Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Nachrichtenagentur epd im Vorfeld seiner Reise Ortszeit Neustrelitz
ein Interview gegeben, das am 9. Oktober veröffentlicht wurde.
Nur noch 39 Prozent der Ostdeutschen sind laut einer aktuellen Umfrage mit der Demokratie zufrieden. Haben Sie Hoffnung, mit Ihren Besuchen in ostdeutschen Regionen wieder mehr Vertrauen in die Demokratie zu schaffen?
Hoffen reicht nicht, wir müssen uns ernsthaft und intensiv mit den Ursachen beschäftigen. Hinter uns liegen mehr als zwei Jahre der Pandemie, die uns viel abverlangt, die viele erschöpft hat und nicht wenige in existenzielle Nöte gebracht hat. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Folgen verunsichern viele Menschen zusätzlich. Der Krieg ist zurück, das ist für viele von uns noch immer unfassbar. Viele Menschen in Ost- wie Westdeutschland sorgen sich um Frieden und Sicherheit, zeigen sich solidarisch mit der Ukraine und fragen sich gleichzeitig, ob sie die ökonomischen Folgen des Krieges stemmen können. Gerade in Ostdeutschland, wo es kaum größere Unternehmen gibt und die Menschen kaum Reserven haben, sind die Sorgen groß. Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie heftig Umbrüche den Alltag verändern. Zugleich missbrauchen laute, teils extremistische Gruppierungen die Verunsicherung, um unsere demokratische Ordnung insgesamt zu diffamieren. Diesen Versuchen müssen wir, will ich entgegentreten. Ich suche die Begegnung mit Menschen vor Ort, will durch Zuhören, Erklären und auch über kontroverse Debatten wieder Vertrauen in die Kraft der Demokratie schaffen. Wenn für die Bevölkerung klar ist, dass Politik sich ihre Sorgen und Nöte zu Herzen nimmt, dass der Bundespräsident offen und ansprechbar ist für Kritik, kann dies ein Beitrag sein, um das Vertrauen in die Demokratie wieder zu stärken.
Die Bevölkerung fürchtet die nächste Strom- oder Gasrechnung. Viele haben Existenzsorgen und fragen sich, wie es weitergeht. Was sagen Sie ihnen?
Ich nehme diese Sorgen der Bürgerinnen und Bürger sehr erst. Die Verunsicherung vieler Menschen ist immens. Verständlicherweise. Niemand kann derzeit vorhersagen, wann und wie der Krieg beendet werden könnte. Zugleich steht uns die kalte Jahreszeit erst noch bevor. Wenn die Energiepreise weiter so enorm steigen, werden auf die Privathaushalte beispiellos hohe Heizkosten zukommen. Auch die Wirtschaft wird massiven finanziellen Zusatzbelastungen ausgesetzt sein. Hinzu kommt, dass sich viele Lebensmittel in den zurückliegenden Monaten drastisch verteuert haben. Meine Botschaft an die Menschen ist, dass die Politik derzeit mit aller Kraft an Lösungen arbeitet, um Härten abzumildern. Viele Details zu einzelnen Maßnahmen sind noch in der Diskussion. Ich verstehe die Ungeduld bei etlichen Bürgerinnen und Bürgern angesichts der Dringlichkeit ihrer Lage; die Politik weiß, dass sie jetzt schnell und genau sein muss. Aber ich sage auch: Wir sind ein Land mit starker Wirtschaft und ein starker Sozialstaat. Wir haben in der Corona-Pandemie gesehen, dass der Staat viel Geld in die Hand genommen hat, um Verwerfungen bei Privathaushalten und in Unternehmen zu verhindern. Wir können darauf vertrauen, dass der Staat die Menschen auch in dieser Krise nicht im Stich lässt, sondern hilft. Auch die Bürgerinnen und Bürger können helfen, dass wir durch vernünftiges und verantwortliches Verhalten beim Energieverbrauch besser durch den Winter kommen.
Vielerorts gibt es Proteste gegen die verantwortliche Politik, die für die Preissteigerungen verantwortlich gemacht wird. Manche berufen sich auf die Tradition der Friedlichen Revolution in der DDR. Wie bewerten Sie das?
Kontroversen, das Ringen um den richtigen Weg, auch der Protest gehören in der Demokratie dazu. Unser Grundgesetz garantiert die Freiheit der Meinung und Demonstrationsfreiheit und zieht die Grenzen sehr weit. Das Schüren von Hass auf Minderheiten, die Bekämpfung der Institutionen der Demokratie sind keine akzeptablen Mittel des Protests in einem Rechtsstaat. Das sollte allen klar sein, die sich an Demonstrationen beteiligen, die von zweifelhaften Gruppierungen befeuert oder gar organisiert werden. Dass sich einige von ihnen allen Ernstes auf die Friedliche Revolution von 1989 berufen, die ja zum Ziel hatte, ein Unrechtssystem abzuschaffen, und gleichzeitig großes Wohlwollen und Verständnis für Autokratie und Unterdrückung in Russland aufbringen, verhöhnt die unglaublich mutigen Menschen, die damals in der DDR auf die Straße gegangen sind. Es ist ein Missbrauch des Mauerfalls für antidemokratische Stimmungsmache, der ich nachdrücklich widerspreche.
Die Fragen stellten: Jens Büttner und Corinna Buschow