Interview mit der Zeitschrift Wirtschaftswoche

Schwerpunktthema: Interview

20. Januar 2023

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Zeitschrift Wirtschaftswoche ein Interview gegeben, das am 20. Januar erschienen ist. Darin sagt er: "Wer in diesen unsicheren Zeiten einen verstärkten Rückzug ins Nationale fordert, wer naiven Vorstellungen von Autarkie frönt, der muss sich den Vorwurf des Protektionismus gefallen lassen. Abschottung dient nicht dem Weltfrieden, sondern gefährdet ihn. Mit Abschottung erwirtschaftet man keinen Wohlstand."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit Sonja Alvarez und Max Haerder von der Redaktion der Zeitschrift 'Wirtschaftswoche'

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Zeitschrift Wirtschaftswoche ein Interview gegeben, das am 20. Januar erschienen ist.

Herr Präsident, seit dem 24. Februar 2022 ist der deutsche Blick in die Welt ein anderer, haben Sie im Herbst bei der Verleihung des Henry-Kissinger-Preises gesagt. Wie hat der Krieg Ihren Blick verändert?

Ich gehöre zu einer Generation, für die gemeinsame Sicherheit in Europa kein naiver Wunsch, sondern eine realitätsgesättigte Hoffnung war. In der Schlussakte von Helsinki verpflichteten sich 1975 die USA, Kanada, die Sowjetunion und nahezu alle europäischen Staaten, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Selbstbestimmung der Völker anzuerkennen. Das war ein Riesenschritt mitten im Kalten Krieg. Dass Wladimir Putin dieses Versprechen in seinem imperialistischen Wahn zertrümmern würde, hatten viele nicht erwartet.

Die Hoffnung auf "Wandel durch Handel" hat sich für Sie damit endgültig erledigt?

"Wandel durch Handel" war die gängige Formel der Wirtschaft. Das ist zu einfach gedacht. In der Politik haben wir vom "Wandel durch Annäherung" gesprochen. Gemeint waren der Austausch und, wenn möglich, die Zusammenarbeit etwa in Bildung, Wissenschaft, Kultur und Politik sowie auf dieser Grundlage auch der wirtschaftliche Austausch. Es ist nicht falsch, gemeinsam Grundregeln dafür zu verabreden und auf positiven Wandel zu setzen. Es war allerdings ein Fehler, nicht früh genug erkannt zu haben, wie fundamental der russische Staatschef Wladimir Putin seinen Blick auf die Welt revidiert hat und dass er für seine imperialen Ziele den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ruin seines Landes riskiert. Er hat den Westen zu seinem Feind erklärt. Und daraus müssen wir unsere Schlüsse ziehen.

Putin führt den Krieg betont brutal, ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder, Alte. Warum zögert Bundeskanzler Olaf Scholz in einer solchen Situation mit Waffenlieferungen? Wie passt das zu der Zeitenwende, die der Kanzler ausgerufen hat?

Wir helfen der Ukraine seit Kriegsbeginn humanitär, finanziell, wirtschaftlich und militärisch – in einem Ausmaß, mit dem wir uns nicht verstecken müssen. Im Gegenteil, wir zählen in vielen Bereichen zu den größten Unterstützern. Viele Bürgerinnen und Bürger kümmern sich ehrenamtlich um Opfer und Geflüchtete. Unser Land ist solidarisch mit der Ukraine, und dafür möchte ich allen herzlich danken. Diesen Dank hat auch Präsident Selensky am Dienstag in unserem Videotelefonat übermittelt

Ohne amerikanische Hilfe wäre die Ukraine sehr früh verloren gewesen. Deutschland muss auch von europäischen Partnern getrieben werden, Waffen zu liefern. Ist das Führungsstärke?

Es ist klar, dass die Ukraine sich ohne westliche Unterstützung nicht hätte verteidigen können. Aber dass sie so erfolgreich Russlands Angriffe mit Drohnen und Raketen abwehren kann, ist insbesondere auch den Waffensystemen in der Luftabwehr zu verdanken, die Deutschland geliefert hat – alles in engster Abstimmung mit den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada und natürlich auch mit Frankreich und den EU-Ländern.

Aber wie viel Druck von außen muss auf die Europäische Union noch einwirken, damit aus dem politischen Kohlenstaub des "alten Kontinents" noch so etwas wie ein geopolitischer Rohdiamant wird?

Sie sehen keine Tatkraft? Ich schon. Der Krieg hat die europäischen Staaten auf sehr unterschiedliche Weise getroffen, sei es mit Blick auf Energielieferungen und -preise, sei es bei den Auswirkungen der Sanktionen. Dass sie sich unter diesem Druck trotzdem auf eine gemeinsame politische Linie und eine klare und umfassende Unterstützung für die Ukraine verständigen, hätte doch in Wahrheit niemand erwartet. Ich sehe keinen Grund, die Stärke der EU und ihrer Führung zu unterschätzen.

Olaf Scholz rechtfertigt seine Zurückhaltung stets mit dem Credo, dass Deutschland nicht Kriegspartei werden dürfe. Sind sie besorgt, dass genau das passieren könnte: Deutschland als Kriegspartei?

Deutschland unterstützt die Ukraine nach Kräften, auch militärisch, substanziell und dauerhaft. Denken Sie an die Gepard-Panzer zur Flugabwehr und die gerade beschlossene Lieferung von Schützenpanzern vom Typ Marder. Aber selbstverständlich muss sich jeder verantwortliche Politiker auch mit der Frage beschäftigen, wann und unter welchen Umständen es zu einer dramatischen Ausweitung des Konfliktes kommen könnte. Das gehört in die Abwägung, ebenso wie die Folgeneinschätzung über den Preis mangelnder Unterstützung.

Gibt es für Sie mit Blick auf die Waffenlieferungen eine Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen?

Wenn es diese Grenzen geben sollte, wäre es nicht klug, darüber zu reden.

In dieser Woche haben Sie Boris Pistorius die Ernennungsurkunde als neuer Verteidigungsminister überreicht. Was muss er leisten, damit die Zeitenwende in der Bundeswehr vorangetrieben wird?

Die Bundesregierung muss in einer präzedenzlosen Lage Handlungsfähigkeit beweisen. Das ist im vergangenen Jahr gelungen. Deutschland kommt besser durch die Krise, als viele vorausgesagt haben. Aber es bleiben große Aufgaben. Die Bundeswehr muss sich auf härtere Zeiten einstellen. Landesverteidigung und Bündnispflichten bekommen ein ganz anderes Gewicht. Wie sehr sich die Zeiten ändern, zeigt sich am Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Vor zehn Jahren bin ich von Teilen der Öffentlichkeit heftig kritisiert worden, weil ich dieses Ziel vertreten und im NATO-Rat unterstützt habe. Spätestens jetzt sehen wir, dass wir entschlossen in unsere Armee investieren müssen, um Sicherheit in unsicherer Zeit garantieren zu können.

Sie haben im vergangenen Jahr auch eigene Fehler im Umgang mit Russland eingestanden – welche Lehren ziehen Sie daraus für den Umgang mit Peking?

China ist nicht Russland. Dennoch ist es wichtig, Lehren zu ziehen. Ganz grundsätzlich gilt, dass die Antwort auf China unser Europa ist. Die EU als starker Handelsblock kann im Ringen mit China ihre Interessen behaupten. Deutschland alleine hat nicht dieses Gewicht. Allerdings gilt auch für unser Land, dass wir in sensiblen Bereichen nicht mehr abhängig sein sollten von nur einem einzigen Partner weltweit. Es ist innerhalb kurzer Zeit gelungen, Deutschland unabhängig zu machen von russischem Öl und Gas. Ein großer Erfolg. Die Abhängigkeit von China ist um ein Vielfaches größer und komplizierter. Hier kommt es darauf an, mehr Partner zu gewinnen, unsere Lieferanten und Kunden zu diversifizieren. Weitere Partner, auch in Asien, zu gewinnen, bedeutet nicht das Ende unserer Beziehungen mit China. Es ist ein Gebot der Vorsorge.

Als vor einhundert Jahren der Hamburger Überseeclub gegründet wurde, hat dessen Gründer Max Warburg vor einer egoistischen Handelspolitik gewarnt. Sie haben ihn in Ihrer Rede zum Jubiläum zitiert: „Es ist eine Verkennung der wahren nationalen Werte, wenn ein Volk sich nur für einen Verein auf Gegenseitigkeit zur Bereicherung am Ausland hält." War die Exportnation Deutschland genau das: ein Verein zur Bereicherung am Ausland?

Widerspruch. Deutschland gehört zwar zu den Volkswirtschaften, die von der Globalisierung enorm profitiert haben. Aber wir haben die Schattenseiten nie verkannt, etwa den zwischenzeitlichen Lohndruck und die Verlagerung von Industriearbeitsplätzen. Wer aber in diesen unsicheren Zeiten einen verstärkten Rückzug ins Nationale fordert, wer naiven Vorstellungen von Autarkie frönt, der muss sich den Vorwurf des Protektionismus gefallen lassen. Abschottung dient nicht dem Weltfrieden, sondern gefährdet ihn. Mit Abschottung erwirtschaftet man keinen Wohlstand. Wir erleben gerade eine neue Phase der Globalisierung. Wir benötigen eine neue Philosophie für diese Globalisierung.

Skizzieren Sie sie.

Wir sollten nicht alles machen, was möglich und nicht verboten ist, sondern uns stärker daran orientieren, was richtig ist. Das meine ich mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Staaten und mit Blick auf die Zukunft unseres Planeten. Eine breitere Zusammenarbeit, die mehr Staaten und Regionen gleichberechtigt einbindet, ist in dieser neuen Globalisierung wichtiger denn je. Aber auch anspruchsvoller denn je, weil das 21. Jahrhundert von der Multipolarität vieler selbstbewusster Nationen geprägt sein wird. Das bedeutet für unser Land: Je stärker wir uns vernetzen, desto erfolgreicher werden wir sein.

Deutschland hat das Modell einer offenen Weltwirtschaft zwar immer hochgehalten, aber in der Praxis haben sich doch weder Politik noch Unternehmen für die ganze Welt interessiert. Müssen wir das "global" in Globalisierung also neu entdecken?

Das passiert nach meiner Wahrnehmung bereits. Viele deutsche Unternehmen nehmen in atemberaubender Geschwindigkeit beispielsweise die Nachbarn Chinas als Investitionsstandorte in den Blick. Für mich beweist dieses Tempo zweierlei: Die deutsche Wirtschaft ist, erstens, enorm flexibel. Und sie zieht, zweitens, die richtigen Lehren. Zunehmend gilt die Strategie: China plus 1. Das heißt: Die Unternehmen arbeiten weiter mit China zusammen, suchen aber zugleich Alternativen für robustere Lieferketten.

Während Sie 2018 noch für sechs Tage durch China gereist sind – so lange wie durch kein anderes Land –, bilden Ihre Routen heute die neue Lage ab: Singapur, Indonesien und Korea, demnächst Malaysia. Wie wollen Sie diesen Ländern vermitteln, dass wir es diesmal ernst mit ihnen meinen?

Interessen sind nicht falsch – wenn beide Seiten sie jeweils mit Blick auf ein gemeinsames verbindliches Ziel verfolgen. Deutschland muss sich mehr und neue Partner suchen und die Beziehungen zu befreundeten Demokratien ausbauen; das wird die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre sein. Ich bin vor dem Hintergrund des Ansehens, das Deutschland in der Welt genießt, optimistisch, dass uns das auch gelingt. Und weil Sie nach Südostasien gefragt haben: Im ASEAN-Verbund haben sich Staaten mit 700 Millionen Einwohnern zusammengeschlossen. Es gibt viele gute Gründe für unser Land und unsere Wirtschaft, dort präsent zu sein. Und wir sind dort gern gesehen.

Aber werden die neuen geopolitischen Risiken von der Breite der deutschen Wirtschaft schon eingepreist und betriebswirtschaftlich umgesetzt?

Ich kann nicht für alle Unternehmen sprechen, aber ich tausche mich oft und ausführlich gerade mit Mittelständlern aus – und ich weiß, dass viele von ihnen nicht erst seit Russlands Angriffskrieg ihre Schlüsse ziehen.

Sind Mittelständler und Weltmarktführer besser darin, zu diversifizieren?

Große Mittelständler, die sich nicht an Börsenkursen oder ihren Shareholdern orientieren müssen, sind oft schneller, wenn es um die notwendige Anpassung geht. Das stimmt.

Dax-Konzerne wie BASF und Volkswagen investieren hingegen weiterhin Milliarden in China, obwohl Peking einen Krieg gegen Taiwan inzwischen offen in Erwägung zieht. Ist das klug?

Ich sehe, wie deutsche Automobilunternehmen durch hohe Investitionen und mit allem Ehrgeiz der Ingenieurinnen und Ingenieure insbesondere an der Entwicklung von E-Autos arbeiten. Und kaum eine Branche ist weltweit so diversifiziert wie die deutsche Chemieindustrie. Ich gehe davon aus, dass keines dieser großen Unternehmen globale Risiken und erst recht nicht die Risiken einseitiger Abhängigkeiten von Rohstoffen oder Märkten unterschätzt. Und ganz generell hat die deutsche Wirtschaft gerade im vergangenen Jahr wieder gezeigt, wie robust und leistungsstark sie ist. Wir hatten trotz des Krieges und seiner Folgen fast zwei Prozent Wachstum; der von manchen Experten prophezeite Niedergang ist ausgeblieben.

Vielleicht ist es so lange richtig, in China zu sein, bis es über Nacht falsch wird? Anders gefragt: Wie hoch ist das Risiko, dass China Taiwan angreift?

Die ganze Welt muss sich bemühen, dass dieses Szenario nicht Wirklichkeit wird. Es überrascht nicht, dass die Taiwan-Frage in der chinesischen Nachbarschaft drängender diskutiert wird als bei uns: Das haben meine jüngsten Gespräche in Japan, Singapur und Südkorea gezeigt. Gemeinsam müssen wir auf Peking einwirken, damit dieser Ernstfall nie eintritt.

Die deutsche Chinastrategie will das Land mit einem Dreiklang erfassen: Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale. Was ist Peking für Sie?

China ist und bliebt alles drei zugleich: Rivale, Wettbewerber und Partner – ja, auch systemischer Rivale. Uns bleibt nicht verborgen, dass China sich verändert. Das Land wird innenpolitisch autoritärer geführt und agiert außenpolitisch zunehmend ideologisch. Generalsekretär Xi Jinping hat gesagt: Wir wollen China unabhängig von der Welt machen, aber die Welt abhängig von China. Das ist mit den Prinzipien eines fairen, wirtschaftlichen Austauschs nicht vereinbar. Darüber werden wir mit Peking auch streiten müssen. Aber unterschätzen wir uns auch nicht: China bezieht fast die Hälfte seiner Vorprodukte aus der EU, auch China braucht also Partner.

Aber nach Partnerschaft klingt das nicht mehr.

Partnerschaft erlaubt Kritik und eigene Interessen. Ebendeshalb gilt: Wer einem Ende der Beziehungen zu China das Wort redet, stößt bei mir auf einen entschiedenen Widerspruch. Auch weil es viel zu viele Herausforderungen gibt, die wir nur gemeinsam lösen können. Unser Klima zu schützen, die Artenvielfalt zu erhalten und Proliferation zu verhindern – das alles sind globale Aufgaben, da geht nichts ohne Peking. Und manchmal geht ja auch was zusammen, wie die Verhandlungen über ein weltweites Abkommen zum Schutz der Natur und Artenvielfalt im Dezember in Kanada gezeigt haben.

Also ist die Strategie des "Friendshoring" nur eine Idee wohlmeinender Politikwissenschaftler – ohne Relevanz?

Die Strategie ist hochrelevant und zugleich anspruchsvoll. "Friendshoring" heißt auch, sich vom Schwarz-Weiß-Blick auf die Welt zu lösen. Dieser schwarz-weiße Blick ist gerechtfertigt beim Krieg Russlands gegen die Ukraine. Da ist klar, dass Russland der Täter ist, dass die Ukraine überfallen wurde. In der internationalen Politik haben wir es dagegen meistens mit unterschiedlichen Stufen von Grau zu tun. Wir Deutschen müssen lernen, mit Ambivalenzen umzugehen, sie auch auszuhalten. Das bedeutet nicht, unsere Werte und Standards über Bord zu werfen oder zu schweigen, wenn wir anderer Meinung sind. Aber wenn wir uns aus einseitigen Abhängigkeiten lösen wollen, müssen wir uns auch Ländern öffnen, die nicht sind wie wir, die aber an gemeinsamen, global geltenden Regeln interessiert sind und diese akzeptieren. Die Differenzen werden bleiben. Wir müssen das Verbindende suchen.

Mehr Partner wagen?

So ist es. Vorhandene Bündnisse stärken, neue Partnerschaften schließen. Ich bin deshalb froh und dankbar zugleich, dass die transatlantische Partnerschaft so eng und kraftvoll ist wie lange nicht. Joe Biden ist ein besonnener US-Präsident, der um Amerikas Verantwortung in und für die Welt weiß.

Wie partnerschaftlich ist der Inflation Reduction Act, der deutsche und europäische Unternehmen unverhohlen nach Amerika lockt?

Die USA suchen ihren Weg, wie sie Bürger und Unternehmen schützen und ihnen helfen können. Umso wichtiger ist, dass wir als Europäer das Unsrige tun. Es ist gut, dass die EU-Kommission einen Plan zur Stärkung der Wirtschaft entwickelt. Auf der Basis können wir mit unseren amerikanischen Freunden über Kompromisse und Gemeinsamkeiten reden.

Schon bei den Wahlen 2024 kann jedoch im Weißen Haus wieder jemand sitzen, dem das transatlantische Verhältnis unwichtig ist. Umso mehr stellt sich abermals die Frage: Wie überzeugen wir neue Partner, dass wir nicht nur in der Not kommen?

Ich habe gerade bei meiner Reise nach Brasilien erfahren, wie sehr es von Vorteil ist, wenn man in anderer Funktion schon vor Ort war; wenn es also bereits belastbare Beziehungen gibt. Ich habe die von Ihnen angedeuteten Erfahrungen jedenfalls nicht gemacht. Der Blick auf uns selbst schwankt ja bisweilen zwischen "hoch zu Ross" und "gramvoll selbstgequält". Der Blick von außen ist ein anderer: Wir werden geschätzt, für unsere politische Stabilität, für die leistungsfähige Wirtschaft. Und auch dafür, dass wir uns für die Folgen unseres Tuns interessieren – ob beim Klimaschutz oder bei Arbeitnehmerrechten.

Wir Deutschen bringen nicht nur oft viel Geld mit, sondern immer auch sehr viel Moral. Kommen diese Überlegenheitsgesten wirklich überall gut an?

Überlegenheitsgesten? Viele Länder wissen um die kritische Sensibilität, mit der wir auf unsere eigene Geschichte schauen. Und erwarten sogar, dass wir gemeinsam Dinge zum Besseren verändern. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, ebenfalls aus Brasilien: Der Amazonas leidet sehr unter illegalem Goldabbau. Wenn wir die Herkunft des Goldes bestimmten und seine Einschmelzung mit legal gefördertem Gold verhinderten, würde weniger illegales Edelmetall aus Brasilien auf den Weltmärkten landen – und der Regenwald würde geschützt. Das ist mehr als nur Moral. Da geht es um den Schutz gemeinsamer Lebensgrundlagen.

Brasilien gehört zu den Ländern, die auf die Weltbühne drängen. Deshalb zum Schluss: Teilen Sie die These, dass die internationale Politik künftig weniger von einem Dualismus USA-China geprägt sein wird als von diesen aufstrebenden Mittelmächten?

Das ist nicht die Zukunft, das ist die Gegenwart. Länder wie Brasilien, Indien, Indonesien, Senegal, Südafrika wollen sich nicht in eine bipolare Welt zwängen lassen – und sie fügten sich auch nicht in eine solche ein, so es sie gäbe. Wir müssen lernen, dass wir es mit vielen aufstrebenden, selbstbewussten Nationen zu tun haben, die politisch eigensinnig und ökonomisch kräftig sind.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf die Ukraine zurück. Sie haben mit Wolodymyr Selensky ein Videogespräch abgehalten. Erwarten Sie ihn bald zum Staatsbesuch in Berlin?

Präsident Selensky und ich tauschen uns regelmäßig, eng und vertrauensvoll aus. Im Oktober war ich in Kyjiw, wir sprechen per Telefon, zuletzt per Video. Und natürlich freue ich mich, wenn ich ihn wieder persönlich in Berlin begrüßen kann.

Und was muss passieren, damit Sie wieder nach Russland fahren?

Russland setzt den Krieg gegen die Ukraine mit unvermittelter Brutalität fort. Die Frage einer Reise stellt sich mir nicht.

Die Fragen stellten: Sonja Álvarez, Max Haerder