Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera ein Interview gegeben, das am 20. September 2023 erschienen ist.
Herr Bundespräsident, freuen Sie sich darauf, Italien und insbesondere Sizilien zu besuchen?
Ja, ich freue mich sehr, Italien zu besuchen. Und ich freue mich sehr, einen Menschen wieder zu treffen, den ich inzwischen einen Freund nennen kann. Sergio Mattarella und ich treffen uns jedes Jahr, manchmal mehrfach, wie jetzt zum Beispiel bilateral in Sizilien und demnächst mit einer Gruppe von europäischen Staatsoberhäuptern in Portugal. Zwischendurch telefonieren wir, wir haben regen Austausch und ich bin einfach froh, diesen klugen, nachdenklichen, warmherzigen Menschen, einen Verfechter der Demokratie mit einer europäischen Stimme, diesen Menschen an meiner Seite zu wissen und so engen Austausch mit ihm zu haben.
Anders als während der Zeit der Draghi-Regierung sieht die Lage des deutsch-italienischen Verhältnisses nicht optimal aus. Reform des Stabilitätspakts, Ratifizierung der ESM, Staatshilfen, Migration sind alles Themen, bei denen Rom und Berlin unterschiedliche Positionen vertreten. Wie sehen Sie das?
Mit Präsident Mattarella bin ich einig, dass wir in unseren Ländern die Bedeutung der italienisch-deutschen Beziehungen regelmäßig unterschätzen. Das sind ja nicht nur einfach langjährige traditionelle Beziehungen, sondern Beziehungen, die von gegenseitiger Beeinflussung über Jahrhunderte geprägt sind. Wenn ich an die italienische Architektur denke und wie sie in Renaissance und Barock deutsche Baumeister beeinflusst und geprägt hat, wenn ich an die Prägung der deutschen Gastronomie durch die italienische Küche denke, wenn ich an die vielen Menschen aus Italien denke, die als sogenannte Gastarbeiter in den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen sind. Auch die Millionen Deutschen, die jedes Jahr Italien von Alto Adige bis Sizilien bereisen. Unsere beiden Länder sind durch Kultur und durch Menschen und auch durch die über 400 Städtepartnerschaften so vielfach miteinander verflochten, dass wir den Wert dieser Nachbarschaft und Freundschaft schätzen sollten und ich sage es betont jetzt als Antwort auf Ihre Frage: Eine so über Jahrhunderte gewachsene Freundschaft sollte etwas aushalten, auch den gelegentlichen Streit oder die Auseinandersetzung über Dinge, über die man im Alltag nicht zusammenkommt.
Das Thema Migration im Mittelmeer - und nicht nur dort - hat sich wieder dramatisch zugespitzt. Die Fluchtbewegungen haben sich in den letzten Monaten verdoppelt, die Regierung von Frau Meloni hat sich für einen härteren Kurs entschieden. Aber es ist ihr nicht gelungen, die Ankünfte zu reduzieren. Selbst das neue Abkommen mit Tunesien zeigt sich nicht in der Lage, die Situation zu verbessern. Jetzt erfahren wir, dass Deutschland ab Ende August die freiwillige Migranten-Aufnahme aus Italien ausgesetzt hat. Aufgrund der anhaltenden Weigerung Italiens, sogenannte Dublin-Überstellungen nach Deutschland zu ermöglichen. Sie haben immer gesagt, dass Italien in der Frage der Migration von den europäischen Partnern nicht allein gelassen werden soll. Was kann getan werden?
Dieser Satz bleibt und ich will meiner Antwort einen Dank vorausschicken, einen Dank dafür, dass Italien in den letzten Jahren ein so immenses Maß an humanitärer Verantwortung gezeigt hat gegenüber Flüchtlingen, die über das Mittelmeer kamen. Und ich sage das, was ich nicht zum ersten Mal sage, dass wir im Rest Europas diese Übernahme der Verantwortung durch Italien lange nicht in genügendem Maße anerkannt haben. Es geht jetzt vor allem um zwei Prioritäten aus meiner Sicht. Italien und Deutschland, unsere beiden Länder tragen große Lasten. Ich nehme es deshalb ernst, wenn ich aus Italien, aber auch aus deutschen Städten laute Hilferufe höre. Die Lasten müssen zu schultern sein! Dafür braucht es gerechte Lastenteilung in Europa und eine strengere Kontrolle und Überwachung unserer europäischen Außengrenzen. Das verbrecherische Geschäft der Schleuser müssen wir entschieden bekämpfen. Wir müssen gemeinsam und konzentriert an humanen und langfristig tragfähigen europäischen Lösungen arbeiten. Wir müssen uns alle anstrengen, damit die Lasten tragbar bleiben und die Zahlen der Ankommenden wieder sinken. Deutschland hat innerhalb des bisherigen freiwilligen Solidaritätsmechanismus bereits mehr als 1.000 Flüchtlinge aus Italien übernommen und damit mehr als alle anderen europäischen Staaten. In den Verhandlungen über das gemeinsame europäische Asylsystem soll auch ein dauerhafter Solidaritätsmechanismus geschaffen werden, damit es nicht allein bei diesem freiwilligen System bleibt. Wir sind jetzt selbst in einer Sondersituation durch den starken Flüchtlingszugang über unsere Ostgrenzen, Menschen, die zum Beispiel aus Syrien, aus Afghanistan über östliche Staaten nach Deutschland kommen. 162.000 waren es alleine im ersten Halbjahr dieses Jahres, die in Deutschland Asyl beantragt haben, - und damit mehr als ein Drittel aller Anträge innerhalb der EU. Hinzu kommen die mehr als eine Million Geflüchteten aus der Ukraine, die gegenwärtig bei uns sind. Deshalb ist Deutschland, wie Italien auch, an der Belastungsgrenze. Was die Verständigung über einen dauerhaften Solidaritätsmechanismus angeht, die Anwendung der Dublin-Regeln durch Italien und die weitere Übernahme von Flüchtlingen durch Deutschland, so muss all dies jetzt zwischen den Regierungen besprochen werden.
Sind die Wörter der italienischen Regierung, insbesondere von Minister Salvini, ein bisschen zu stark in der Relation zwischen Italien und Deutschland?
Ich will als Präsident meines Landes keine Noten verteilen über den Sprachgebrauch von italienischen Politikern. Wir haben hier ein objektives Problem zu lösen und Deutschland gehört wie Italien zu den Ländern, die das stärkste Flüchtlingsaufkommen zu bewältigen haben. Was uns eint, ist die Erwartung, dass es endlich eine gemeinsame europäische Lösung gibt, an der weitergearbeitet wird. Ich hoffe, dass es mit unserer gemeinsamen Überzeugung gegenüber den anderen, die noch zögern, gelingt, diese europäische Lösung, die auf dem Wege ist, die die Kommission vorbereitet hat, endlich durchzusetzen.
Der Krieg in Ukraine stellt Europa vor eine große Herausforderung, die Europäische Union und Deutschland als Vorreiter haben bis jetzt Kiew ihrer vollen Unterstützung versichert. Politisch, militärisch, wirtschaftlich. Aber es ist auch deutlich klar, dass ohne das Engagement der Vereinigten Staaten wäre es nicht möglich, der Westen hätte es nicht geschafft, solch einen effektiven Widerstand gegen die Russen zu leisten. Europa ist geopolitisch und militärisch schwach, die Unsicherheit der politischen Lage in Amerika, wo in einem Jahr gewählt wird, stellt Europa vor ein großes Fragezeichen. Was geschieht mit Europa, wenn die USA diese Schutzmachtrolle nicht mehr wahrnehmen können oder wollen. Was dann? Vor Kurzem hat Joschka Fischer in einem Beitrag die Meinung vertreten, Zitat: „Um diese Gefahr abzuwehren, muss das europäische Minimalziel die Stärkung der eigenen militärischen Abschreckungsfähigkeit […] sein. Dies muss absolute Priorität haben angesichts der Erfahrungen in der Ukraine und nicht die Sanierung der öffentlichen Haushalte oder neue Sozialprogramme.“ Was halten Sie davon?
Eigentlich hätte nicht erst dieser Krieg Russlands gegen die Ukraine uns eine Lehre sein müssen, sondern wir hätten schon viel länger wissen können, dass wir unsere Sicherheitsinteressen in die eigene Hand nehmen müssen. Ich habe gute Erinnerung daran, wie schwierig das in Europa und insbesondere in Deutschland war. Ich gehörte zu den Außenministern, die das Zwei-Prozent-Ziel 2014 in Wales unterschrieben haben und dafür nicht unbedingt gelobt worden sind. Die Stärkung der europäischen Verteidigungsanstrengungen war auch unabhängig vom Krieg Russlands gegen die Ukraine notwendig. Wir können voraussehen, dass die USA sich zwar nicht aus Europa zurückziehen werden, dass sich deren Sicherheitsinteressen aber verändern angesichts der geopolitischen Veränderungen und der wachsenden Bedeutung der Länder Ostasiens. Der transatlantische Raum wird nicht unwichtig, aber der transpazifische Raum wird für die USA wichtiger, unabhängig davon, wer Präsident der Vereinigten Staaten ist. Seit Februar 2022 ist auch allen in Europa klar, dass wir zum Schutz von Freiheit und Demokratie unsere Verteidigungsanstrengungen verstärken müssen. In Deutschland hat es einen Paradigmenwechsel gegeben, den der Bundeskanzler mit dem Stichwort Zeitenwende bezeichnet hat. Und das bedeutet eben nicht nur die Unterstützung der Ukraine politisch, finanziell und mit Waffen, sondern das bedeutet auch eine Entscheidung für eine sehr viel stärkere Professionalisierung und Ausrüstung der deutschen Streitkräfte. Das ist auf dem Weg und wird auch von einer großen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen.
Kiews Haltung ist: Wir können mit Putin und seinem Regime nicht verhandeln. Wie sehen Sie die Chancen auf eine Beendigung des Krieges in der Ukraine durch eine Verhandlungslösung? Wie könnte diese aussehen?
Überall in Europa finden Sicherheitskonferenzen statt und überall wird die Frage nach dem Ende des Krieges gestellt. Wir sollten davon ausgehen, dass der stärkste Wunsch nach Frieden vor allem bei den Menschen in der Ukraine besteht, die so viel Leid und Tod in den letzten anderthalb Jahren erfahren mussten. Die Ukraine ringt um ihre Souveränität, ihre Unabhängigkeit und ihre Demokratie, und sie ringt mit einem übermächtig erscheinenden Feind. Russland könnte diesen Krieg schon morgen beenden. Der Unterschied besteht darin: Wenn Russland seine Streitkräfte zurückzieht, ist der Krieg zu Ende. Wenn die Ukraine ihre Verteidigung einstellt, ist es das Ende der Ukraine. Darum ja, wir dürfen auch im Krieg die Perspektive auf Frieden nicht verlieren. Aber wann der Zeitpunkt für Verhandlungen gegeben ist, das kann nur in der Ukraine entschieden werden. Und mit Blick auf die militärischen Aktivitäten beider Seiten scheint dieser Punkt noch nicht gekommen zu sein.
Aber haben Sie nicht den Eindruck, dass manchmal wir, gleichzeitig natürlich mit der bestmöglichen Unterstützung politisch, militärisch, wirtschaftlich, sind sehr vorsichtig über eine Verhandlungslösung zu reden. Also ich meine es gibt diese Debatte in Amerika, die wurde von Charlie Kupchan und Richard Haas angefangen. Sie sagen, wir müssen sofort, ohne natürlich unsere Hilfe zu beenden, aber wir müssen sofort an einer diplomatischen Lösung arbeiten. Und sie wurden sehr kritisiert dafür.
Sie wurden nicht dafür kritisiert, dass über Verhandlungslösungen nachgedacht wurde, sondern sie wurden eher dafür kritisiert, dass in ihrem Vorschlag die Behauptung lag, die Verhandlungslösung stehe jetzt schon zur Verfügung. Eine Verhandlungslösung, die darauf hinausläuft, eine Gefechtspause zu schaffen, in der Russland neue Truppen in die Ostukraine führt, eine Verhandlungslösung, die dazu führt, dass die Ukraine große Teile ihres eigenen Staatsgebietes abzugeben hat, das ist ja nicht die Grundlage für einen belastbaren Waffenstillstand oder einen dauerhaften Frieden. Insofern ist der Weg dahin komplizierter. Wir sollten eher auf das schauen, was in Kopenhagen begonnen und was sich in Dschidda unter Beteiligung der Ukraine fortgesetzt hat. Wir müssen darauf setzen, dass aus diesen diplomatischen Bemühungen, in die der globale Süden miteingebunden ist und der in diesen Zeiten vielleicht stärkeren Einfluss auf Moskau hat als wir, dass eben diese diplomatischen Bemühungen weitergeführt werden.
Sie haben Ihre Haltung gegenüber Russland und seiner Führung geändert und auch von Fehleinschätzungen gesprochen. Was war aus Ihrer Sicht die größte Fehleinschätzung des Westens, insbesondere Deutschlands über Russland?
Ich glaube, wir verengen diese Frage unrichtigerweise auf das Verhältnis Deutschland-Russland. In Wahrheit ist es ja so, dass die Staaten des Westens und des Ostens noch mitten im Kalten Krieg, als die Blockkonfrontation mit allen Risiken noch in vollem Gange war, mit der KSZE-Schlussakte von Helsinki einen Weg begonnen haben, der darauf ausgerichtet war, Russland in eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden. 1989/1990 nach dem Mauerfall in Berlin, der europäischen Einigung und der Charta von Paris schien das Vorhaben noch realistischer zu werden. Gorbatschow war derjenige, der darauf geantwortet hat mit seiner Vorstellung vom Bau eines gemeinsamen europäischen Hauses, einer Philosophie, die Jelzin und der frühe Putin durchaus noch verfolgt haben. Putin hat sich im Laufe seiner Präsidentschaft verändert und radikalisiert. Und wenn Sie danach fragen, wo die Fehleinschätzung liegt, dann vielleicht darin, dass wir in Putin lange einen Rest an Vernunft vermutet haben, der ihn abhalten würde, eine Außenpolitik zu betreiben, die sich am Ende gegen das eigene Volk richtet. Dass Putin in seinem imperialen Wahn bereit ist, Russlands eigenen Interessen so sehr zu schaden, hätte ich nicht für möglich gehalten, und wir alle haben daraus Lehren zu ziehen.
Die rechten Parteien sind gerade in Europa im Aufschwung. Die AfD ruft in Deutschland aufgrund seiner Geschichte mehr Sorgen hervor als in anderen Ländern. Man bekommt den Eindruck, dass der Rechtsruck insbesondere in Ostdeutschland akzeptiert wird. Also drei Fragen in einer: Wie erklären Sie sich das? Gibt es im Verhältnis zur Demokratie Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland? Und für wie gefährlich halten Sie die AfD, deren Fraktionsvorsitzende sich weigert, das Ende der Nazidiktatur zu feiern?
Der weltweit auftretende Populismus ist eine Herausforderung in fast allen liberalen Demokratien. Sie werden von innen her angefochten durch extremistische, populistische und nationalpopulistische Positionen. Vielleicht haben wir in Deutschland mit Blick auf die Entwicklungen in den USA zu lange gedacht, wir seien in besonderer Weise davor geschützt. Ich habe vor dieser europäischen Überheblichkeit immer gewarnt. Auch in Deutschland waren die Zeichen zu sehen. Und zwar in Gestalt eines sich verschärfenden Tons in der politischen Auseinandersetzung, der gerade in der Bundesrepublik aufgefallen ist, in einem Land, in dem die Demokratie immer durch Koalitionsregierungen geprägt war und durch die Bereitschaft von Parteien, zusammenzuarbeiten. Diese Art von Unversöhnlichkeit war neu in Deutschland. Und wo sie Einzug hält, ist sie kaum mehr wegzubekommen. Neben diesen weltweiten, in den USA und in vielen Ländern Europas zu beobachtenden Bewegungen gibt es natürlich einige besondere deutsche Aspekte. Wir haben alte Industriegebiete, die aufgrund der Brüche und Veränderungen in der wirtschaftlichen Entwicklung, im Bergbau, im Stahl, Arbeitsplätze verloren haben, sodass viele Menschen dort mit Unsicherheit in die Zukunft schauen. Und wir haben reiche Gegenden im Südwesten Deutschlands, wo es eher um die Befürchtung geht, dass der erarbeitete Besitzstand durch neue Entwicklungen in der Zukunft gefährdet ist. Und wir haben hohe Zustimmungsraten in einigen ostdeutschen Bundesländern, die in vielfacher Weise durch die Wiedervereinigung geprägt sind. Zwar hat es gerade in Sachsen und Thüringen viele wirtschaftliche Neuansiedlungen gegeben. Aber andererseits gibt es ländliche Gegenden, die von starker Abwanderung geprägt sind, wo viele junge Menschen die Regionen verlassen haben. Dazu ist der Eindruck entstanden, dass man in den frühen 1990er Jahren nicht ausreichend Rücksicht auf ostdeutsche Erfahrungen und Interessen genommen hat. Das ist eine gerade in Ostdeutschland schwierige Debatte, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, was ich in besonderer Weise tue. Regelmäßig gehe ich mit einem Format, das ich Ortszeit nenne, ganz gezielt für drei Tage in eine kleine oder mittlere Stadt, um dort die Menschen zu treffen – zum Diskutieren, Erklären, Streiten. Das sind die Momente, in denen man dieses komplexe Unzufriedenheitsgefühl nochmal aufbrechen kann, weil viele Menschen dringend das Bedürfnis nach Erklärung und Einordnung haben. Dem versuche ich mit der Ortszeit Rechnung zu tragen.
Die Frage nach dem unterschiedlichen Verhältnis zur Demokratie zwischen West und Ostdeutschland.
Mir ist das ehrlich gesagt ein zu grobes Raster. Wenn ich unterwegs bin in Ostdeutschland, spüre ich Ablehnung von politischen Entscheidungen, aber weniger Ablehnung gegenüber der Demokratie an sich. Ich würde eher sagen, die Erwartung an den Staat ist auch in Ostdeutschland besonders groß. Von daher bin ich vorsichtig mit der Einschätzung, dass die gegenwärtigen Umfragen schon ein Zeichen für das Fremdeln mit der Demokratie seien.
Also Sie meinen die Ostdeutschen fordern mehr Staat als die Westdeutschen?
Die Erwartungen an den Staat sind höher. Es gibt im Osten wie im Westen einige festgelegte Extremisten und Rechtspopulisten, die wir als Politiker kaum noch erreichen. Aber die Mehrzahl derjenigen, die ich in Westdeutschland, aber auch in Ostdeutschland erlebe, sind nach wie vor erreichbar. Und da liegt eine Aufgabe für demokratische Politik. Es darf aber nicht Anlass zur Verzweiflung sein.
Im Ausland wird wieder von Deutschland als dem „Kranken Mann Europas“ gesprochen. Rezession, marode Infrastruktur, fehlende Digitalisierung. Stimmt das oder stimmt das nicht?
Wir sind wie einige andere europäische Nachbarstaaten in einer schwierigeren wirtschaftlichen Lage, aber wir sollten uns auch nicht in Ängstlichkeit und Kleinmut begeben. Ich habe die Jahre um 2005 in guter Erinnerung, als wir mit nahezu fünf Millionen Arbeitslosen wirklich Überlebensfragen zu klären hatten. Wenn ich die gegenwärtige wirtschaftliche Lage betrachte, so ist sie schwierig, aber sie sollte uns nicht in eine depressive Grundhaltung führen, wie sie manchmal in Deutschland vorzufinden ist. Die Substanz der deutschen Volkswirtschaft ist nach wie vor groß. Aber auch wir leiden als exportorientierte Wirtschaft natürlich unter den dreifachen Einflüssen von Russlands Krieg gegen die Ukraine, Chinas wirtschaftlichen Schwierigkeiten und weltweit gestörten Lieferketten während der Pandemie. Ich würde unsere Lage eher so beschreiben, dass wir in einer Transformationsphase sind, in der wir unsere Energiepolitik auf neue Füße stellen müssen. Das ist anspruchsvoll, aber wir sind auf dem Weg mit dem Ausbau erneuerbarer Energien im eigenen Land und mit der Einwerbung von internationalen Potentialen für grünen Wasserstoff. Was China angeht, müssen wir wissen, dass gerade mit Blick auf regenerative Energien und die Elektrifizierung von Mobilität, Rohstoffe wie seltene Erden wichtig sind. Hier ist die Abhängigkeit von China sehr viel stärker als es unsere Abhängigkeit von Russland bei Gas und Öl jemals war. Das macht eine vorsichtige Umsteuerung notwendig. Die deutschen Unternehmen werden China nicht verlassen. Aber sie diversifizieren sich, vor allem im ostasiatischen Raum, und sie breiten ihre Produktion auf mehrere Standorte aus. Es ist keine Frage: Nach den guten Wachstumsjahren, die wir hatten, Jahren mit Rückenwind, treten wir jetzt ein in eine Phase des wirtschaftlichen Gegenwinds. Aber wie es so schön heißt: Wenn der Wind von vorne kommt, muss man die Segel richtig setzen und ich denke, wir werden sie richtig setzen.
Über China, da war dieser Macron-Satz, Europa muss zwischen USA und China in der Mitte sein und nicht genau an der Seite der Vereinigten Staaten. Was glauben Sie, sollen wir eine Politik, die parallel mit der amerikanischen ist oder soll Europa mehr an seiner eigenen Zusammen-Politik arbeiten, zum Beispiel in Bezug auf China?
Europa ist in diesen Tagen dabei, seine Beziehungen zu China zu klären. Und wenn ich es richtig sehe, folgt das der Philosophie, Risiken zu mindern, aber sich gleichzeitig nicht abzuschotten. Und das halte ich auch für richtig in einer Zeit, in der sich Chinas Rolle in der Welt verändert. Wenn wir das Bild von China in Erinnerung haben als einem Land, das wesentlich seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen gefolgt ist und seine Einflusssphäre im ostasiatischen Raum auszubreiten versucht hat, so ist auffällig, dass China neuerdings eine Rolle übernimmt, die das Land früher abgelehnt hat. Es ist eine Rolle mit mehr Einfluss auf der internationalen Bühne, angefangen mit einer überraschenden Mediationsrolle, die China etwa im Verhältnis von Saudi-Arabien und Iran eingenommen hat. Sie hat sich fortgesetzt in der Wiederbelebung und der Erweiterung von BRICS. Europas Interesse ist, dass aus all dem keine Infragestellung gewachsener internationaler Strukturen entsteht, von der UN-Charta über die Weltbank bis zum IWF und der WTO. Wir brauchen keine neue Spaltung der Welt zwischen dem Westen und einem globalen Süden, angeführt möglicherweise von China und Indien. Und auch hier sollten wir nicht zu kleinmütig an die Aufgabe herangehen. Ein Blick auf die erweiterte BRICS zeigt uns doch, dass die dort inzwischen versammelten Staaten weniger von einem gemeinsamen Blick nach vorne geprägt sind. Sie sind eher zusammengebunden durch eine unterschiedlich ausgeprägte Distanz zum Westen. Die Aufgabe ist jetzt, all jene Länder, die Mitglieder der erweiterten BRICS sind oder bereit sind, sich der Vereinigung anzuschließen, nicht verloren zu geben, sondern sie für uns als Partner zu halten oder zu gewinnen.
Wäre eine reformierte G 20 das richtige Forum oder wie könnte eine neue Global Governance aussehen in dieser neuen multipolaren Welt?
Die G20 ist ja ein Format der Global Governance und ich würde sagen, Reformen sind möglich. Wenn wir eben über die Erweiterung der BRICS um einige Länder des globalen Südens gesprochen haben, so sehen wir bei der Reform der G20, dass mit der Afrikanischen Union ein ganz einflussreicher Vertreter des globalen Südens in der G20 vertreten sein wird. Ich wünsche mir vor allem, dass die Institutionen der Vereinten Nationen wieder funktionsfähig gemacht werden. Und ich wünsche mir, dass die Veto-Mächte ihre Möglichkeiten nicht zu Lasten dieser für uns alle wichtigen globalen Ordnung in Frage stellen.
Was halten Sie von der Entscheidung Frau von der Leyens Mario Draghi einen Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit Europas verfassen zu lassen?
Ich glaube, es ist in Italien bekannt, dass ich Mario Draghi und seine fachliche Expertise sehr schätze. Ich finde die Entscheidung der EU-Kommission gut, ihn mit diesem Bericht zu beauftragen.
Die Fragen stellten: Mara Gergolet und Paolo Francesco Valentino