Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Tageszeitung Freie Presse während seiner "Ortszeit Freiberg" ein Interview gegeben, das am 8. Dezember in deren Druckausgabe veröffentlicht wurde.
Herr Bundespräsident, warum haben Sie Freiberg als Station für einen Ihrer Ortszeit-Besuche ausgewählt?
Zwei Jahre lang hatten wir wegen Corona wenig Begegnungen. In dieser Zeit hat sich die Gesprächskultur in Deutschland verändert. In vielen Städten haben Menschen gegen Corona-Maßnahmen protestiert, gegen Maskenpflicht, gegen das Impfen. Freiberg ist durch die Proteste bundesweit bekannt geworden. Natürlich gehören Proteste zur Demokratie. Ich finde es aber wichtig, dass wir wieder lernen, einander zuzuhören. Und dass wir wieder in der Lage sind, die Demokratie auch dann für vernünftig zu halten, wenn gewählte Parlamente zu anderen Entscheidungen kommen als wir es gerne hätten. Wir müssen das demokratische Gespräch wieder einüben. Dazu bin ich hier.
Sie wollen mit den Leuten ins Gespräch kommen. Gibt es Menschen, die Sie gar nicht mehr erreichen, die gar nicht mehr zuhören wollen?
Die Vermutung, dass Leute nicht mehr erreichbar sind, kann ich nicht bestätigen, im Gegenteil. Gestern bin ich über den Christmarkt in Freiberg gelaufen und von vielen Leuten angesprochen worden. Das ist eine gute Erfahrung. Von Angesicht zu Angesicht verläuft der Austausch oft völlig anders als in den sozialen Medien. Selbst diejenigen, die anderer Meinung sind, hören zu. Ich bin davon überzeugt, dass wir dieses persönliche Gespräch wieder mehr suchen müssen, auch außerhalb der Bundeshauptstadt, außerhalb der Landeshauptstädte.
In den Städten ist es leicht, Maßnahmen beispielsweise gegen den Klimawandel zu beschließen – die Windräder für die Energiewende aber werden hier aufgestellt, das Tempolimit auf der Autobahn fühlt sich dort anders an, wo es keinen öffentlichen Nahverkehr gibt. Wie kann man die Menschen hier mehr mitnehmen?
Im ländlichen Raum, in den kleinen Städten sind die Bedürfnisse durchaus andere als in der Stadt. Es geht also darum, dass wir unsere Wahrnehmung verändern. Wenn wir anerkennen, dass manches im ländlichen Raum schwieriger oder einfach anders ist als in den großen Städten, ist der Anfang getan, um künftig gute Kompromisse zu finden.
Sie haben betont, wie wichtig Ihnen das Gespräch ist mit Menschen, die anderer Meinung sind. Der sächsische Ministerpräsident ist auch einer, der dieses Gespräch seit drei, vier Jahren gezielt sucht. Michael Kretschmer brachte das den Vorwurf ein, Demokratiefeinden zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Wie sehen Sie das?
Ich habe Respekt davor, wie Michael Kretschmer seine Aufgabe erfüllt. Diese ist in den letzten zwei Jahren nicht einfacher geworden. Er stellt sich Positionen, die nicht die seinen sind, macht aber gleichzeitig deutlich, wo er sich unterscheidet, und fordert ein, dass diejenigen, die die Demokratie attackieren, zurückkehren auf das Spielfeld einer demokratischen Auseinandersetzung. Das ist auch meine Haltung. Ich fordere die Menschen auf, Unmut und Unsicherheit nicht zu verstecken, aber nicht denen hinterherzulaufen, die unsere Demokratie als Ganzes angreifen.
Wir können bei uns in der Region oft beobachten, dass es diese Berührungsängste nicht gibt. Auf zahlreichen Demos laufen die Menschen Seite an Seite mit Rechtsextremen. Wir merken aber auch, dass die Teilnehmer seit ein paar Wochen weniger werden. Der Heiße Herbst, den viele befürchtet, manche auch herbeigesehnt haben, ist eher lau gewesen. Wie bewerten Sie diese Proteste?
Die Demonstrationen sind eher kleiner als größer geworden. Das kann damit zu tun haben, dass auch diejenigen, die demonstrieren, feststellen, wie wenig sie gemein haben mit anderen Gruppierungen, die auf denselben Demonstrationen vertreten sind. Es gibt aber auch einen anderen Grund, den wir nicht unterschätzen sollten: Bei allen Unsicherheiten, die es nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und den damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen für unser Land gibt, erkennt die Bevölkerung an, dass Bundes- und Landesregierungen sich bemühen, die Härten dieser Krise abzufedern.
Sie haben in einem Interview kürzlich davon gesprochen, dass "Haarrisse in der Gesellschaft" nicht zu einer Spaltung führen dürfen. Die Pandemie, der Ukraine-Krieg, der Klimawandel – das sind alles Themen, die zu Auseinandersetzungen führen. Sind das noch Haarrisse, oder haben wir in unserer Gesellschaft doch schon Gräben?
Ich bestreite, dass wir eine gespaltene Gesellschaft sind. Worüber wir uns aber klar werden müssen, ist, dass wir stärken müssen, was uns verbindet. Wenn wir einen Schritt zurücktreten von den Auseinandersetzungen im Alltag, zwischen Ost und West oder Nord und Süd, erkennen wir ja, dass uns viel mehr verbindet als uns trennt. Ich trage dazu bei, dass uns das Verbindende in der Gesellschaft wieder bewusst wird. Wir sind in unserer Demokratie aufeinander angewiesen. Demokratie erschöpft sich nicht im Wahlakt alle vier Jahre. Demokratie verlangt ständiges Engagement. Ich habe hier in Freiberg viele Menschen getroffen, die sich um mehr kümmern als nur um sich selbst. Ehrenamtler haben erzählt, wie sie ukrainischen Flüchtlingen helfen. Alle, die viel Zeit aufwenden, sich um die zu kümmern, die vor Not, Elend und Krieg geflüchtet sind, verdienen unsere größte Hochachtung.
Sie haben in Ihrer Rede zur "Lage der Nation" auch davon gesprochen, dass es Menschen gibt, die die aktuelle Krise weniger hart trifft, weil sie wohlhabender sind. Wie können denn die, die mehr haben, auch mehr zur Verantwortung gezogen werden?
Wir haben eklatante Unterschiede in Deutschland. Nicht wenige Menschen können nicht mehr verzichten, weil ihr ganzes Leben Verzicht bedeutet. Ihnen vor allem müssen wir helfen. Unterschiede gibt es auch noch immer zwischen Ost und West. Das stelle ich bei den Ortszeiten immer wieder fest. In Altenburg, Quedlinburg, Neustrelitz und auch in Freiberg. Die Erfahrung, dass man nach der Vereinigung das Leben neu aufbauen musste, ist sehr präsent. Vielen ist das gelungen. Dennoch sind die Einkommen im Osten heute noch geringer, Ersparnisse nicht in derselben Größenordnung vorhanden wie im Westen. Deshalb kommt es darauf an, dass die Bundespolitik den Menschen im Osten versichert, dass sie nicht hinten herunterfallen, jetzt in der schweren Energiekrise. Und für ganz Deutschland gilt, dass die Bundesregierung es darauf anlegen muss, dass gerade den Schwächsten über diese Krise hinweggeholfen wird.
Insbesondere im Osten Deutschlands sinkt die Bereitschaft, für die Unterstützung der Ukraine eigene Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Was sagen Sie diesen Menschen?
Viele in Deutschland fühlen eine Nähe zu Russland, zur russischen Kultur, zu den Menschen in Russland. Und im Osten kommen sehr unterschiedliche, auch kontroverse Erinnerungen an die Jahre der Präsenz der Roten Armee in der DDR hinzu. Man hatte Russischunterricht in der Schule, ist mit dem Jugend-Reisebüro in die Sowjetunion gefahren. Die harte Realität ist nur: Das Russland, an das wir uns erinnern, gibt es nicht mehr. Das heutige Russland betreibt Landraub gegenüber der Ukraine, einem souveränen Nachbarstaat. Es bombardiert Städte, zerstört Infrastruktur, verursacht millionenfaches Leid. Dieses Russland stellt sich gegen alle Prinzipien, für die wir stehen, gegen die Anerkennung von Grenzen, die Anerkennung des Völkerrechts und gegen die Souveränität unserer Nachbarstaaten. Alles das wird durch den brutalen Angriffskrieg in Frage gestellt. Ich verstehe, dass es die guten Erinnerungen gibt, aber die dürfen nicht dazu führen, dass wir die harte Realität ignorieren. Ich verstehe auch die Hoffnung auf Frieden. Die müssen wir auch nicht aufgeben. Es führt nur kein einfacher Weg dahin, und wir dürfen uns den Weg auch nicht einfach reden, insbesondere nicht über die existenziellen Bedürfnisse der Ukraine hinweg.
Wie könnte dieser Weg zum Frieden aussehen?
Ich wünschte, ich könnte Ihnen diese Antwort geben. Aber bis heute ist nicht erkennbar, dass Russland bereit ist, den Weg auch nur für Gespräche zu ebnen. Diesen Weg wird es nur geben, wenn Russland bereit ist, wenn Putin bereit ist, seine Armee zurückzurufen aus der Ukraine.
Sie haben die Deutschen auf Gegenwind eingeschworen, auf harte Jahre, die jetzt vor ihnen stehen. Die Ostdeutschen haben die Erfahrungen eines massiven gesellschaftlichen Umbruchs schon einmal gemacht und mussten ein hohes Maß an Widerstandskraft beweisen. Ist es an der Zeit, von dieser Lebenserfahrung der Ostdeutschen zu lernen?
Ich bin skeptisch, wenn so leichtfertig gesagt wird: Die Ostdeutschen haben eine Transformationserfahrung hinter sich, deshalb sind sie besonders gut gerüstet für die Veränderungen, die anstehen. Vergessen wir nicht: Die Menschen haben sich ihre neue Lebensgrundlage hart erarbeitet. Und jetzt scheint sie wieder in Gefahr zu geraten. Ich verstehe, wenn sie sehr große Sorgen haben, dass das mühsam Aufgebaute plötzlich wieder weg sein könnte. Eine Transformationserfahrung garantiert nicht, dass man mit der nächsten Anstrengung leichter umgehen kann. Niemand gibt gern Sicherheit auf, da gibt es keinen wirklichen Unterschied zwischen Ost und West. Gleichwohl stehen wir jetzt vor der Herausforderung, die Folgen des Krieges Russlands gegen die Ukraine zu bewältigen und den Kampf gegen den Klimawandel auf der politischen Tagesordnung nicht nach unten rutschen zu lassen. Das ist eine besondere Herausforderung für einen demokratischen Staat. Aber ich bin mir sicher: Wenn jemand dafür gerüstet ist, dann ist es unser Land.
Was macht Sie da so sicher?
Wenn ich allein hier auf diese Region schaue, so ist Freiberg ein gutes Beispiel, dass man sich der eigenen Traditionen bewusst sein und sich gleichzeitig auf die Zukunft ausrichten kann. Jahrhundertelang dominierte der Silbererzabbau, dann kam die Halbleitertechnik. Heute tragen große internationale Unternehmen im Bereich der Halbleiterindustrie zu wirtschaftlichem Wohlstand bei. Wir haben unsere Veränderungsfähigkeit in Deutschland immer wieder unter Beweis gestellt und waren in der Lage, mit Krisen umzugehen. Das macht mich zuversichtlich, dass wir das auch diesmal hinbekommen.
Die Fragen stellten: Anne Lena Mösken und Udo Lindner