Am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier der täglich ausgestrahlten ARD-Nachrichtensendung Tagesthemen am 2. Oktober ein Interview gegeben.
Für die Feierlichkeiten zur Deutschen Einheit ist der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier heute in Hamburg und zuvor zu uns ins Studio gekommen. Willkommen, Herr Bundespräsident, danke für den Besuch.
Guten Abend Frau Miosga, ich freue mich sehr über die Einladung. Danke.
Wir freuen uns. Herr Steinmeier, 33 Jahre nach der Wiedervereinigung kann ich leider immer noch nicht sagen: Wie geht's eigentlich Deutschland? Die Frage müsste doch immer noch lauten: Wie geht's Ost mit West und andersrum?
So würde ich die Frage nicht stellen, mit Verlaub, sondern ich glaube, dass der 3. Oktober immer ein Dreifaches hat: Er ist Erinnerung und, ja, er ist auch Bilanz, aber vor allen Dingen und immer mehr der Blick auf den Horizont; und wenn ich zu der Erinnerung komme, so finde ich, gibt es vielleicht einen unterschiedlichen Blick der Generationen auf diesen 3. Oktober. Diejenigen, die den Kalten Krieg noch miterlebt haben, diejenigen, die die deutsche Teilung miterlebt haben, mindestens die werden verstehen, warum ich sage: Es muss so sein, dass wir an diesem 3. Oktober an diejenigen erinnern und diejenigen würdigen, die die Mauer zu Fall gebracht haben. Diejenigen in Plauen, in Leipzig, an vielen anderen Orten in der damaligen DDR, die den Mut hatten aufzustehen, Widerstand geleistet haben – nicht in einer Demokratie, sondern in einer Diktatur – und ein Unterdrückungsregime beseitigt haben. Das ist das eine.
Ich frage das deswegen, weil noch 33 Jahre später in der aktuellen Umfrage 60 Prozent der Deutschen sagen, es überwiege immer noch das Trennende denn das Einende. Und mich würde interessieren: Glauben Sie, es liegt auch daran, dass wir vielleicht die große Chance verpasst haben, dass auch der Westen nach der Wiedervereinigung sich hätte verändern müssen?
Der Westen hat in der Tat nicht die Notwendigkeit gesehen, sich zu verändern, und das ist ein Teil des Dilemmas, über das wir reden. Die Deutsche Einheit bleibt eine Aufgabe, sie ist nicht abgeschlossen, aber sie verträgt auch durchaus eine selbstkritische Bilanz. Und zu dieser Bilanz gehört auf der einen Seite: Wenn Sie heute durch die östlichen Bundesländer fahren – Sie sehen viel Infrastruktur, die teilweise besser, mindestens so gut ist wie im Westen unseres Landes; endlich, kann man sagen, sind auch die Rentenwerte angeglichen; wenn man die Haushaltseinkommen vergleicht, liegen wir im Osten ungefähr bei 90 Prozent der Haushaltseinkommen, wie sie im Westen sind. Wir kommen von 60 Prozent, also eine deutliche Anhebung. Und die Arbeitslosigkeit, das ist jetzt noch so auf niedrigem Niveau, 1 bis 1,5 Prozent Unterschied. Würde man nur diese Bilanz betrachten, müssten wir eigentlich sagen, die Dinge sind doch eigentlich ziemlich in Ordnung, wir haben viel geschafft. Und ich bin in der Tat – wir sollten das nicht kleinreden. Oder wie ich bei dieser Gelegenheit immer sage: Wir haben viel mehr geschafft, als wir glauben, aber nicht so viel, wie wir eigentlich könnten. Und deshalb gehört zu der ganzen Erklärung eben auch nicht nur diese Bilanz, sondern ich war – als in Westdeutschland Geborener – acht Jahre lang Abgeordneter in Ostdeutschland. Ich habe in der Zeit viel gelernt, und ich habe vor allen Dingen gelernt, es geht nicht nur um das Materielle, sondern es geht um das Gefühl, gleichwertig zu sein, und da gibt es Unwuchten. Wenn wir die Anzahl von Ostdeutschen etwa in Führungspositionen betrachten, so ist das vielleicht in der Politik einigermaßen gelungen. Aber überhaupt nicht in Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und auch der Medien, wenn ich das so freimütig sagen kann. Viele Ostdeutsche haben das Gefühl, dass sie nicht gehört und nicht gesehen werden, dass ihre Geschichten nicht Teil einer gemeinsamen deutschen Geschichte geworden sind und dass es im Westen auch nicht wirklich Interesse an ihren Biographien gegeben hat, sondern dass es immer das Signal gegeben hat – so fühlen sie sich oder fühlen sich viele Ostdeutsche –: Ihr habt eben ein falsches Leben gelebt. Und ich glaube, darüber müssen wir noch einmal selbstkritisch mit uns allen, auch die Westdeutschen, ins Gericht gehen. Und in der Tat, die ostdeutschen Geschichten müssen mehr Teil unserer gemeinsamen Geschichte werden.
Vielleicht resultiert auch daraus ein bisschen eine bemerkenswerte, wenn nicht besorgniserregende Entwicklung: In Deutschland ist nicht einmal die Hälfte der Menschen mit der Funktionsfähigkeit der Demokratie zufrieden. Im Osten sind es noch deutlich weniger. Ist das auch das Verschulden der Politik, die die Ohnmacht und die Ängste nicht gesehen hat, vielleicht auch nicht sehen wollte?
Wenn sich solche Entwicklungen ergeben, kann Politik daran nicht unschuldig sein. Und deshalb betrachte ich mit ebenso viel Sorge wie viele andere das, was sich in diesen Umfragen hier durchaus abbildet: Distanz zu den demokratischen Institutionen, vielleicht auch Unzufriedenheit mit Politik insgesamt. Und da liegt ganz ohne Zweifel eine Aufgabe für Politik. Die wird auch nicht über den Tag, über die nächste Woche, den nächsten Monat hinweg erledigt sein. Es wird sich auch nicht korrigieren mit einer einzelnen Gesetzgebung, sondern hier müssen wir in der Tat zeigen, dass wir die Menschen ernst nehmen, dass wir die Themen abbilden, die die Sorgen der Menschen tatsächlich ausmachen. Ich will Ihnen eins sagen: Ich fühle meinen Verdacht bestätigt, dass wir über den Ost-West-Unterschied, dass wir unter dieser Überschrift noch etwas ganz anderes thematisieren, was vielleicht in den nächsten Jahren noch drängender wird, das ist der Stadt-Land-Unterschied. Das ist nicht ganz zufällig, denn wenn wir die Verhältnisse betrachten, leben eben im Osten viel mehr Menschen im ländlichen Raum als im Westen. Und Sie wissen, ich habe vor einigen Jahren schon die Entscheidung getroffen, dass ich regelmäßig zu bestimmten Zeiten mich ausklinke aus dem Selbstgespräch in der Hauptstadt, in die Region für drei Tage in eine Kleinstadt gehe und dort tief eintauche in die Debatten. Zufällige Begegnungen, geplante Debatten, Marktrundgänge, vieles andere mehr, was sich mittlerweile eingeübt hat. Und ich stelle eben Ähnlichkeiten fest, was den ländlichen Raum angeht. Die Tatsache, dass Vereine sterben, dass der Ort nicht mehr so belebt ist, dass die letzte Kneipe weg ist, dass die Wege zu den Schulen und Ärzten viel weiter geworden sind, das sind Ähnlichkeiten zwischen den ländlichen Räumen im Westen wie im Osten. Und ich glaube, da müssen wir in der nächsten Zeit genauer hinschauen. Ich finde trotzdem ...
Ich würde gern das an einem Beispiel festmachen. Wenn Sie viel in den ländlichen Räumen unterwegs sind, dann werden Sie diese Klagen kennen: Seit mehr als einem Jahr inzwischen klagen Bürgermeister aller Couleur, aller Parteien darüber, dass bei der Migration gar nichts mehr funktioniert. Dass sie am Ende ihrer Kräfte und Kapazitäten sind. Das ist auch ein Verschulden der Politik. Und meine Frage wäre: Hätte die Politik und hätten nicht auch Sie früher und ehrlicher über dieses Problem reden müssen?
Wissen Sie, ich bin ja schon einige Tage in unterschiedlichen Funktionen in der Politik. Und ob Sie es glauben oder nicht, ich war bei dem Asylkompromiss 1992/1993 in den Verhandlungen beteiligt. Nicht als Politiker, sondern als Mitarbeiter in der Staatskanzlei in Hannover. Und ich fühle mich an vieles erinnert – wie in der damaligen Zeit die Überlastungssignale, die von Bürgermeistern und Oberbürgermeistern kam, die dann dazu geführt haben, dass die Politik handelt. Und die Erwartung haben die Menschen in der gegenwärtigen Situation auch. Ein erster Schritt ist getan mit der Zustimmung der Bundesregierung zu der sogenannten Krisenverordnung. Aber wir müssen noch einiges mehr erinnern, finde ich, wenn wir an diese Jahre 1992/1993, an den sogenannten Asylkompromiss zurückdenken. Das ist, erstens, anzuerkennen, dass die Ankunftszahlen runter müssen. Wir müssen die sogenannte illegale Migration eindämmen.
Braucht es dafür eine Begrenzung, Herr Bundespräsident? Es gibt ja jetzt schon diverse, auch Politikgrößen wie Wolfgang Schäuble, die eine komplett andere Asylpolitik fordern. Zu nennen wäre natürlich auch ihr Vorgänger Altbundespräsident Joachim Gauck, der sehr deutliche Worte gefunden hat und gesagt hat, eine Begrenzung sei politisch geboten. Und nun warten alle darauf, was Sie dazu sagen. Brauchen wir eine Begrenzung der Migration in Deutschland?
Ich will vielleicht mal an eines erinnern, was Sie vielleicht nicht mehr in Erinnerung haben: Ich habe 2016 und 2017 in einer Phase, in der wir mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen haben, einen Beitrag ich glaube im Spiegel geschrieben, mit dem ich gesagt habe: Deutschland wird an dieser einen Million Flüchtlinge nicht zugrunde gehen, das werden wir schaffen, aber wir können das nicht jedes Jahr schaffen. Daraus können Sie entnehmen: Ich habe frühzeitig darauf hingewiesen, dass wir mit diesen Größenordnungen nicht jedes Jahr umgehen können. Nun haben wir in diesem Jahr wahrscheinlich etwa dreihunderttausend, dreihunderfünfzigtausend Flüchtlinge zu erwarten. Aber das ist eine Zahl, die kommt eben oben drauf auf die eine Million Flüchtlinge, die wir aus der Ukraine aufgenommen haben. Deshalb muss die Politik über Maßnahmen nachdenken, wie wir Migration eindämmen und den kommunalen Bürgermeistern und Oberbürgermeistern die Unterbringung und die Betreuung der Flüchtlinge erleichtern helfen. Ich glaube …
Es geht um bestimmte, es gibt ganz konkrete Maßnahmen. Die Forderungen gehen von mehr Kontrolle an den Grenzen, Zurückweisung an den Grenzen, deutlich niedrigere Sozialleistungen. Aus Ihrer Sicht – Sie mischen sich nicht in die Politik ein, aber müssten Sie sagen: Deutschland, wir müssen Deutschland unattraktiver machen für Migranten?
Ich würde es so nicht sagen, aber selbstverständlich gehört für mich das zu dem gesamten Spektrum, dass wir erstens unsere nationalen Möglichkeiten nutzen, dass wir die nationalen Möglichkeiten einbetten in eine europäische Lösung, denn wir sind nicht allein, und wenn Flüchtlinge zu uns kommen …
Entschuldigen Sie, Herr Bundespräsident, Sie wissen, eine europäische Lösung, daran basteln wir schon sehr lange und es dauert sehr lange, und im Moment sind die Nöte der Kommunen so groß, dass es jetzt Antworten braucht.
Ja, das sage ich ja.
Darf ich die Frage nochmal stellen?
Natürlich.
Braucht es eine Begrenzung der Migration in Deutschland?
Es braucht eine Begrenzung. Es braucht eine Begrenzung der Zahlen. Ob Sie jetzt eine konkrete Zahl von mir hören wollen, ob die bei 200.000 oder 500.000 oder 800.000 liegt, darauf bitte ich die Antwort von der Politik zu erwarten, aber wir brauchen eine Begrenzung der Zugänge, das ist keine Frage. Nur ich finde, auch Medien müssten darauf hinweisen, dass diese Begrenzung am Ende nur zu erreichen sein wird, wenn wir mit den anderen europäischen Mitgliedstaaten Außengrenzkontrollen machen, wenn wir es hinkriegen, dass diejenigen, die keine oder kaum eine Chance auf Asyl im eigenen Lande haben, das Prüfungsverfahren an den Außengrenzen machen und damit dann auch von dort aus abgeschoben werden. Wenn wir diese Regelung hinkriegen, und auf dem Weg sind wir ja Gott sei Dank inzwischen, dann werden sich auch die Ankunftszahlen in Deutschland verringern. Das ist ein mühsames Geschäft, aber wir sollten darauf verzichten – das ist auch mein Plädoyer –, wieder diese Debatte mit Überschriften zu diskutieren, die suggerieren, als gäbe es den einen Hebel, mit dem das Problem morgen verschwunden ist.
Das wissen wir alle, dass es den nicht gibt. Aber in Umfragen erfahren wir auch, dass die Menschen, die die AfD wählen, sagen: Ich mache das, weil, die benennen diese Probleme. Und deswegen beharre ich auf der Begrenzung. Es ist doch wichtig, das zu benennen und es zu sagen.
Ich glaube, wir reden jetzt über eine Politik, die gar nicht belehrt werden muss darüber, dass wir eine Begrenzung und eine Verringerung der Ankunftszahlen brauchen. Die Politik muss jetzt entscheiden, mit welchen Instrumenten, mit welchen Stellschrauben sie das hinkriegt. Und mein Plädoyer ist eher, dass wir dafür sorgen, dass hier Bund, Länder und Gemeinden wirklich gemeinsam handeln, sonst wird das nicht gehen. Wir sind gegenwärtig noch in einer Wahlkampfphase in Hessen und in Bayern. Ich hoffe sehr, wenn das hinter uns liegt, dass dann wieder ein Klima entsteht, in dem die demokratischen Parteien untereinander zu Verständigungen kommen. Ist das nicht der Fall und bleibt das ein Thema, das zwischen den großen demokratischen Parteien im Bundestag, in den Landtagen ein ewiges Streitthema braucht, dann werden andere davon profitieren.
Vor allem dieses Thema, die Migration, macht die AfD inzwischen in den bundesweiten Umfragen zur zweitstärksten Kraft. Warnen Sie uneingeschränkt davor, oder sagen Sie auch: Naja, wir werden uns ein Stück weit daran gewöhnen müssen? Denn Sie sind ja auch der Bundespräsident derer, die die AfD wählen.
Mir macht Sorge, was sich in diesem Land verändert. Und das sind gar nicht so sehr, oder ich sage besser: nicht nur Umfragesituationen. Nicht alle, die im Augenblick in den Umfragen auftauchen, sind Extremisten, sondern viele von denen wollen ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. Und ich sage zunächst mal: Ich habe ja Verständnis dafür, dass man in einer Demokratie auch seine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringt. Ich habe, um das ebenso deutlich zu sagen, kein Verständnis dafür, dass man seine demokratische Stimme gebraucht, um Vorstellungen oder Bewegungen zu unterstützen, die auf der Grundlage der Verachtung der Demokratie bestehen. Und deshalb plädiere ich sehr dafür, mit der eigenen Stimme verantwortungsvoll umzugehen.
Herr Bundespräsident, ich bedanke mich sehr für den Besuch im Studio.
Dankeschön.
Die Fragen stellte: Caren Miosga