondern sie suchen das Gespräch, suchen in einer Zeit der Verunsicherung natürlich auch nach Antworten.
Beginnen wir mit dem Thema Migration. Als Sie vor zwei Wochen sagten, die Zahlen der Flüchtlinge müsste sinken, sind Sie noch kritisiert worden. Jetzt plötzlich gibt es Grenzkontrollen, Abschiebungen und Geldkarten werden diskutiert. Warum hat es so lange gebraucht, bis die Debatte in der Realität angekommen ist?
Sehen Sie, wenn Sie zurückdenken, dann haben Sie vor ein, zwei Jahren wahrscheinlich auch Bericht erstattet über den Streit zwischen Bund und Ländern über Geldzahlungen: Wer verantwortlich ist, für die Kosten aufzukommen, in welchem Verhältnis Bund und Länder aufzukommen haben. Die Situation ist heute eine andere. Wir streiten ja nicht mehr darüber, ob die Kommunen an ihrer Belastungsgrenze angekommen sind, sondern das gilt mittlerweile als Faktum. Und was ich mir sehr wünsche, ist, dass es jetzt eine breite Bereitschaft im Deutschen Bundestag gibt, zwischen den Regierungsparteien, auch mit der CDU/CSU, zu einer Verständigung zu kommen, welche Stellschrauben genutzt werden, um die Ankunftszahlen tatsächlich wieder etwas herunterzubringen. Das ist etwas, das die Menschen in einer solchen Situation erwarten. Und sie erwarten eben auch, dass es in den wirklich wichtigen, zentralen Fragen Kooperationsbereitschaft zwischen den demokratischen Parteien geht.
Jetzt haben Sie die kommunale Überforderung angesprochen, keine 30 Kilometer von Meiningen entfernt gibt es Suhl und dort die thüringische Erstaufnahmeeinrichtung – restlos überfüllt. Es gibt viele Probleme. Haben wir angesichts dieser Überforderung tatsächlich Zeit, auf eine europäische Lösung zu warten?
Nein. Das sagt ja auch keiner. Sondern was ich sage, ist: Vertraut nicht denjenigen, die mit den großen Überschriften daherkommen. Das ist ein Thema, das nicht mit einem Federstrich vom Tisch zu kriegen ist. Deshalb brauchen wir beides: Wir brauchen eine Verständigung darüber, welche nationalen Maßnahmen in Betracht kommen, die Wirkung und Veränderung erzielen. Aber wir dürfen nicht vergessen: Wir leben nicht auf einer Insel. Wir brauchen auch die Bereitschaft der europäischen Nachbarn und Partner, an diesem Problem mitzuwirken. Dazu gehört die Vereinbarung von Rückübernahme-Verpflichtungen. Dazu gehört die Bekämpfung des Schlepper-Unwesens. Und dazu gehört auch ein noch stärkerer Außengrenzen-Schutz der Europäischen Union. Das kann Deutschland nicht allein. Da brauchen wir auch die Mitwirkung der anderen europäischen Partner. Deshalb ist der Verweis auf Europa keine Ausflucht, sondern eine notwendige Ergänzung zu dem, was wir im nationalen Rahmen machen können.
Sie sagen, die Menschen erwarten Lösungen. Nun waren Sie mit ihrer "Ortszeit" bereits in Altenburg, in Quedlinburg, jetzt in Meiningen, also auch viel in Ostdeutschland unterwegs. Zwei von drei Menschen in Ostdeutschland sind mit der Demokratie unzufrieden. Warum ist das so, Herr Steinmeier?
Es ist in der Tat meine neunte "Ortszeit". Und ich denke auch nicht daran, dieses Format in irgendeiner Weise zu beenden. Sondern ganz im Gegenteil: Ich sehe die Umfragen, die Sie gerade zitiert haben; und ich spüre, wenn ich vor Ort bin, dass es nicht nur in aller Regel große Gastfreundschaft gibt – das ist nebensächlich –, vor allem gibt es ein wirkliches Interesse an der Auseinandersetzung über politische Fragen. In der Regel bringe ich Formate mit, mit deren Hilfe ich dann Menschen unterschiedlicher Auffassungen an einen Tisch setze und versuche, wieder einzuüben, wie man sich trotz unterschiedlicher Positionen dennoch nach Regeln streiten kann, ohne sich mit Schimpf und Schande zu überziehen. Hier, in Meiningen, muss ich das nicht tun. Hier hat die Stadt selbst ein Format gefunden. Deshalb nehme ich heute am dritten "Meininger Stadtgespräch" teil und versuche mir vorzustellen, ob das ein Format ist, das man vielleicht auch anderen Städten und Gemeinden empfehlen kann. Aber dazu muss ich es erstmal sehen. Das werde ich mir heute Abend anschauen. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass wir solche Formen vernünftiger demokratischer Auseinandersetzung brauchen und die Leute nicht einfach ihrer Verunsicherung und Angst vor der Zukunft überlassen dürfen. Wir sollten darüber hinaus – und das ist eine Aufgabe, die betrifft Politik ähnlich wie Medien – nicht versuchen, uns selbst immer wieder in eine Endzeitstimmung hineinzureden. Ich bin ganz sicher, wir sind nicht die letzte Generation, und Deutschland ist auch nicht dem Abstieg preisgegeben.
Ostdeutsche sind in Führungspositionen nach wie vor stark unterrepräsentiert, Herr Bundespräsident. Und das selbst in Ostdeutschland. Ist das ein Teil des Demokratie-Problems, auf das ich Sie gerade angesprochen habe?
Es ist jedenfalls eindeutig eine Kritik, eine Beschwerde, die ich in vielen Gesprächen, in allen "Ortszeiten", die ich in den ostdeutschen Bundesländern gemacht habe, immer wieder höre: die mangelnde Repräsentanz von ostdeutschen Führungsverantwortlichen, die vor allen Dingen in der Wirtschaft und der Wissenschaft wirklich bemerkenswert ist. Wir haben sogar noch eine bessere Repräsentation Ostdeutscher in der Politik, aber in Wirtschaft und Wissenschaft haben wir eine deutliche Unterrepräsentation. Da ist ganz einfach viel zu tun. Da muss man in Besetzungs-Entscheidungen auch in Zukunft noch deutlich sensibler vorgehen.
Ich möchte auf die AfD zu sprechen kommen, Herr Bundespräsident. In Thüringen wie auch in Sachsen führt die AfD in Umfragen, und das teils deutlich. Aber auch in Bayern und Hessen haben die Landtagswahlen erzeigt, dass die Partei Rekord-Ergebnisse erzielen kann. Halten Sie die AfD für eine Gefahr für die Demokratie?
Ich halte es für eine Gefahr für die Demokratie, wenn wir der Demokratie gegenüber gleichgültig auftreten. Wenn wir so tun, als hätten wir eine zweite Demokratie in der Hosentasche. Deshalb ist auch Meiningen hier ein ganz guter Ort, um darüber zu sprechen. Wir haben heute Orte der Demokratie-Geschichte besichtigt, auch mit jungen Menschen gesprochen, weil einfach nochmal deutlich werden muss: Die Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist von Menschen mit Mut erkämpft worden, gerade hier, in Meiningen, auch als einem der Zentren der Friedlichen Revolution im südlichen Thüringen. Und sie ist nicht auf ewig garantiert. Sondern die Demokratie besteht und lebt, wenn sie von den Bürgerinnen und Bürgern gelebt wird. Deshalb können wir die Verantwortung auch nicht einfach an Parteien oder den Staat abgeben. Sondern wir brauchen bürgerschaftliches Engagement. Ich sehe hier, in großen Teilen Thüringens, dass es seit einigen Jahren wächst. Und deshalb bin und bleibe ich zuversichtlich: Wenn wir zurückkehren in eine politische Auseinandersetzung, die nicht von Populismus geprägt ist, wenn wir zurückkehren in eine politische Auseinandersetzung, in der man bereit ist, sich gegenseitig zuzuhören, eine Auseinandersetzung, in der die verantwortlichen Parteien auch ihre gemeinsame Verantwortung in den wichtigen Fragen anerkennen, die den Bürgerinnen und Bürgern auf der Seele liegen, dann ist es kein Schicksal, dass extremistische Parteien hier dauerhaft an Zulauf gewinnen. Sondern ich bin fest davon überzeugt: Die Demokratie ist und bleibt die Regierungs- und politische Form, in der die Zukunft dieses Landes gesichert werden kann. Mit all ihren Abirrungen. Denn Sie wissen, die Demokratie ist nie fertig, sie ist immer im Werden. Aber nochmal: Sie lebt nur, wenn sie von den Bürgerinnen und Bürgern gelebt wird.
Herr Steinmeier, über allem, auch über ihrem Besuch momentan, schwebt die Situation im Nahen Osten. Nach der Explosion vor oder in einem Krankenhaus in Gaza und auch den Reaktionen in der muslimischen Welt: Welche Möglichkeiten sehen Sie noch, einen Flächenbrand zu verhindern?
Zunächst einmal müssen wir genau wissen, was tatsächlich passiert ist. Ich versichere Ihnen, durch die Bilder und die Nachrichten, die mich heute Nacht und heute Morgen aus Gaza erreicht haben nach den Explosionen, die dort im Krankenhaus oder in der Nähe des Krankenhauses stattgefunden haben, bin ich zutiefst erschüttert, und mein Mitgefühl ist bei den Angehörigen der Toten ebenso wie bei den Verletzten. Da wir aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht genau wissen, wer verantwortlich ist für diese Explosion mit ihren schrecklichen Folgen, hoffe ich, dass die Aufklärung, die jetzt begonnen hat, bald Klarheit bringen wird. Solange sollten wir über Verantwortlichkeiten und weitere Folgen daraus nicht spekulieren.
Nun gab es, Herr Bundespräsident, nach dem Terrorangriff der Hamas, auch nach dieser Explosion am Krankenhaus, palästinensische und pro-palästinensische Demonstrationen. Teilweise wird dort Israels Vernichtung gefordert. Gestern dann in Berlin auch ein Anschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum. Haben wir beim Antisemitismus hier in Deutschland in bestimmten Gesellschaftsgruppen viel zu lange weggeschaut?
Ich glaube nicht, dass wir weggeschaut haben. Ich glaube, das unterschätzt ganz einfach, wie viele sich in Deutschland bemühen, dass Antisemitismus in Deutschland keinen Platz hat. Aber in der Tat, was Sie zitieren – Angriffe auf Polizisten, wie sie gestern stattgefunden haben, ein Anschlag auf eine jüdische Synagoge –, das sind Vorgänge, die wir schlicht und einfach nicht tolerieren dürfen. Und wo es auch eine strafrechtliche Verfolgung geben muss. Keine Frage. Ich wiederhole, was ich an anderer Stelle vor Kurzem in einer Synagoge gesagt habe: Jüdisches Leben verdient Schutz. In Deutschland ist der Schutz jüdischen Lebens auch die Konsequenz aus unserer Geschichte. Und jeder, der in Deutschland lebt, muss diese Geschichte kennen und muss die Pflicht aus dieser Geschichte kennen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Auch, wer zugewandert ist – wer in Deutschland lebt, der muss die Geschichte von Auschwitz kennen und die Verantwortung, die daraus für uns erwächst. Und deshalb sage ich nochmal: Ich erwarte nicht nur die Aufarbeitung der Vorgänge, die gestern stattgefunden haben, sondern auch, dass die Auseinandersetzung nicht gewaltsam auf Straßen in Deutschland ausgetragen wird. Und ich erwarte, dass die muslimischen Organisationen und Verbände sich deutlich von dem Terror der Hamas distanzieren.
Herr Bundespräsident, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Ich danke Ihnen.
Die Fragen stellte: Gunnar Breske