Interview mit dem RBB während der "Ortszeit Senftenberg"

Schwerpunktthema: Interview

10. Mai 2023

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RBB am 10. Mai während seiner "Ortszeit Senftenberg" ein Interview gegeben. Darin fordert er auf, die Lebensleistung der Menschen im Osten wie im Westen anzuerkennen und Regionen im Umbruch Mut zu machen: "Die Menschen brauchen Gewissheit, dass der Einsatz, dass das Engagement sich lohnt, dass es sich realisieren wird – das alles kann man hier zeigen."

Bundespräsident Steinmeier im RBB-Interview mit Angela Ulrich und Stefan Braun auf der Seeterrasse des Wasserverbands Lausitz in Senftenberg

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RBB am 10. Mai während seiner "Ortszeit Senftenberg" ein Interview gegeben, das zwei Stunden später unverändert in der Sendung "Lausitz im Wandel" ausgestrahlt wurde.


Wir sind hier direkt am Senftenberger See, dem Stadthafen, zu Gast beim Wasserverband Lausitz, und Sie sehen Boote da, wo vor fünfzig Jahren in Tagebauen die großen Bagger standen, hier ist der Umbruch schon vonstattengegangen, und wir begrüßen ganz herzlich den Bundespräsidenten bei uns, Frank-Walter Steinmeier.

Schönen guten Abend!

Der Senftenberger See, wie gesagt ein ganz besonderer Ort: der erste Tagebau, der geflutet wurde schon vor fünfzig Jahren. Allmählich wird's dunkel, aber es war heute ein supersonniger Tag. Hatten Sie irgendwann mal so das Gefühl, ich will da meine Füße reinstecken?

Vor allen Dingen war ich begeistert von den Senftenbergern – dass sie auch noch das Wetter organisiert haben neben all den anderen Freundlichkeiten, die uns hier begegnet sind. Nee, ich war wirklich begeistert bisher an diesen ersten fast zwei Tagen, die wir gleich während dieser "Ortszeit" hinter uns haben. Es war nicht nur eine freudige Begrüßung und große Gastfreundschaft, die wir hier erfahren haben, sondern es waren wirklich auch ganz berührende Begegnungen, manchmal Begegnungen ganz jenseits der Politik.

Ein bisschen was hat davon zu tun mit dem See hier hinter mir. Heute Nachmittag eine Frau, die mich beim Durchgang durch die Stadt ansprach und sagte: Ich bin so begeistert von Senftenberg, von dieser Seenlandschaft, ich komme immer wieder, und das offensichtlich schon seit mehreren Jahren. Aber andererseits eben doch auch ganz ernste, ganz berührende Begegnungen, die wir hatten. Zum Beispiel gestern mit einer wunderbaren Inszenierung hier auf der Neuen Bühne, einem Stück eines ukrainischen Autors, "Was man im Dunkeln sieht" – ja, ich war angetan, ich kann nicht sagen begeistert, weil der Stoff wirklich schwierig war, der den Zuschauerinnen, den Zuschauern in einer Weise nahe gebracht hat, wie Menschen im Augenblick unter dem Dauerdruck des Sirenengeheuls, des Luftschutzkellers leben; und das so nachdrücklich, dass ich wirklich gestern Abend noch lange wachgelegen habe und über dieses Stück nachgedacht habe. Eine übrigens großartige Inszenierung, wo vielleicht in den Hauptstädten der Länder und in der Bundeshauptstadt gar nicht bewusst ist, was auf diesen kleinen Bühnen wirklich gezeigt wird. Eine tolle Kulturlandschaft hier!

Herr Bundespräsident, Sie schwärmen so ein bisschen von dem Ort hier. Wir haben uns tatsächlich am Anfang gefragt, warum sind Sie nicht womöglich noch in einen Ort gegangen, wo der Umbruch noch viel schwerer ist, wo er noch bevorsteht, wo mit dem Wandel noch gekämpft wird, wo Sie vielleicht auch mehr gebraucht werden?

Das ist ja die Frage, wie man sich sozusagen am nutzbringendsten einsetzen kann. Und vielleicht mal zunächst: Diese Ortszeiten mache ich jetzt seit einem Jahr. Drei Tage am Stück mit viel Zeit, mit viel Aufwand, in eine Region zu gehen, natürlich nicht, um in erster Linie, die Amtsgeschäfte, die ich sonst erledige, jetzt von hier aus zu erledigen, sondern vor allen Dingen, weil ich Gelegenheit schaffen will zu vielen Begegnungen, zu vielen Gesprächen. Und von Anfang an war meine Vorgabe für die Auswahl der Städte, in die wir gehen, erstens, es sollten keine Landeshauptstädte sein, sondern da, wo wir vermuten können, dass Politik nicht ganz so präsent ist. Und zweitens sollten es Städte sein, in denen nicht schon alles glatt gebügelt ist, sondern wo es Umbrüche gibt.

Senftenberg kenne ich aus früheren Jahren. Ich bin zweimal hier gewesen zu einem Zeitpunkt, als es dieses schöne Gebäude und den Blick auf den See so noch gar nicht gab; später einmal, als das alles hier im Bau war. Und man kann eben hier in Senftenberg zeigen, wie groß die Herausforderung war, wie es aber auch Menschen durch Engagement gelingt, nicht nur einen Perspektivenwechsel einzunehmen, sondern wie es Menschen gelingt, sich eine neue Zukunft oder ein neues Standbein in der Zukunft zu bauen. Und ich finde, der Besuch hier macht möglicherweise anderen Städten in der Region, in der Braunkohleregion auch Mut.

Haben Sie trotzdem sich gefragt, ob eigentlich ich mit dem, was ich machen kann, mit dem, was ich erreichen will, mit dem was ich atmosphärisch schaffen kann – es ist total schön hier –, woanders noch viel mehr erreichen könnte?

Es ist nicht einfach total schön. Ich habe eben gesagt, ich kenne Senftenberg noch aus einer anderen Zeit, Ein besuch, bei dem man zeigen kann: Der Umbau braucht Zeit. Die Menschen brauchen Gewissheit, dass der Einsatz, dass das Engagement sich lohnt, dass es sich realisieren wird – das alles kann man hier zeigen. Und ich glaube, ein Besuch dort, wo im Augenblick keine Hoffnung besteht, dass sich die Dinge verbessern, da macht auch keinen Mut, wenn der Bundespräsident da ist. Sondern dort hinzugehen, wo im Zusammenwirken von Menschen vor Ort, von Wirtschaft, von Arbeit, von Politik etwas Neues entsteht – ich glaube, das ist ein Modell, das ist ein Vorbild auch für andere Städte und Orte hier in der Region. Deshalb Senftenberg.

Aber wenn Sie sagen, "keine Hoffnung besteht, deswegen bin ich da vielleicht auch doch nicht so nützlich" – das ist ja auch ein Gefühl, was in vielen Regionen der Lausitz vorherrscht; das sagen auch oft Umfragen, "ich habe Angst vor Veränderung", dass das ganz viel gespürt wird. Wie erleben Sie das hier an so einem Ort?

Wir haben das Thema ja nicht ausgespart. Und wenn ich hier in Senftenberg bin, rede ich über die gesamte Lausitzregion, die ich kenne. Und ich kenne Bergbauregionen aus meiner eigenen Heimat. Ich war acht Jahre lang Bundestagsabgeordneter in Brandenburg, bin ursprünglich geboren und aufgewachsen in Nordrhein-Westfalen. Ich habe den Kampf um die Steinkohle dort noch in guter Erinnerung. Und ich weiß, was das an Identitätsverlust und Gefährdung des Selbstbewusstseins bedeutet, wenn eine Tradition, von der eine ganze Landschaft, mehrere Generationen von Menschen geprägt sind, wenn das plötzlich zu Ende geht.

Und das, was Ärger auslöst, auch das habe ich in Erinnerung, wenn ich so an die Schlagzeilen der Jahre aus dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends denke, wo man damals über die Steinkohle gesagt hat, das sind die Kostgänger des Steuerzahlers – das muss man sich noch mal in Erinnerung rufen, um auch die Situation hier richtig einzuschätzen. Das sind Menschen, Bergleute, die hochrespektiert waren; die wertgeschätzt waren; die nach 1945 diejenigen waren und so verstanden worden sind, die am Aufbau mitgewirkt haben, die einen Wiederbeginn nach 1945 möglich gemacht haben. Wenn die dann auf einmal als Kostgänger bezeichnet werden und möglichst schnell abgeschafft werden sollten, das war damals auch im Westen ein ziemlicher Abbruch. Und es gehört zu den Erinnerungen in meiner persönlichen Geschichte, dass ich 2019 am 21. Dezember die letzte deutsche Steinkohle Zeche habe schließen müssen und vor weinenden Bergleuten gestanden habe und den letzten Brocken Steinkohle aus dem Bergwerk entgegengenommen habe.

Deshalb, weil ich das alles erfahren habe, weiß ich, was es hier bedeutet in der Region, wenn nicht nur eine Bergbautradition zu Ende geht, sondern wenn man die Befürchtung hat, dass eine Entwertung von Biographien, mindestens einer beruflichen Tradition zu Ende geht. Deshalb bin ich ja nicht hier, um sozusagen die Menschen in ihrer Trauer zu bestätigen, sondern zu sagen: Ich verstehe das, was hier passiert ist; aber es gibt den Perspektivenwechsel, die Möglichkeit für andere Standbeine, auch für die Menschen in der Region.

Und woran ich heute bei der kontroversen Diskussion, die wir miteinander geführt haben, erinnert habe: Was mir manchmal nicht gefällt, ist dieser Zungenschlag gegen die Politik – ich will gar nicht sagen, gegen die Demokratie, sondern gegen die Politik, weil ich immer daran erinnere: Auch das, was hier entstanden ist, ist das Werk von Menschen, im Wesentlichen von Menschen hier vor Ort, aber es konnte nur gelingen, weil im Zusammenwirken zwischen den Menschen vor Ort und der Politik gemeinsam etwas entstanden ist, auch mit viel öffentlichem Geld.

Sie haben das gerade angesprochen, dass viel Positives entstehen kann. Jetzt hat man in so einem Prozess immer Gewinner und Verlierer. Also es gibt Leute, und Sie werden denen begegnet sein, die können jetzt in Cottbus in dem Bahnwerk arbeiten, kriegen da einen neuen, sauberen Arbeitsplatz. Es gibt Handwerker hier, die verlieren ihre Leute, weil sie sie nicht so gut bezahlen können. Wie verhindert man, dass es nicht zu einer neuen Spaltung kommt, wenn so ein Prozess entsteht, oder wenn so ein Prozess angestoßen wird? Wie macht man das?

Ich habe im letzten Jahr mal in einer Rede gesagt, Fortschritt wird nur gelingen, auch Transformation wird nur gelingen, wenn auch die Schwächsten etwas zu gewinnen haben. Und deshalb, glaube ich, kommt es immer wieder darauf an, Perspektiven deutlich zu machen, wenn etwas zu Ende geht. Und ich finde, hier in der Region packt man es ja gut an. Die Tatsache, dass man gekämpft hat um einen sogenannten Kohlekompromiss, ist ja in diesem Zusammenhang besonders bedeutsam.

Und dass hier für diese Region in Zukunft noch einmal 10 Milliarden für den Umbau von Wirtschaft zur Verfügung stehen, das ist nicht nur Geld. Sondern das ist in der Tat eine Antwort auf Ihre Frage: Wie macht man eigentlich Hoffnung? Wie kann man neue Perspektiven nicht nur als Schlagwort gebrauchen, sondern unterstreichen? Und da, finde ich, hat die Region hier Ideen entwickelt, bei denen man sagen kann, dass für die Kinder und Kindeskinder derer, die hier leben, neue Perspektiven entstehen – nicht nur durch das Bahnausbesserungswerk, das entstehen wird, nicht nur durch die Verbesserung der Schienenverkehre zwischen Berlin, Cottbus und Görlitz, wo Wirtschaftsregionen miteinander angeschlossen werden, nicht nur durch den Ausbau der Universitätsinfrastruktur, von der auch Senftenberg profitieren wird…

Sie haben vollkommen recht. Es gibt so einen Spruch: Wir sind Malocher, keine Mediziner. Was sagen Sie denen denn?

Das passt nicht ganz genau für diejenigen, die jetzt im Augenblick im Tagebau tätig sind. Aber wir haben heute mit der Wirtschaft hier in Senftenberg über Personalmangel gesprochen. Und es hat sich dabei herausgestellt: Wir haben, was Ausbildungsberufe angeht, technisch-gewerbliche Ausbildungsberufe, wir haben hier in fast allen Branchen Mangel. Und die Frage danach, ob es möglicherweise mit dem 2038 zu Ende gehenden Tagebau den Wechsel aus dem Tagebau hier in die örtliche Wirtschaft geben kann, war die Antwort die: Auch der Tagebau braucht die Leute im Augenblick, die hohe technische Fertigkeiten mit bringen, und sind deshalb auch, solange der Tagebau stattfindet, dort nicht zu ersetzen.

Gerade unter diesem Aspekt, dass man überall Menschen braucht, frage ich mich immer: Wieso steigt trotzdem die Unzufriedenheit? Wieso hat die AfD hier im Moment die Nase vorn? Wieso passieren gerade aktuell in der Region rassistische Vorfälle an Schulen, Klassenfahrten, die abgebrochen werden, und, und, und? Da muss ja doch ein großes Gefühl – trotz Geld, das fließt, trotz Arbeitsplätzen, die neu entstehen – dieses große Gefühl der Unsicherheit da sein, wo vielleicht zu wenig Antworten gegeben werden. Oder wie erklären Sie sich das?

Ja, Politik muss sich erklären, muss Klarheit schaffen. Das Wort, was ich heute mehrfach gehört habe – sowohl auf den Straßen wie in den Gesprächen, insbesondere hier mit der örtlichen Wirtschaft –, war zum Beispiel: Wir brauchen Verlässlichkeit. Der Hinweis darauf, wir haben einen Kohlekompromiss, der sieht den Ausstieg aus der Braunkohleförderung 2038 vor. Dabei sollte es bleiben. Wenn es dabei bleibt, dann wissen wir, darüber hinaus, jenseits dessen gibt es keine Perspektive im Braunkohleabbau, aber mit Blick darauf, dass wir bis dahin sicher sein können.

Sprich, auf 2030 vorziehen für den Osten, höre ich dabei Ihnen raus, wäre auch für Sie jetzt keine gute Perspektive?

Verlässlichkeit ist jedenfalls eine der Rahmenbedingungen, von denen ich in der Tat glaube, dass sie zu dem Aufbau von neuen Perspektiven, auch zu der Ermutigung, die dazu notwendig ist, wirklich sein muss.

Was die anderen Vorgänge, die Sie in Ihrer Frage angesprochen haben, angeht, kann ich Ihnen nur sagen: Ich bin, wie viele andere, einfach erschrocken und erschüttert, dass ein Lehrer mit einem öffentlichen Brief um Hilfe betteln muss, weil er offensichtlich alleingelassen ist in der Auseinandersetzung, was Hass und Hetze, möglicherweise auch gewaltförmige Auseinandersetzungen mit Schülern, mit radikalisierten Schülern angeht – ich bin erschüttert darüber, dass die Vorgänge, die offensichtlich schon seit längerer Zeit anhalten, verschwiegen worden sind, auch von der Schulleitung nichts an die Schulaufsicht gemeldet worden ist. Das Ganze muss aufgeklärt werden. Das verlangt auch eine öffentliche Debatte. Und ich hatte vorgestern die Gelegenheit, mit dem neuen Kultusminister hier in Brandenburg zu sprechen und war in dem Gespräch sehr überzeugt davon, dass er keine andere Sichtweise hat, sondern nicht nur das Erschrecken teilt, sondern gewillt ist und sehr engagiert ist, an der Aufklärung nicht nur mitzuwirken, sondern sie voranzutreiben.

Genauso schlimm der Vorgang, von dem wir mittlerweile gehört haben, dass eine Schulklasse aus Berlin überfallen worden ist von einer, wie ich gelesen habe, neonazistischen Gruppe – Vorgänge, bei denen wir einfach nicht zur Tagesordnung übergehen können, sondern bei denen uns klar sein muss, das dürfen wir nicht ertragen, das dürfen wir nicht dulden. Und wir müssen mit allen möglichen Mitteln, auch den Mitteln der Strafverfolgung, dafür sorgen, dass das nicht wieder vorkommt.

Sie haben gesagt, die Politik muss sich erklären. Sie versuchen das jetzt, Sie kommen her, Sie reden mit den Leuten. Gleichzeitig ist es ja so, dass es Milliarden-Versprechungen und Zusagen gibt – trotzdem sind die Leute misstrauisch, weil sie nicht wissen: Kommt es wirklich, ist es für uns wirklich gemeint? Sie haben ja eine historische Erfahrung gemacht. Heißt es im Umkehrschluss, dass Sie sagen würden: Eine Regierung muss eigentlich viel präsenter sein, die Politik insgesamt müsste hier präsenter sein, müsste sich erklären, müsste auch den öffentlichen Raum anders in Besitz nehmen, wenn wir jetzt über auch rechtsextremistische Vorfälle sprechen?

Präsenz ist wichtig, und ich spüre ja bei diesen "Ortszeiten", dass es nicht nur Freundlichkeiten sind, sondern dass die Leute eine echte Spannung, eine echte Neugier mitbringen, mit Vertretern von Politik in Berührung zu kommen, Fragen zu stellen, vielleicht Antworten zu kriegen – das ist auch heute passiert, als wir über den russischen Überfall auf die Ukraine gesprochen haben –, vielleicht Antworten, mit denen sie nicht unmittelbar einverstanden sind oder von denen sie enttäuscht sind, aber bei denen sie spüren, sie werden ernst genommen. Deshalb sage ich Ihnen: Eine meiner Motivationen, in diese "Ortszeiten" zu gehen mit relativ viel zeitlichem Aufwand und Vorbereitung ist zum Beispiel der, dass ich gerne denen das Argument nehmen würde, die da immer sagen: Für uns interessiert sich ja keiner, uns hört keiner zu. Ich kann es nicht überall gleichzeitig tun, aber ich kann Beispiel geben und sagen: Dieses Argument ist falsch. Sondern: Wie es den Menschen in der Region, gerade im ländlichen Raum geht, gerade da, wo die Herausforderungen besonders sind, das interessiert uns und das muss ein Thema der Politik sein. Und deshalb bin ich in der Tat der Meinung, wir müssen viel mehr zurückkommen ins Gespräch – ein Gespräch, das in den Zeiten der Pandemie zum Stillstand gekommen ist. Das muss uns klar sein, das ist auch ein Punkt, dass in zweieinhalb Jahren größere Familientreffen nicht stattgefunden haben, die Nachbarschaft sich nicht gefunden hat, keine politischen Veranstaltungen stattgefunden haben – das hat Kommunikation, auch politische Kommunikation in beunruhigender Art und Weise radikalisiert. Und dagegen will ich meinen Beitrag leisten und auch angehen.

Sie sagten gerade das Stichwort "ernst genommen". Ich glaube, das ist hier etwas sehr, sehr Wichtiges im Osten. Weil eben sehr viele – auch hier, wir haben hier vorher noch mal herumgefragt – gesagt haben: "Ihr habt uns nie gefragt, wie wir es eigentlich gemacht haben. Ihr nehmt uns und unsere Lebensleistung nicht ernst." Ist das so, ist das auch Ihre Analyse? Und was würden Sie dagegen tun?

Indem ich zum Beispiel sage, dass ich im ländlichen Raum groß geworden bin, und ob Ost oder West, beim ländlichen Raum, da sitzen wir ein bisschen in einem Boot. Politik und Berichterstattung über Politik setzt natürlich Schwerpunkte, die eher in den Hauptstädten der Länder und vor allen Dingen in der Bundeshauptstadt bearbeitet werden. Da kommt es vor, dass die Menschen hier in Senftenberg und anderswo in ländlichen Räumen sagen: Das sind aber gar nicht unsere Themen. Das ist Teil der Antwort.

YouGov mit der Bertelsmann-Stiftung hat ja für unser Gespräch eigens eine Umfrage gemacht, und da war ganz klar, dass gerade aus dem Osten ganz viele, zwei von drei Leuten gesagt haben: "Unsere Lebensleistung wird nicht gewürdigt." Im Westen war das völlig anders, da hieß es: "Jaja, ist schon alles in Ordnung." Das doch vielleicht etwas, das ist spezifisch für hier – oder wie sehen Sie es?

Ist es, ja. Ich glaube, wenn wir über bei manchen gewachsene Distanz zu Politik und Demokratie reden, sollten wir nicht einfach Demokratieabsage oder Demokratieskepsis oder Politikskepsis beschwören, sondern wir müssen ein bisschen nach den Ursachen gucken, und die sind nach meiner Auffassung – und vieles davon hat sich bestätigt – im Osten und im Westen durchaus unterschiedlich.

Im Westen treffe ich oft auf das Gefühl, dass Demokratie für etwas Selbstverständliches und ewig Garantiertes gehalten wird. Demokratie wird manchmal begriffen wie ein Supermarktregal, aus dem man sich das, was gefällt, entnimmt und wenn es nicht gefällt zurückgibt. Das ist deshalb ein großes Missverständnis, weil diejenigen, die aus dem Regal etwas entnehmen und die etwas reinstecken, immer dieselben sind. Will sagen: Demokratie lebt nur vom Engagement der Bürger, und das wieder wachzurufen und zu sagen: Ich kann die Verantwortung für die Zukunft der Demokratie nicht irgendwo abgeben, sondern das muss auch mein Engagement sein – das ist etwas, was stärker vielleicht im Westen formuliert werden muss, wo das Gefühl von Selbstverständlichkeit und ewiger Garantie so prägend geworden ist.

Im Osten kommt hinzu – und das macht es etwas anders –, dass in der Tat das Gefühl vorzufinden ist, dass nicht genügend Lebensleistung anerkannt wird; dass das Untergehen eines Staates, das Untergehen eines politischen Systems aus hiesiger Sicht oft verwechselt wird mit der Anstrengung, die Menschen dennoch geleistet haben. Und deshalb war der Versuch meiner vorletzten Antwort, zu vermitteln, dass ich hier bin, um zu sagen: Darum geht es nicht. Lebensleistung muss anerkannt werden, und die Art und Weise, wie manche im Augenblick, gerade in den jüngsten Tagen über den Osten und die Menschen im Osten in wirklich diskreditierender Art und Weise geredet haben, das muss man richtigstellen. Und auch dazu besteht Gelegenheit bei solchen Treffen und Begegnungen, wie wir sie hier haben.

Sie plädieren ja ganz stark für dieses demokratische Bewusstsein. Jetzt haben wir eine Situation, die uns wissenschaftlich sagt: Wir müssen ganz schnell sein im Kampf gegen den Klimawandel. Und wir haben Leute, die aus unterschiedlichsten Motiven heraus Angst haben oder Sorge oder manchmal Zweifel, weil die Politik sich nicht erklärt oder unterschiedliche Botschaften versendet. Wie können Sie, wie soll eine Gesellschaft das zusammenkriegen zwischen den harten Fakten und dem Gefühl: Lasst mich doch jetzt mal damit in Ruhe, ich habe doch schon so viel machen müssen?

Ja, das ist, glaube ich, nicht nur eine Frage der Kommunikation. Sondern das, was sich in Transformationsprozessen oder in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen regelmäßig stellt, ist ja: Es bildet sich etwas Neues, aber es verschwindet sehr viel schneller etwas Altes, und dazwischen klafft sozusagen eine Vertrauenslücke. Die muss man zu füllen versuchen: mit politischer Kommunikation, mit politischer Präsenz vor Ort, aber das geht natürlich nie zu Null auf. Darum sind Beispiele so wichtig, an denen wir zeigen können: Das ist nicht nur ein bloßes Versprechen, sondern es kann gelingen, wenn Politik und örtliche Stadtgesellschaft zusammenarbeiten. Dann kann ein Perspektivenwechsel, dann kann das Neue auch dauerhaft entstehen und für die nächsten, die nachwachsenden Generationen wirtschaftliche Sicherheit bieten.

Ich glaube fest daran, dass das gelingen kann, und ich glaube daran, dass gerade diese Region das Potenzial hat. Wir haben vorhin ein paar Beispiele genannt, die mit dem Kohlekompromiss und den finanziellen Mitteln, die daraus entstammen werden und was hiermit auf den Weg gebracht wird. Worüber wir überhaupt noch nicht geredet haben: dass mit den vielen Flächen, die wir hier im Tagebau haben, natürlich auch ein zukünftiger und ganz anderer Beitrag für die Gewinnung und Erzeugung von Energie geleistet werden kann....

Schönes Wort: Gigafactorys…

… zum Beispiel, ja. Wenn wir ein bisschen über die Region hinausschauen, finde ich, dass die östlichen Bundesländer im Augenblick – und im Westen sieht man das – ausgesprochen erfolgreich sind, was die Anwerbung von neuen Technologien angeht. Wenn ich zwei, sogar drei neue Halbleiterfertigungen etwa in Sachsen anschaue; Tesla gehört sicherlich auch dazu; vieles, was hier vor Ort neu entsteht, was wir angesprochen haben. Ich kann verstehen, dass die Leute sehen wollen, was passiert, aber ich bin mit Blick auf eine mittelfristige Zukunft ganz zuversichtlich, dass das hier in den östlichen Bundesländern, auch hier in der Lausitz gelingen wird.

Erschwert der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine dieses möglicherweise keimende Verständnis? Das ist ja etwas, was hier schon sehr anders gesehen wird als gerade im Westen. Gibt es da eine neue Spaltung, die entsteht?

Es gibt viele Selbstverständlichkeiten, die hinterfragt werden müssen, im Westen, aber eben auch im Osten, und das versuche ich zu tun. Wie überhaupt auffällig ist, dass die Frage nach dem Krieg Russlands gegen die Ukraine hier im Osten häufiger gestellt wird als in den vergleichbaren "Ortszeiten" im Westen. Das hat, glaube ich, nicht nur etwas mit der um einige hundert Kilometer größeren Entfernung von den Schlachtfeldern in der Ostukraine zu tun, sondern in der Tat besteht die Sorge, dass etwas in Gefahr gerät, was wir so schon gar nicht mehr haben.

Wir haben gerade heute Mittag über die Frage diskutiert, ob die europäische Sicherheitsordnung in Gefahr gerät. Meine Antwort darauf ist: Die europäische Sicherheitsordnung, an der viele Generationen von Politik seit der Schlussakte von Helsinki 1975 gearbeitet haben, diese europäische Sicherheitsordnung gibt es leider nicht mehr. Das ist nicht die Verantwortung einer deutschen Bundesregierung oder einer Europäischen Kommission. Sondern dass die zerstört wurde, liegt an dem Überfall, liegt in der Verantwortung für den Überfall Russlands auf die Ukraine. Die Prognose, die ich für die nähere Zukunft habe, hören nicht alle gerne, aber: In der Erwartung, dass es irgendwann vielleicht auch ein Ende dieses Krieges geben wird, heißt es nicht, dass wir eins zu eins in die alte Sicherheitsphilosophie wieder einsteigen. Sondern wir werden eine neue Situation vorfinden, in der sich auf mittelfristige Sicht Europa auf der einen Seite, Russland auf der anderen Seite zunächst einmal voreinander schützen und die Philosophie der gemeinsamen Sicherheit auf lange Sicht erst mal nicht mehr das gemeinsame Konzept sein wird. Das ist bedauerlich, und ich bedauere das mit vielen, aber das ist Folge dieses Überfalls auf die Ukraine.

Sie haben vorhin gesagt: Ich höre zu, ich versuche auch ein bisschen zu erklären. Haben Sie heute auch ein paar Appelle an abgegeben? Haben Sie auch gesagt, Menschenskinder, alles gut, was Sie sagen – aber eigentlich muss ich Ihnen sagen: Springen Sie doch, strengen Sie sich an? Machen Sie so etwas auch, oder machen Sie so etwas gar nicht?

Wir sprechen bei diesen "Kaffeetafeln" kontrovers, wir sprechen deutliche Sprache, und ich fordere auch dazu auf. Wenn ich den Eindruck habe, dass die Grundregeln eines Gesprächs nicht beachtet werden oder dass eine Missachtung und Diskreditierung von demokratischer Politik und ihren Repräsentanten [einzieht], dann schreite ich auch ein. Das war heute nicht so, dass man das machen musste, aber es gibt solche Situationen, wo man als Moderator der Gesprächsführer auch die klaren Grenzen eines Gespräches ziehen muss.

Sie werden morgen nach Berlin zurückfahren. Was muss passieren, damit die Lausitzer sagen: Mensch, dass der Bundespräsident bei uns war, das hat was verändert?

Ich überschätze meine Möglichkeiten nicht, und ich weiß insbesondere: Wenn ich zu Reden eingeladen bin – was ein Bundespräsident häufig ist –, ich mit dem Flugzeug hinfliege, eine Rede halte und dann wieder ins Flugzeug einsteige, bewegt man möglicherweise vergleichsweise wenig. Wenn man sich drei Tage Zeit nimmt, dann, glaube ich, sorgt es dafür, dass die Menschen den Eindruck haben: Mensch, die Politik nimmt uns doch ernst mit unseren Bedürfnissen, mit unseren Sorgen. Und die Bereitschaft steigt innerhalb von solchen drei Tagen, auch ein bisschen zuzuhören, welche Angebote die Politik tatsächlich zu machen hat. Auch mit einer dreitägigen "Ortszeit" ändert man die Welt noch nicht, aber ich glaube, man setzt mehr als ein Symbol und nimmt denen, die behaupten, niemand interessiert sich für uns, das Argument.


Die Fragen stellten: Angela Ulrich und Stefan Braun