Interview mit dem MDR-Fernsehen

Schwerpunktthema: Interview

7. Dezember 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem MDR während seiner "Ortszeit Freiberg" ein Interview gegeben, das am 7. Dezember gesendet wurde: "Ich glaube, wir dürfen nicht annehmen, dass die Wehrhaftigkeit der Demokratie sich in der Anwendung von Strafrechtsvorschriften erschöpft. Sondern die Wehrhaftigkeit der Demokratie beweist sich auch daran, dass diejenigen, die anderer Meinung sind, die ein liberales, demokratisches, ein offenes Deutschland wollen, sich lauter äußern, als das gelegentlich der Fall ist."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Interview mit MDR-Chefredakteurin Julia Krittian während der 'Ortszeit Freiberg'

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Mitteldeutschen Rundfunk während seiner Ortszeit Freiberg ein Interview gegeben, das am 7. Dezember in der Sendung MDR extra gesendet wurde.


Herzlich willkommen, Herr Steinmeier.

Frau Krittian, guten Tag!

Sie sind auf Ortszeit, das heißt, Sie haben Ihren Amtssitz hier nach Freiberg verlegt und Unterschriftenmappen dabei, eine Standarte vor dem Hotel, und – vielleicht am ungewöhnlichsten für die Politik – Sie haben Zeit mitgebracht. Drei Tage sind Sie hier. Was hat Sie neugierig gemacht auf die Stadt?

Zum einen komme ich gern und oft nach Sachsen, bin wirklich schon viel unterwegs gewesen im Land, aber in der Tat zum ersten Mal in Freiberg. Und ich bin ganz begeistert, schon über den Empfang auf der Rathaustreppe durch das Spalier der Berg- und Hüttenknappschaft. Man spürt hier, wenn man durch die Straßen geht und gestern Abend auf dem Weihnachtsmarkt, wie stolz die Menschen auf diese 800 Jahre Geschichte ihrer Stadt sind. Und auf die Bergbautradition, auf die älteste montanwissenschaftliche Universität dieser Stadt. Der Oberbürgermeister hat mir erzählt, dass Bund und Land eine Milliarde Euro hier in die Stadt investiert haben. Ich kann nach dem ersten Tag nur sagen: Jeder Euro ist hier in Freiberg wirklich gut investiert.

Jetzt haben Sie schon einige Wahrzeichen genannt, Sie machen aber hier ja nicht nur Wohlfühltermine, sondern wollen auch explizit in kontroverse Gespräche. Und wie das ankommt, das haben wir mal zusammengefasst.

[Einspieler]

Herr Steinmeier, da ist wenig Scheu. Die Menschen kommen zu Ihnen mit Sorgen, mit Hoffnungen, mit Wünschen, manchmal auch mit Wut. Was haben die Freibergerinnen und Freiberger davon? Wie verschaffen Sie den Menschen Gehör?

Sehen Sie, diese Skepsis hatte ich bei der ersten Ortszeit in Thüringen, in Altenburg, auch. Werden die Menschen die Schwelle überspringen? Werden sie, wenn sie ein bekanntes Gesicht aus dem Fernsehen sehen – wenn sie dem begegnen, wenn sie den Bundespräsidenten treffen, werden sie auf ihn zugehen und ihre Sorgen, Wünsche, vielleicht auch ihre Begeisterung über dieses oder jenes zutage bringen? Hier in Freiberg ist es ähnlich wie an den anderen Orten, die ich erlebt habe: Normalerweise gelingt es relativ schnell, das Eis zu brechen und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.

Und was machen Sie dann damit, mit diesen Sorgen, die Sie mitnehmen?

Es gibt zwei unterschiedliche Aspekte. Zum einen habe ich dieses Format ja deshalb erfunden, weil ich schon finde, wir in Berlin müssen schon auch raus aus der Hauptstadt. Wir müssen wissen, ob die politischen Gespräche, die in Berlin geführt werden, genau dem entsprechen, was in der Region tatsächlich gedacht wird. Deshalb die Idee, hin und wieder mit drei Tagen Zeit rauszugehen in eine kleinere und mittlere Stadt, um genau zuzuhören. Aber auch, um Aufmerksamkeit auf eine Region zu lenken. Und wenn Sie vorhin gefragt haben, warum Freiberg, dann gebe ich offen zu: natürlich auch, weil Freiberg mir in den letzten zwei Jahren als eine Stadt mit starken Protesten auf der Straße gegen Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona in die Medien gekommen ist – laustarker Proteste. Und ich bin einfach neugierig, ob dieses Bild, was ich selbst auch aus den Medien erfahre, ob dieses Bild der Realität, der Lebenswirklichkeit der Menschen entspricht. Ich kann nur jetzt nach einem Tag sagen: Das Bild, das ich hier vor Ort bekomme, ist wesentlich vielfältiger. Ohne etwas schönzureden, aber es ist wesentlich vielfältiger. Ein bisschen was von dem habe ich vorhin angemerkt. Aber die Menschen kommen auf einen zu, berichten mir von Notständen im Pflegebereich bis hin zu privaten Problemen und wollen reden, natürlich, das wundert niemanden, über Krieg und Frieden in Europa.

Freiberg ist Ihre fünfte Station. Sie haben angefangen in Altenburg in Thüringen. Dann kam Quedlinburg in Sachsen-Anhalt, Rottweil in Baden-Württemberg, Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern und jetzt Sachsen. Wer mitgezählt hat, der weiß: Vier von fünf Ortszeiten waren bisher im Osten Deutschlands. Ist das ein bewusstes Zeichen, was Sie setzen?

Es ist ein gesamtdeutsches Format, diese Ortszeit. Wir waren beim vorletzten Mal in Rottweil in Baden-Württemberg. Und wir werden auch das nächste Mal wieder eine Kleinstadt in Westdeutschland aussuchen. Aber richtig ist schon: Es gibt einen Schwerpunkt in den ostdeutschen Bundesländern. Und der Blick, den ich in all den vier Kommunen, in all den vier Städten gewonnen habe, ist ein ganz unterschiedlicher. Es gibt Dinge, die sich ähnlich sind, aber natürlich sind Altenburg, Quedlinburg, Neustrelitz und Freiberg ganz unterschiedlich geprägt von Geschichte, von Wirtschaft. In Altenburg hat mich begeistert: eine ganz aktive Kulturszene, die in der Stadt für Veränderungen sorgte. In Quedlinburg erinnere ich mich, wie ein Hersteller von Eisenwalzen, Stahlwalzen mit der Energiesituation kämpft und sich vorbereitet, mit einer alternativen Energieversorgung das Werk aufrechtzuerhalten. In Neustrelitz habe ich gesehen, wie sich die Stadt vorbereitet auf eine Energieversorgung, die zukünftig autonom durch die Stadt selbst hergestellt wird. Hier in Freiberg, neben vielem, das wir jetzt schon erwähnt haben, bin ich begeistert davon, mit welcher Selbstverständlichkeit die Menschen sich hier um knapp siebenhundert geflüchtete Menschen aus der Ukraine kümmern. Und Kümmern heißt ja nicht nur, ihnen ein freundliches Willkommen zu sagen, sondern viele haben ihre Türen geöffnet. Aber die meisten von denen haben inzwischen eigene Wohnungen, die Kinder gehen zur Schule und Kita – das ist eigentlich ein wunderbares, ein vorzeigbares Beispiel.

Herr Steinmeier, Sie sind hier um zuzuhören, und wir im MDR tun das auch, unter anderem mit unserem Meinungsbarometer MDR fragt. Diesmal haben knapp 27.000 Menschen an einer Online-Befragung teilgenommen. Das ist nicht repräsentativ, aber statistisch gewichtet und wissenschaftlich begleitet. Wir wollten wissen: Wie steht es um Deutschland? Und, das wird Sie wenig erstaunen, das Ergebnis ist natürlich komplex: 56 Prozent der Befragten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sagen, mir persönlich geht es gut bis sehr gut. Weniger gut wird der Zustand der Demokratie bewertet: Da sagen nur noch 29 Prozent, dass sie mit dem Funktionieren unserer Demokratie zufrieden sind, 69 Prozent sind es nicht. 69 Prozent – erschreckt Sie diese Zahl?

Diese Umfragen können wir nicht ignorieren, die können wir nicht beiseitelegen und sagen: Die Realität ist eine ganz andere. Es gibt nur konkurrierende Umfragen. Deshalb will ich nicht schönreden, nur sagen, dass aus einer anderen Studie, die auch gerade erschienen ist, sich ergibt, dass 91 Prozent der deutschen Bevölkerung, jetzt sage ich mal, im Prinzip mit der Demokratie einverstanden sind. Also die Demokratie für die richtige politische Verfassung unseres Landes halten. Was mir auffällt in all diesen Umfragen ist: Je näher man herankommt an die politischen Entscheidungen der Gegenwart, oder je näher man eigentlich eher die politische Stimmung im Lande abfragt, umso kritischer wird es. Und da kann natürlich nicht überraschen, dass in einer Situation, in der die Menschen über Energieknappheit am Abendbrottisch reden miteinander, über steigende Preise, über Krieg in Europa, da kann es natürlich nicht erstaunen, dass sich das in der Stimmung, die Sie abfragen, niederschlägt. Wir dürfen es nicht ignorieren, sondern wir müssen immer wieder sagen, wenn die Demokratie befürwortet wird, sie ist sozusagen keine Garantie, die für ewig hält, sondern sie lebt davon, dass Menschen sich engagieren. Natürlich in Wahlen zunächst; aber auch regelmäßige Wahlen, darin erschöpft sich noch nicht Demokratie. Wir brauchen Engagement für die Demokratie. Darin schließe ich auch ein, dass man sich kritisch gegenüber politischen Entscheidungen verhält, wenn notwendig, auch auf die Straße geht – aber dass engagierte Bürgerinnen und Bürger sehr genau unterscheiden, wer an ihrer Seite geht auf den Straßen, und sehr genau wissen, was politische Kritik an politischen Entscheidungen ist und wo andere möglicherweise die Demokratie als das System bekämpfen. Da fordere ich auch Bürgerinnen und Bürger auf, sehr genau hinzuschauen, mit wem sie protestieren, um nicht möglicherweise auch vereinnahmt zu werden von Menschen und Gruppierungen, mit denen sie eigentlich nichts zu tun haben wollen.

Sie haben diese Stimmung ziemlich genau auf dem Schirm und zuletzt eindringlich gefordert: Wir müssen es dieses Mal besser machen im Angesicht einer Krise, die den Ostern erneut stärker trifft und damit natürlich niedrigere Löhne, niedrigere Renten, niedrigere Rücklagen angesprochen. Das sind ja sehr wichtige Äußerungen für die Menschen, aber was heißt das konkret: Was müssen wir und was können wir diesmal besser machen?

Wissen Sie, ich bin in Westdeutschland geboren und habe bis zum zwanzigsten Lebensjahr in Westfalen gelebt, war dann 14 Jahre in Hessen, dann 10 Jahre in Niedersachsen, und war dann über mehrere Legislaturperioden Abgeordneter von Brandenburg, habe deshalb das, was in Ostdeutschland möglicherweise etwas anders ist, bei vielen Ähnlichkeiten, die es natürlich nach dreißig Jahren Wiedervereinigung gibt, was möglicherweise anders ist, ziemlich genau kennengelernt. Die Tatsache, dass man auf ein Leben zurückschaut, in dem sich schon mal Grundsätzliches verändert hat, in dem man auch Sicherheiten verloren hat, das prägt heute die Generationen immer noch. Wenn man die Befürchtung hat, in einer Situation von Unsicherheiten kommen erneut große Herausforderungen, vielleicht Veränderungen auf mich zu, dann treffen wir auf eine Bevölkerung, in der – eben anders als in Westdeutschland – die Einkommen geringer sind, die Energieversorgung anders und die Ersparnisse geringer sind. Deshalb verstehe ich, dass die Verunsicherung in Ostdeutschland, an vielen Stellen jedenfalls, größer anzutreffen ist, als ich das bei Besuchen in Westdeutschland erlebe. Deshalb meine Mahnung, dass wir die Menschen in Ostdeutschland nicht hinten runterfallen lassen dürfen. Ein Beispiel ist Schwedt, eine Raffinerie, die ausschließlich von russischer Erdölzufuhr abhängig ist. Dort dafür zu sorgen, dass auch eine solche Raffinerie, wenn wir uns unabhängig machen von russischen Gas und russischem Öl, dass eine solche Raffinerie betriebsfähig bleibt, ausgelastet bleibt, das muss auch der Politik in Berlin klar sein. Und ich bin froh darüber, dass das erstens erkannt ist und dass man sich bemüht, den Fortbetrieb, den Weiterbetrieb dieser Raffinerie sicherzustellen.

Heute erschreckt ja eine weitere Meldung: Bis zu 3.000 Ermittler untersuchen und durchsuchen seit den frühen Morgenstunden Wohnungen in Frankfurt, in Berlin und unter anderem in Bad Lobenstein in Thüringen. Der Vorwurf: Bildung einer terroristischen Vereinigung. Die Gruppe wollte wohl unter anderem das Reichstagsgebäude stürmen, durch Angriffe auf die Stromversorgung bürgerkriegsähnliche Zustände herbeiführen, die Bundesregierung ablösen und selbst an die Macht. Ist das eine neue Dimension von Angriffen, ja vielleicht sogar muss man sagen, von Hass auf Demokratie?

Wir haben hasserfüllte Demonstrationen auf den Straßen erlebt. Wir erleben jeden Tag Hass und Hetze im Netz. Das besorgt mich zutiefst, weil wir die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren eigentlich täglich weiter verschieben. Das besorgt mich zutiefst. Das verändert auch Kommunikation, das Gespräch innerhalb einer Demokratie. Das, was jetzt den Ermittlungsbehörden möglicherweise vorliegt, das ich im Detail noch nicht kenne, allerdings ist ein neues Niveau. Wir sind eine liberale Demokratie. Demokratie und Meinungsfreiheit ist in unserem Lande garantiert. Aber diese liberale Demokratie muss auch eine wehrhafte sein. Und wenn die Ermittlungsbehörden hier Anlass haben, anzunehmen, dass jenseits dessen, was wir bisher kennen, möglicherweise terroristische, kriminelle Straftaten in Vorbereitung sind, dann muss auch gehandelt werden. Dann muss auch das Strafrecht Grenzen setzen. Und ich bin sehr froh darüber, dass Polizei und Staatsanwaltschaft diese Verantwortung nicht nur erkennen, sondern entsprechend handeln.

Das ist eine sicherlich extrem radikalisierte Minderheit. Da waren ja auch, hört man, unter den Beschuldigten Ex-Soldaten aus der Bundeswehr und NVA. Ist die Demokratie denn wehrhaft genug? Sie haben es selber angesprochen, wir seien wehrhaft – aber gerade mit Blick auf solche Gruppierungen?

Ich glaube, wir dürfen nicht annehmen, dass die Wehrhaftigkeit der Demokratie sich in der Anwendung von Strafrechtsvorschriften erschöpft. Sondern die Wehrhaftigkeit der Demokratie beweist sich auch daran, dass diejenigen, die anderer Meinung sind, die ein liberales, demokratisches, ein offenes Deutschland wollen, sich lauter äußern, als das gelegentlich der Fall ist. Und das sage ich insbesondere mit Blick auf die Gesprächskultur in den sozialen Medien. Ich wünschte mir manchmal, dass auch Teilnehmer in den sozialen Medien hier Grenzen setzen und sagen: Das ist etwas, das so unerträglich ist, das will ich nicht lesen, geschweige denn klicken und auf diese Weise mit noch mehr Prominenz versorgen. Ich glaube, wir müssen uns einfach bewusst werden, dass das Wehrhafte in der Demokratie nicht allein und nur sichergestellt werden kann durch Vereinsverbote, Parteiverbote, durch Anwendung des Strafrechts, durch Polizeiermittlungsbehörden und Gerichte. Sondern dass dazu eben auch eine engagierte Bürgergesellschaft gehört. Und da wünschte ich mir manchmal noch mehr Sichtbarkeit, als wir das gelegentlich sehen.

Aber ist es nicht auch so, dass Gespräche mehr und mehr verstummen? Also, in unserer MDR-Fragecommunity sagen 78 Prozent, dass man heutzutage aufpassen muss, zu welchem Thema man sich wie äußert. Und da haben viele Menschen eben das Gefühl, dass immer mehr Themen dann zumindest mit verbalen Verletzungen enden. Ob es nun beim Thema Impfen ist oder beim Ukraine-Krieg oder, besonders umstritten, das Thema Gendern. Tun wir uns da auch ein Stück weit zunehmend schwer, andere Meinungen auszuhalten?

Also, wenn wir über Cancel Culture reden, da können wir gern sagen, ob manches möglicherweise übertrieben ist oder zu angestrengt ist. Aber wenn wir über die Gesprächskultur in unserer Gesellschaft reden: Ich habe ja nicht umsonst gesagt, dass Demokratie und Versammlungsfreiheit in diesem Lande gewährleistet sind. Aber sie sind ja nicht nur rechtlich gewährleistet. Sie werden jeden Tag und nicht nur von Journalistinnen und Journalisten, sondern von vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dieser Demokratie in Anspruch genommen. Demonstrationen finden jeden Tag statt, in Berlin am Wochenende manchmal pro Tag fünf und sechs gleichzeitig. Ich kann dieses gelegentlich abgefragte Gefühl, dass man nichts mehr sagen kann, wirklich nicht nachvollziehen. Es wird sehr viel gesagt. Und umgekehrt könnte man eher fragen, ob nicht gerade in den sozialen Medien nicht deutlicher auch Grenzen gesetzt werden müssen, mindestens Grenzen gesetzt werden müssen durch Teilnehmer, die sich einer hasserfüllten Kommunikation und Hetze widersetzen.

Ein Thema, was Sie auf den Ortszeiten bisher fast immer begleitet hat, war der Angriffskrieg auf die Ukraine. Sie sprachen schon davon. Sie selbst haben in Bezug auf Russland zuletzt von einem endgültigen, bitteren Scheitern jahrelanger politischer Bemühungen gesprochen, auch Ihrer eigenen, und Sie haben betont, das Vertrauen in uns selbst habe Schaden genommen. Das klingt für mich extrem selbstkritisch. Welche Fehler werfen Sie sich persönlich vor?

Es hat gar nichts mit persönlichen Vorwürfen zu tun, sondern ich plädiere dafür, dass wir Veränderungen zur Kenntnis nehmen. Das Russland, mit dem sich viele in Deutschland so verbunden fühlen, das Russland, von dem Gorbatschow gesagt hat, es müsse Teil einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur sein, dieses Russland gibt es spätestens seit dem 24. Februar dieses Jahres nicht mehr. Das hat ja nichts damit zu tun, dass wir nicht weiterhin auch russische Literatur lesen, dass wir nicht begeistert sein dürfen über russisches Ballett; und es kommt ja hier in Ostdeutschland noch hinzu, dass wir auch eine über vierzig Jahre gewachsene, sehr kontroverse Erinnerung an Russland haben. Es gibt diejenigen, die als Schüler oder Studierende mit dem Reisebüro in der damaligen Sowjetunion gewesen sind, es gibt gute und schlechte Erfahrungen in der Nachbarschaft zur russischen Armee, die hier in Ostdeutschland stationiert war; das mag alles sein, aber das, was wir jetzt vor uns haben seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit all seinen Brutalitäten, die ich mir erst vor wenigen Wochen in der Ukraine ansehen musste und furchtbare Geschichten über Opfer gehört habe, die ich hier jetzt gar nicht ausbreiten will, diese brutale Realität ist eben eine andere als die unterschiedliche Erinnerung, die es in Ost- und Westdeutschland an eine Vergangenheit anderer, besserer Beziehungen zu Russland gab.

Jetzt wird dieser Krieg ja sehr wahrscheinlich noch eine Weile andauern. Muss Politik den Menschen auch noch klarer sagen, dass das auch unser Leben hier in Deutschland, in Freiberg und anderen Kommunen weiter verändern wird?

Ich habe die Rede, die ich am 28. Oktober gehalten habe – wenn Sie so wollen eine Rede zur Lage der Nation – bewusst dazu benutzt, um diese Wahrheit, diese Klarheit auszusprechen. Ich glaube, dass das notwendig ist, weil ja die meisten in unserem Land verstehen, dass wir diesen Krieg Russlands gegen die Ukraine mit allen seinen Folgen nicht einfach ignorieren können. Und die allermeisten wissen ja auch und befürworten ja auch, dass wir der Ukraine zur Seite stehen in diesem verzweifelten Kampf, das eigene Land, die Souveränität und die Menschen des Landes zu schützen. Und die meisten ahnen ja auch, dass das Folgen haben wird auch für unser Land. Ich brauche die Veränderung, die wir in der Energiezulieferung von Russland haben, zu Veränderungen und veränderten Preisen in der Energieversorgung bei uns führt, das alles ahnen die Menschen auch. Aber vielleicht ist es notwendig und richtig, und vielleicht war es deshalb auch notwendig, das einmal in einer Rede genau so zu sagen und die Menschen darauf vorzubereiten, dass wir Jahre, wie ich gesagt habe, mit Rückenwind hinter uns haben, das waren dreißig gute Jahre, die wir jetzt gar nicht schlechtreden müssen, aber dass die Jahre, die wir vor uns haben, der Gegenwind etwas stärker spürbar wird.

Zum Abschluss würde ich mit Ihnen gern über ein einziges Wort reden. Es stammt aus Ihrer allerersten Rede als frisch gewählter Bundespräsident, ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern – es ist das kurze, aber sehr, sehr mächtige Wort Mut. Wenn Sie auf die drei Ortszeiten in Mitteldeutschland schauen, was hat aus Ihrer Sicht Mut gemacht, und zwar Ihnen persönlich und den Menschen, denen Sie begegnet sind?

Ganz viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe – aber da ich hier in Freiberg bin, muss ich Ihnen sagen, was mir wirklich Mut macht, ist, hier in Freiberg zu sehen, wie sich hier aus einer alten Bergbautradition neue, zukunftsgerichtete Industrie entwickelt hat; Halbleiterindustrie, die weltweit gefragt, weltweit gesucht wird, die hier jetzt auf hohem Niveau vorhanden ist; und wenn ich hier von Freiberg ein bisschen über die Grenzen Freibergs hinaus nach Ostdeutschland schaue, die Entwicklung der Elektromobilität in Sachsen, in Brandenburg; die Energiestandorte, die wir in den östlichen Bundesländern haben; das alles ist ein solches Fundament, dass ich wirklich ein gutes Gewissen habe, den Menschen gerade auch in Ostdeutschland Mut zuzusprechen, zu sagen: Es gibt genügend Gründe für Zuversicht, dass wir auch diese härteren Zeiten, auf die wir jetzt zulaufen, dass wir die überwinden werden und stark bleiben.

Schönes Schlusswort, denn wir sind am Ende unserer Sendung. Zum Schluss noch der Hinweis, dass wir dieses Interview aus Termingründen am Nachmittag aufgezeichnet haben und Sie es auf MDR nachschauen können. Ihnen, Herr Bundespräsident, danke für das Gespräch.

Die Fragen stellte: Julia Krittian