Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zum Auftakt der ARD-Themenwoche Wir gesucht – was hält uns zusammen?
ein Interview über den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland gegeben, das am 6. November im Bericht aus Berlin
gesendet wurde.
Herzlich willkommen zu einem besonderen Bericht aus Berlin
hier aus dem Schloss Bellevue mit einem ganz besonderen Gast: dem Bundespräsidenten. Wir freuen uns, dass wir zum Auftakt der ARD-Themenwoche Wir gesucht – was hält uns zusammen?
mit dem Mann sprechen können, dessen Aufgabe, aber auch dessen persönliches Herzensanliegen es ist, Brücken zu schlagen über gesellschaftliche Gräben. Dabei wollen wir keine Sonntagsreden, sondern möglichst konkrete Ideen, wie der erste Mann im Staat der Spaltung entgegenwirken will zwischen Stadt und Land, Jung und Alt oder Ost und West. Herzlich willkommen, Herr Bundespräsident.
Guten Abend, Frau Hassel.
Wir haben gefragt, Infratest dimap hat gefragt, wie die Menschen hierzulande den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewerten, eher positiv oder negativ. Bevor ich Ihnen verrate, wie es ausgegangen ist: Was glauben Sie denn?
Das hängt vom Maßstab ab. Wenn wir zurückdenken an das letzte Wochenende, da wurde in Brasilien gewählt, oder wir gucken ein paar Tage voraus, da wird in den USA gewählt – an dem Maßstab, würde ich sagen, haben wir keine in der Weise gravierende Spaltung in der deutschen Gesellschaft. Aber der Ton verändert sich in den Auseinandersetzungen ganz spürbar. Und die Sorgen werden größer mit Blick auf die Dreifach-Krise von Pandemie, Klima und Krieg in der Ukraine. Insofern müssen wir das sehr ernst nehmen und versuchen, mit unseren Möglichkeiten zu verhindern, dass aus den Haarrissen, die erkennbar sind, wirklich Spaltungen werden.
Sie haben recht, dass Sie da so etwas skeptisch reagiert haben, denn um die Zahlen aufzulösen: Nur 33 Prozent der Menschen hierzulande halten den Zusammenhalt für gut, aber 48 Prozent der Menschen in Deutschland halten ihn für eher schlecht und 16 Prozent sogar für sehr schlecht. Wie sehr besorgt Sie das?
Na, darin stecken ja eigentlich zwei Informationen, die beide wichtig sind. Erstens, wie wichtig den Menschen im Prinzip gesellschaftlicher Zusammenhalt ist. Und zweitens die Größenordnung der Aufgabe, vor der wir stehen, um diesen Zusammenhalt entweder zu bewahren oder, wenn die Zahlen die Realität wiedergeben, diesen Zusammenhalt wiederherzustellen. Die Größenordnung der Aufgabe wird in dieser Umfrage sichtbar ja.
Kommen wir zu den möglichen konkreten Lösungen. Sie selbst haben ja im Juni eine soziale Pflichtzeit ins Gespräch gebracht. Die muss nicht ein Jahr sein, haben Sie gesagt, aber eine gewisse Zeit, die man im Dienst der Allgemeinheit arbeiten soll. Sie haben durchaus Kritik dafür bekommen, vor allem von jungen Leuten. Jona Dörr zum Beispiel, eine Schülerin aus Berlin, hat Ihnen geschrieben, und die ist immer noch wütend. Hören wir mal rein:
[Einspieler Jona Dörr: Mein Kernanliegen ist, dass ich, wenn ich etwas Soziales tun möchte nach der Schule, nicht verpflichtet werden möchte. Ich möchte ein freiwilliges soziales Jahr machen. Ich möchte, dass wir nicht verpflichtet werden, weil wir schon in den letzten Jahren zurückstecken mussten, sei es in der Schule, in der Pandemie, im Klimawandel, dann jetzt der Krieg noch. Es kann einfach nicht sein, dass wir verpflichtet werden.
]
Was sagen Sie Jona Dörr? Die will nicht verpflichtet werden.
Erstens finde ich es toll, dass sie bereit ist, überhaupt ein soziales Jahr zu machen. Zweitens: Was die soziale Pflichtzeit angeht, war mir im Vornherein klar, dass das keine Idee ist, die von selbst fliegt. Wenn es so wäre, hätte ich den Vorschlag auch gar nicht machen müssen, sondern der Vorschlag war ja eher getrieben von der Sorge, dass wir Zusammenhalt wiederherstellen müssen, befestigen müssen…
Aber warum Pflicht?
Meine Überzeugung bleibt: Das wird schwierig, wenn wir nicht Gelegenheiten schaffen, in denen wir Zusammenhalt einüben. Nun leben wir in dieser Gesellschaft, die sich verändert hat in den letzten Jahrzehnten, häufig in unseren Lebenswelten, in unseren Milieus und viel nebeneinanderher. Die Kommunikation in den sozialen Netzen tut ihr Übriges dazu, dass man selten und seltener über den eigenen Tellerrand hinausschaut. Und deshalb brauchen wir Begegnungsmöglichkeiten, wo wir uns über die Lebenswelten, auch über die Generationen hinweg begegnen. Ich habe jetzt viele Gespräche mit Jugendlichen geführt. Die meisten, die kommen und kritisch sind, die sagen: Also, wir wollen das nicht als Pflicht, wir wollen es insbesondere nicht nach der Schule, und wir finden es unfair, dass die Jugendlichen damit belastet werden, und im Übrigen, ein Jahr sowieso nicht. Und ich sage: Ich habe es bewusst nicht nur für Jugendliche vorgeschlagen. Und ich habe auch nicht gesagt, ein Jahr, sondern jeder sollte einmal im Leben etwas tun für andere Menschen, die ihm fremd sind.
Also auch ältere Menschen?
So kann Zusammenhalt eingeübt werden auch für Ältere, ja.
Haben Sie da auch Rückmeldungen?
Es gibt jetzt neueste Umfragen von der Bertelsmann-Stiftung, die sagen zum Beispiel, dass 64 oder 65 Prozent der Idee einer sozialen Pflichtzeit gegenüber offen sind. Ich sage umgekehrt: Wenn es bessere Ideen gibt als die der Pflichtzeit, bin ich gern bereit, die zu diskutieren. Was ich nur nicht möchte, ist, dass auch diese Debatte wieder im Nichts endet. Sondern ich bleibe davon überzeugt: Wir brauchen neue Modelle, in denen wir Jung und Alt miteinander ins Gespräch bringen und die Überzeugung einüben, dass wir auch für andere da sein müssen. Dass das Ich in der Demokratie immer ein Wir ist.
Also, Pflichtzeit, da bleiben Sie bei, sind aber offen für andere Vorschläge. Gucken wir weiter, und zwar auch auf Sorgen und weitere Aspekte. Sie wollen ja, Herr Bundespräsident, ein Bundespräsident zum Anfassen sein und nicht nur mit der Berliner Blase sprechen, deshalb verlegen Sie Ihren Amtssitz ab und an ins Land. Zuletzt waren Sie in Neustrelitz in Mecklenburg. Und wie die Menschen, die Sie da treffen, so drauf sind, das können Sie ja gar nicht vorher wissen. Ein Bericht von Moritz Rödle.
[Film-Einspieler]
Sie haben eben geschmunzelt, Herr Bundespräsident, als wir gesehen hatten die Dame in Neustrelitz, die Sie nicht überzeugen konnten. Aber ernst gemeint, wenn Sie bei diesen Gesprächen hören: na, die da oben, die haben ja keine Ahnung oder die sind weit weg – wie dringen Sie dann durch?
Ich habe in der ersten Amtsperiode einige Reisen unter dem Gesichtspunkt oder Titel gemacht Land in Sicht
. Weil mir schon klar war: Viele der Hauptstadtdebatten, die wir hier führen – gar nicht nur in der Politik, sondern auch zwischen Medien und Politik –, kommen in breiten Teilen des Landes gar nicht an. Und wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, die Mehrheit der Menschen in Deutschland wohnt immer noch im ländlichen Raum. Ich habe das dann in dieser Amtsperiode ausgeweitet und habe gesagt: Ich gehe nicht nur dort hin, um mal diesen oder jenen Betrieb zu besichtigen oder eine Rede zu halten, sondern verlege jetzt in unregelmäßigen Abständen für drei Tage meinen Amtssitz in die Region. Wir haben angefangen in Altenburg in Thüringen. Wir waren in Quedlinburg in Sachsen-Anhalt, in Rottweil in Baden-Württemberg, zuletzt in Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern. Das ist schon interessant, auch für mich, gebe ich zu. Hoffentlich auch für die Menschen vor Ort, weil wir ja eines versuchen: Wissend darum, dass wir nicht alle einer Meinung sind, holen wir Menschen ganz unterschiedlicher Meinung an den Tisch. Und versuchen, in ein Gespräch zu kommen, bei dem ich nur die Bitte habe, dass wir in Respekt voreinander unsere unterschiedlichen Positionen austauschen. Und anders, als wir eben im Bild auf der Straße gesehen haben: Wenn man das drei Stunden lang miteinander probiert, dann geht es häufig. Nicht immer so, dass wir uns einig werden, das will ich auch gar nicht …
… aber im Gespräch.
Die Demokratie braucht die Kontroverse, aber die kann in der Demokratie nur funktionieren, wenn wir das in Wahrnehmung unterschiedlicher Interessen und Respekt voreinander ausüben.
Herr Bundespräsident, wir haben es auch gerade gesehen: Auf der Rückreise aus Neustrelitz ist dieses Bild entstanden, was ja zu großer Empörung gesorgt hat: Sie ohne Maske im Zug. Die Wirkung war ja, die Regeln gelten nicht für alle. Was sagen Sie denn da?
Das war eine Erregung, die vor allem im Netz stattgefunden hat. Ich glaube, wir haben ja von hier aus erklärt: Das war eine Reise erstens mit dem Zug, bei der ich zweitens die Maske aufgehabt habe und dann, drittens, für eine kurze Aufnahme auch mit Blick auf die Medien, weil wir ankündigen wollten, was auf dieser Reise stattfindet in Neustrelitz, kurz die Maske abgenommen habe. Das Ganze hat nicht mehr als 40 Sekunden gedauert. Aber ich muss zur Kenntnis nehmen, dass das missverstanden worden ist. Das darf nicht vorkommen.
Wir gesucht
lautet das Thema, das wir ja hier besprechen, und das ist oft gar nicht so einfach, wenn es konkret wird und den eigenen Nahbereich betrifft. Moritz Rödle zeigt am Beispiel von Steinalben in der Pfalz, wo über eine Solaranlage gestritten wird, wie unterschiedliche Interessen – alle für sich berechtigt – das große Wir dann aber schnell in viele kleine Wirs zerbröseln lassen.
[Film-Einspieler]
Herr Bundespräsident, das ist ein Beispiel. Viele andere gibt es, wo die Menschen ja noch gutwillig sind, miteinander reden, auch berechtigte Interessen haben, aber die ergeben eben keine gemeinsame Schnittmenge mehr. Was macht man dann?
Ja, aber das ist ja erstens Realität. Übrigens bin ich auf diesen Konflikt zwischen regenativen Energien und Landschaftsschutz oder landwirtschaftlicher Nutzung ein paarmal getroffen jetzt während meiner Ortszeiten. Aber zweitens sind diese Konflikte ja auch nicht allein repräsentativ für den Zustand unserer Gesellschaft. Wenn wir jetzt ein bisschen zurückdenken mit Blick auf die Aufnahme der etwa eine Million ukrainischer Flüchtlinge hier in unserem Land, ist es doch erstaunlich, in welch kurzer Zeit so viel Solidarität und auch Beharrlichkeit bei der Unterstützung der Menschen, der Flüchtlinge entsteht; dass Hauseigentümer ihre Türen öffnen und ukrainische Flüchtlinge oder Familien, meistens Frauen mit Kindern, aufnehmen und dort wohnen lassen. Das ist höchst erstaunlich. Ich bin ein paarmal an der Ahr gewesen und habe mit vielen Helfern gesprochen. Natürlich mit denjenigen, die den bekannten Organisationen angehören, sei es DLRG und Feuerwehr und THW, die mit ganzen Zügen dort ankommen. Ich bin zweimal in dem Helfer-Camp gewesen, wo Tausende von Leuten jedes Wochenende oder jedes zweite Wochenende kommen und wirklich uneigennützige Hilfe leisten. Ja, wir haben solche Konflikte – wenn sie so ausgetragen werden wie dort vor Ort, ist mir gar nicht bange. Da ist der Respekt voreinander gewahrt. Wir haben unendlich viele Beispiele, in denen Zusammenhalt in dieser Gesellschaft ja durchaus nachprüfbar und nachweisbar ist.
Ganz kurz noch zu Steinalben und dem Konflikt. Die Bürger da wünschen sich inzwischen ein Machtwort von der Politik. Sie als Bundespräsident sind ja kein Präsident, also, keiner, der ein Machtwort sprechen kann. Würden Sie sich das manchmal wünschen?
Nein, was meine Rolle ist in diesen Gesprächen, den vielen tausenden, die ich führe: dafür zu werben, dass wir am Ende auch Entscheidungen in der Politik dort auf der örtlichen Ebene, auf der Ebene der Gemeinde, dass wir solche Entscheidungen, wenn sie getroffen werden, auch akzeptieren. Und ich glaube, da verändert sich etwas. Ich will sagen, ich habe mehrere Runden mit jungen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern hier gehabt, die mir berichtet haben: Wissen Sie, wenn wir im Gemeinderat eine Bausatzung verabschieden, da hat es immer Ärger gegeben. Es gab immer einige, die einen Vorteil davon hatten, andere, die einen Nachteil davon hatten. Was neu ist – und das ist jetzt wichtig unter dem Gesichtspunkt Zusammenhalt: dass mir von Bürgern, die unzufrieden waren, ein Galgen in den Vorgarten gestellt wird. Das ist neu, und das dürfen wir nicht zulassen. Deshalb habe ich zum Beispiel mit den kommunalen Spitzenverbänden eine Plattform gegründet, Stark im Amt
, wo wir sagen wollen: Wir brauchen die Leute, die Verantwortung übernehmen vor Ort, und wir müssen, wenn Entscheidungen mit Mehrheit getroffen sind, die auch respektieren.
Herr Bundespräsident, wir kommen jetzt zu Sorgen, die die Menschen haben, die wir abgefragt haben. 54 Prozent der Menschen hierzulande haben Sorge, ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können. Jetzt hatten Sie kürzlich eine große Rede gehalten, da haben Sie gesagt: Der Staat lässt Sie nicht allein. Das war sozusagen Ihr You never walk alone
. Aber Sie haben auch angemahnt, die Unterstützung müsse rasch bei den Betroffenen ankommen. Lassen die Hilfspakete also zu lange auf sich warten?
Na ja, ich habe gesagt, auf der einen Seite brauchen wir eine Größenordnung der Hilfspakete, die der Größenordnung der Krise gerecht wird. Auf der anderen Seite hängt Akzeptanz immer davon ab, ob die Menschen den Eindruck haben, dass die Lasten gerecht verteilt werden. Darauf muss Politik achten. Wir müssen, glaube ich, in Deutschland bei allem Verständnis – und ich habe es wirklich für die Sorgen der Menschen mit Blick auf die Nebenkostenabrechnungen, die drohen – immer noch sagen, wir leben hier in einem Land, in dem der Staat die Substanz hat, helfen zu können. Wenn wir uns nur in Europa umschauen, sieht es in vielen anderen Ländern nicht so aus. Und richtig ist: Drittens hängt die Akzeptanz daran, dass die Hilfen schnell kommen.
Herr Bundespräsident, noch kurz: Sie haben aber auch gesagt, reiche Menschen müssten mehr Lasten übernehmen. Sie haben aber nicht buchstabiert, was das heißt, deshalb konkret: Hatten Sie da an eine Reichensteuer gedacht oder an eine Art Krisen-Soli?
Wissen Sie, dass ist ja das Kluge an diesem Grundgesetz, dass es die Aufgaben unterschiedlich verteilt. Meine Orientierung geht dahin, dass ich sage, wo Spielräume bestehen. Mit welchen Instrumenten man solche Spielräume nutzt, das ist Aufgabe von Regierung und Parlament, und die sind mit der Frage befasst und müssen die richtigen Instrumente für die gerechte Lastenverteilung entscheiden.
Und waren Sie ehrlich enttäuscht, dass die Regierung nicht da war, der Bundeskanzler nicht da war, auch führende Sozialdemokraten nicht dabei waren bei dieser wichtigen Rede?
Ich habe den Blick von vorne auf das Publikum gehabt und kann Ihnen versichern, dieser Blick sagte mir: Es war Politik, es war Wirtschaft, es waren Gewerkschaften, es waren Kirchen, es war Kultur breit vertreten im Publikum. Und was mich vor allen Dingen gefreut hat, ich glaube, das haben Sie auch gesehen, wie viele junge Menschen im Publikum waren.
Das stimmt.
Und es war schön, dass wir vor allen Dingen mit unterschiedlichen Gruppen der Jugendlichen anschließend noch Gespräche führen konnten.
Das war hier in diesem Saal. Kann man ja auch mal sagen. Bleiben wir aber bei den Sorgen, die abgefragt wurden für unser Gespräch jetzt auch. 57 Prozent, also mehr als die Hälfte haben Sorgen, in den Krieg hereingezogen zu werden, also in den Ukraine-Krieg nach dem russischen Angriff. Können Sie das denn ausschließen? Können Sie diese Menschen beruhigen?
Erstens glaube ich, darin liegt eine Orientierungsaufgabe des Bundespräsidenten, die ich in dieser Rede vor gut einer Woche auch genutzt habe, indem ich gesagt habe: Wir können nicht teilnahmslos beiseite stehen; wir können nicht sagen, dieser Krieg geht uns nichts an. Weil der Krieg auch gegen all das geführt wird, für das wir stehen: für Freiheit und Demokratie, für Respekt vor dem Recht und gezogenen Grenzen. Aber selbstverständlich handelt die Bundesregierung richtig, wenn sie versucht, zu kalkulieren, wo sich unsere Position verändert. Und die Position, die wir haben, ist keine andere als etwa die des amerikanischen Präsidenten. Wir müssen nach Kräften unterstützen; finanziell, politisch, wirtschaftlich, auch militärisch müssen wir die Ukraine unterstützen. Aber wir sind nicht Kriegspartei und werden es nicht.
Wie halten wir denn die Solidarität mit der Ukraine und mit den Menschen, die flüchten müssen aus der Ukraine, aufrecht, wenn in diesem Winter weiter die Infrastruktur zerbombt wird, die Menschen keine Heizung mehr haben, keinen Strom, dann werden vielleicht viele mehr noch flüchten müssen; was können Sie, was können wir alle tun, damit das nicht nachlässt, diese Solidarität?
Das war genau der Grund, weshalb ich in der Ukraine auch fernab der Hauptstadt unterwegs gewesen bin, weil, wir haben dort Regionen, die waren während der Zeit des russischen Vormarsches völlig abgeschnitten von Lebensmittelzufuhr, wo heute immer noch Mangel herrscht, und wir haben dort mit den Bürgermeistern, Gouverneuren der Region gesprochen. Das, was die sich wünschen, also, sie sind erstens zufrieden darüber, dass Deutschland wirtschaftlich, finanziell, politisch und militärisch hilft und unterstützt. Zweitens wollen sie möglichst viele direkte Verbindungen nach Deutschland. Und aus diesen Gesprächen ist auf ukrainischen Wunsch der Vorschlag entstanden, wir müssen im Grunde genommen ein Städtepartnerschaftsnetzwerk mit der Ukraine ausbauen, weil dort auf der lokalen Ebene von der Gemeinde A in Deutschland zur Gemeinde B in der Ukraine unbürokratisch Hilfe geleistet werden kann. Da, wo solche Städtepartnerschaften bestehen, funktioniert es. Und andere möchten das auch. Sei es mit der Unterstützung von Kleidung oder Generatoren; oder in dem Ort, in dem wir waren, die rüsten gerade die Heizung um und sagen, wir leben mitten im Wald, aber wir brauchen jetzt irgendwas, mit dem wir das Holz zerkleinern können: Zerkleinerungsmaschinen. Solche praktischen Kooperationsformen müssen wir auf den Weg bringen.
Kurze Frage noch, aber die wurde auch nach Ihrer Rede von einigen gestellt: Sie haben in Bezug auf Russland ja von dem Bösen
gesprochen und hatten gesagt, angesichts des Bösen hilft guter Wille nicht. War das klug, denn das lässt ja eigentlich für Diplomatie irgendwann mal wenig Raum?
Ja, das heißt zumindest, dass wir im gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Anfasser haben, mit denen solche Verhandlungen über einen Waffenstillstand geführt werden.
Das Böse
meine ich jetzt, den Begriff.
Ja, ich weiß. Und deshalb können wir nicht anstelle der Ukraine entscheiden. Sondern die Ukraine muss sagen, wann sie solche Verhandlungen will, für aussichtsreich hält. Jedenfalls, einfach nur durch Gespräche mit Russland die Verletzung der Grenzen besiegeln, den Landraub zu bestätigen – das kann nicht Sinn der diplomatischen Bemühungen sein.
Absolut. Nur noch 39 Prozent der Menschen in Ostdeutschland sind mit unserer Demokratie zufrieden. In Westdeutschland sind es auch nur noch 59, aber das ist schon eine Diskrepanz. Vielen fehlt das Vertrauen, und wenn jemand nicht mehr vertraut, dann muss man sich um ihn kümmern. Wie wollen Sie sich um die Ostdeutschen kümmern bei dieser Frage? Wieder mehr runde Tische, wie nach der Wende, oder haben Sie ganz andere Ideen?
Na ja, das war ja durchaus eine der Überlegungen, die wir bei der Ortszeit
entwickelt hatten oder im Kopf hatten. Will sagen, dass wir nicht nur in Ostdeutschland, aber auch in Ostdeutschland unterwegs sein müssen, um hinzuhören: Wo fühlen sich die Menschen eigentlich unverstanden? Was erwarten sie von Politik? Ich kann, sage mal, aus den Ortszeiten, die wir in Ostdeutschland durchgeführt haben, sagen: Ja, es gibt viel Unverständnis, aber die Erwartungen an Politik sind auch nach wie vor ungeheuer groß. Deshalb lohnt es sich, sage ich noch mal, rauszugehen, Politik zu erklären – hinzuhören und gleichzeitig Politik zu erklären. Natürlich, Sie haben recht mit der Anmerkung von vorhin, man gewinnt nicht jeden, aber Sie haben auch aus der einen Äußerung der Frau hinter der, ich glaube, es war eine Metzgertheke gehört, dass schon das Interesse, die Aufmerksamkeit für sie etwas hilft und vielleicht auch Türen öffnet, bei denen man Argumente austauschen kann. Ich will sagen: hingehen, neugierig sein, Interesse zeigen....
... zuhören...
Nicht abstempeln, nicht zu früh kategorisieren, sondern auch ein bisschen zu sortieren: Wo sind diejenigen, die einfach nur Sorgen haben, und die anderen, die rechtsradikalen Thesen hinterherlaufen; das ist nicht immer dasselbe.
Das stimmt. Herr Bundespräsident, wir kommen zum Schlussteil. Da wollen wir nach vorne gucken. Wir wollen gucken, wie man Demokratie stärken kann, denn im Moment befindet die sich in einem Stresstest. Das Vertrauen in die Parteien lässt nach. Die Wahlbeteiligung lässt nach. Deshalb ganz konkret, wie gewinnt man die Menschen zurück, die an einem Wahltag lieber an den See fahren, statt an die Urnen zu gehen?
Na ja, ich würde erst mal sagen: indem wir sagen, die Demokratie ist kein Supermarkt. Da kann man nicht hingehen und sich das, was einem gefällt, aus dem Regal nehmen, und im Übrigen darüber schimpfen, dass manches andere nicht vorhanden ist. Sondern die Demokratie ist eine anspruchsvolle Staatsform: Wir sind auch noch dafür zuständig, dass wir die Regale wieder auffüllen. Will sagen, Demokratie lebt vom Einsatz, vom Engagement. Und ehrlich gesagt, im Vergleich zu vielen anderen Ländern können wir uns darüber nicht mal beklagen. Wir haben 30 Millionen Menschen, sagen die Umfragen, die sich so oder so, ganz unterschiedlicher Weise in unterschiedlichen Bereichen im Ehrenamt und damit ja auch für andere engagieren. Ich sage immer, das ist das Rückgrat der Gesellschaft, und ich versuche so oft wie möglich bei Ordensauszeichnungen, bei Besuchen außerhalb von Berlin, bei Reden, die ich auf 100-, 150-jährigen Jubiläen halte, darauf hinzuweisen, dass wir dieses Maß an Ehrenamtlichkeit brauchen und bewahren müssen.
Ich will jetzt überhaupt nicht treiben, aber wenn man jetzt noch mal, weil, wir kommen zum Schluss – wenn man sagt: Braucht unsere Demokratie mehr direkte Beteiligung? Bräuchte es Bürgerräte, bräuchte es einen Bürgerrat im Bellevue zum Beispiel, der Sie berät?
Ich finde es ganz toll, diese Debatte über Bürgerräte, weil sie ja eine Debatte ist, die im Kern darüber geht: Wie können wir mehr Engagement für Demokratie generieren? Und die Bürgerräte können ein solches Element sein. Der Bundestag hat sich dem ja auch gegenüber geöffnet. Ich war jetzt gerade in Irland – die sogenannte Citizens' Assembly
ist ja das Vorbild für viele andere Bürgerratsvorstellungen in ganz Europa. In Irland ist so ein bisschen Ernüchterung eingekehrt, weil nach der großen gelungenen Debatte über Abtreibung und sexuellen Missbrauch ist man da jetzt auch so ein bisschen bei der Mühsal der Ebene angekommen, aber das ist kein Gegenargument. Also ich bin sehr dafür, dass wir das bei uns auch probieren.
Auch in Bellevue?
Im Bellevue haben wir jeden Tag Bürger. Ich weiß gar nicht, ob man das formalisieren sollte. Wir haben hier während der Corona-Pandemie so viel unterschiedliche Bürgerinnen und Bürger aus unterschiedlichen Bereichen, junge und alte, immer wieder eingeladen. Ich weiß gar nicht, ob es besser wäre, wenn man einen Stab hätte von Leuten, der sich nicht oder wenig verändert. Die Vielfalt macht das auch.
Danke, Herr Bundespräsident.
Die Fragen stellte: Tina Hassel