Interview mit der Lausitzer Rundschau

Schwerpunktthema: Interview

11. Mai 2023

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Tageszeitung Lausitzer Rundschau während seiner "Ortszeit Senftenberg" ein Interview gegeben, das am 12. Mai veröffentlicht wurde: "Wenn das Vertrauen in die Demokratie gestärkt werden soll, braucht es Nähe. Nähe entsteht durch Begegnungen. Und Begegnungen brauchen Zeit [...] Wir müssen verschiedene Meinungen debattieren und Kompromisse finden. Ich will denen, die mit der Demokratie nichts im Sinn haben, nicht das Feld überlassen."

Bundespräsident Steinmeier begrüßt die Redakteure der Lausitzer Rundschau in seinem temporären Amtszimmer in Senftenberg

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Tageszeitung Lausitzer Rundschau während seiner "Ortszeit Senftenberg" ein Interview gegeben, das in der Print-Ausgabe am 12. Mai unter der Überschrift Steinmeier fordert Aufklärung rechtsextremer Vorfälle in Burg veröffentlicht wurde.


Herr Bundespräsident, Sie sind nach Brandenburg gekommen in Tagen, in denen hier Aufregung herrscht. Lehrer haben anonym einen Brandbrief geschrieben wegen rechtsextremistischen Umtrieben an ihrer Schule. Sie haben sich nicht getraut, ihren Namen öffentlich zu nennen. In einem Feriencamp ist eine Schulklasse aus Berlin mit Migrationshintergrund rassistisch beleidigt und bedroht worden. Begleitet Sie auf Ihrer Senftenberg- Reise die Sorge, dass Ostdeutschland in die Neunziger zurückfallen könnte?

Ich erlebe auf meinen Reisen durch die Regionen immer wieder, wie vielfältig unser Land ist. Der Osten ist anders als der Westen, der Norden ist anders als der Süden. Der freundliche Empfang hier in Senftenberg und die Gespräche danach haben gezeigt, dass die ganz übergroße Mehrheit der Menschen zur Demokratie und zu den Repräsentanten der Demokratie steht, genau wie in den anderen Regionen unseres Landes. In Senftenberg waren es nur einige wenige, die sich mit Trillerpfeifen versammelt hatten.

Fühlen Sie sich deswegen unwohl in Senftenberg?

Nein, ich fühle mich hier gut aufgehoben. Ich habe auch bei den zahlreichen Gesprächen hier in der Stadt erfahren, dass die allermeisten Menschen sich so viele Sorgen um das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte machen, wie ich sie auch habe.

Und der Brandbrief?

Dass Lehrer in Burg einen öffentlichen Brief schreiben müssen, weil sie sich in ihrer eigenen Schule, von der Schulleitung, von ihren Kolleginnen und Kollegen nicht geschützt fühlen gegen extremistische Übergriffe radikalisierter Schülerinnen und Schüler, das erschüttert mich so wie die meisten Menschen im Land zutiefst. Besonders erschütternd ist die Tatsache, dass die Vorgänge offensichtlich sämtlich nicht neu waren, sondern seit längerer Zeit zu beobachten waren und verschwiegen worden sind.

Welche Konsequenzen muss das haben?

Die Vorgänge an der Schule müssen transparent gemacht und vor allen Dingen aufgeklärt werden. Aufgeklärt werden muss auch, warum die Verherrlichung von Nazisymbolen und ähnliche Vorfälle der Aufsichtsbehörde nicht bekannt gemacht worden sind. Ich hatte die Möglichkeit, diese Woche mit dem neuen Brandenburger Kultusminister zu telefonieren. Er nimmt sich dieser Aufklärung an und wird die Vorfälle nicht auf sich beruhen lassen. Ich hoffe, dass das, was jetzt an die Öffentlichkeit kommt, ein Weckruf und auch Anlass für die Politik auf allen Ebenen ist, diejenigen zu ermutigen, die gegen Hass und Hetze aufstehen. Sie haben meinen Respekt und meine Unterstützung.

Brandenburg boomt, ist ein Place to be geworden. Warum glauben Sie, dass diese Unzufriedenheit in der Lausitz trotzdem nicht kleiner wird, sondern sogar Ausmaße annimmt, die Richtung Wut und Hass gehen?

Ich bin hier auf gesprächsbereite Bürger und Bürgerinnen getroffen, die offen erzählt haben, was in der Stadt gelungen ist und was nicht. Es gibt auch Wut und Hass, aber das spüren wir nicht nur in Senftenberg und nicht nur in Brandenburg, und nicht überall sind die Ursachen die gleichen. Wir müssen sehen, dass unsere Gesellschaft im Dauerstress ist. Wir hatten mit einer Abfolge von Krisen zu kämpfen, die viele nicht für möglich gehalten und die kaum Luft zum Verschnaufen gelassen haben: die Eurokrise vor zehn Jahren, der Flüchtlingszuzug seit 2015, die Pandemie, der Überfall Russlands auf die Ukraine, mit all den Konsequenzen, die in unser tägliches Leben hineinreichen. Hinzu kommt die Inflation. Dieser permanente Stress schafft Unzufriedenheit und Verunsicherung.

So wie in der Lausitz, die ja auch noch mit dem Ende des Braunkohleabbaus zurechtkommen muss.

Ich komme selbst aus einem kleinen Dorf mit 800 Einwohnern aus einer Steinkohleregion. Ich kann nachempfinden, dass viele Menschen hier verunsichert sind, weil das Ende der Braunkohle naht. In meiner Heimat Nordrhein-Westfalen hat auch ein Kohleausstieg stattgefunden, aus der Steinkohle. Ich verstehe, dass das am Selbstwertgefühl und der Identität der Menschen rüttelt, wenn das, was ihnen im Leben so wichtig war, nicht mehr da sein wird und die neuen Perspektiven nicht völlig klar sind. Aber was ich hier auch aus den Gesprächen mitnehme, ist, dass der Wandel gelingen kann, wenn man den Menschen Zeit gibt und verlässliche Daten. Das Ausstiegsdatum 2038 ist ein Kompromiss, der von allen Seiten mit Schmerzen eingegangen worden ist. Dieser Kompromiss sollte daher nicht infrage stehen. Und dann wird auch das gelingen, was Senftenberg schon zeigt. Wenn Verlässlichkeit da ist, dann machen die Menschen Veränderung mit.

Würden Sie sagen, dass die Politik bei diesem schwierigen Thema ausreichend kommuniziert?

Politik muss erklären, muss ansprechbar sein. Deshalb habe ich auch meine "Ortszeiten" eingeführt. Ich verlege für drei Tage meinen Amtssitz in eine Region, um mit den Menschen dort ins Gespräch zu kommen. Ich komme mit Neugier, ich will wirklich wissen, wie es den Menschen geht, ich suche viele Begegnungsmöglichkeiten. Wenn das Vertrauen in die Demokratie gestärkt werden soll, braucht es Nähe. Nähe entsteht durch Begegnungen. Und Begegnungen brauchen Zeit. Und die Zeit dafür bringe ich an diesen drei Tagen mit.

Ihnen ist im Vorfeld ziemlich viel Hass entgegengetreten. Sie wurden hier sogar als Kriegstreiber beschimpft. Was macht das mit Ihnen als neutrales Staatsoberhaupt und auch als Mensch persönlich?

Diejenigen, die sich respektlos, diskreditierend und herabwürdigend äußern, sprechen nicht für die Mehrheit.

Warum haben Sie sich im großen Bundesland Brandenburg ausgerechnet Senftenberg für Ihre Ortszeit ausgesucht?

Ich gehe nicht dorthin, wo schon alles gelungen ist, wo alles stimmt. Ich will dorthin gehen, wo Veränderungsprozesse stattfinden, mit Kritik oder mit Zustimmung, mit Zuversicht oder mit Sorgen. Für diese Veränderungsprozesse steht auch Senftenberg. Wobei Senftenberg meine persönliche Idee war, weil ich Senftenberg aus meiner brandenburgischen Vergangenheit kenne und sehe, wie sich die Stadt verändert hat. Als ich das erste Mal in Senftenberg war, da gab es den Stadthafen überhaupt noch nicht. Jetzt ist die Marina in Betrieb.

In der Lausitz sitzt die Angst tief vor Veränderung. Die Menschen sind enttäuscht von der Politik. Haben Sie als Bundespräsident ein Mittel, diese Menschen besser zu erreichen? Was können Sie anschieben?

Ich bin davon überzeugt, dass wir wieder mehr miteinander reden müssen und einander zuhören. Wir müssen verschiedene Meinungen debattieren und Kompromisse finden. Ich will denen, die mit der Demokratie nichts im Sinn haben, nicht das Feld überlassen. Gerade deshalb bin ich hier: um zu hören, um zu erfahren, um ins Gespräch zu kommen.

Fünf Fragen an den Bundespräsidenten – fünf Antworten in einem Satz. Welchen Eindruck haben Sie von den Senftenbergern?

Sehr gastfreundliche Menschen und die meisten mit einem Blick auf ihre Mitmenschen.

Was hat Sie überrascht bei ihrem Besuch?

Mich hat überrascht und gefreut, wie viele die Veränderung positiv annehmen und die Gestaltung für ihre Kinder und Kindeskinder mit anpacken.

Was ist ihr Lieblingsort in Senftenberg?

Am Wasser, mit Blick auf den See.

Was hat Ihnen gar nicht gefallen bei ihrem Besuch?

Ich habe nichts gegen Demonstrationen, aber gegen dumme Parolen.

Wo rangiert Senftenberg im "Best of" von sieben Ortszeiten?

Sind alle auf Nummer eins (lacht).


Die Fragen stellten: Claus Liesegang, Jan Augustin, Andrea Budich