Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Ostsee-Zeitung aus Anlass des dreißigsten Jahrestages der rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen ein schriftliches Interview gegeben, das am 25. August erschienen ist.
Wie hat der Bundespräsident die Ereignisse in Lichtenhagen damals erlebt und verfolgt?
Steinmeier: Ich habe damals in der Niedersächsischen Staatskanzlei in Hannover gearbeitet. Die Bilder und Ereignisse haben mich erschüttert, ich habe sie als einen tiefen Einschnitt erlebt in dem damals gerade gestarteten Prozess der Demokratisierung in Ostdeutschland. Wir haben uns alle gefragt, wie wir damit umgehen sollen, wie Hass und Gewalt in solchem Ausmaß entstehen können, wie tief der Rassismus tatsächlich verwurzelt ist. Und wir haben nach Antworten gesucht auf die Frage: Wie können wir vorbeugen?
Welche Lehren zieht Deutschland bis heute daraus?
Eine Lehre ist, dass wir lernen müssen, der Versuchung zu widerstehen, in den Debatten, die wir als Demokratie führen wollen und müssen, stets das schärfste verbale Schwert zu benutzen – nur weil es mit Reichweite in den Medien belohnt wird. Wir müssen verbal abrüsten, einander zuhören, uns wirklich austauschen. Die zweite Lehre ist, dass der Staat jederzeit alles ihm Mögliche tun muss, jeden einzelnen Bürger in der offenen Gesellschaft gegen Angriffe zu schützen. Ein Staat, der zu lange zuschaut oder unterreagiert, schützt die Gefährdeten nicht ausreichend vor den Gefährdern. Fürs friedliche Zusammenleben allerdings kommt es, drittens, auch auf jeden Einzelnen an. Friedlich zu bleiben, ist in einer offenen Gesellschaft erste Bürgerpflicht.
Wie erleben Sie Rostock heute?
Ich erlebe eine weltoffene Hansestadt. In den vergangenen dreißig Jahren haben sich die Bürgerinnen und Bürger engagiert und viel geschafft. In der Corona-Pandemie war die Stadt mit ihren effektiven Maßnahmen bundesweit ein Vorbild für viele Kommunen. Rostock hat sich weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus einen freundlichen Ruf erarbeitet. Die Hanse Sail ist nicht mehr aus dem Sommerprogramm an der Ostsee wegzudenken, vor drei Jahren war ich mit dem portugiesischen Präsidenten dort selbst zu Gast. Zugleich ziehen die Universität und weitere Hochschulen die jungen Leute an die Küste, es gibt fast 15.000 Studierende. Rostock hat den Blick erfolgreich nach vorne gerichtet.
Die Fragen stellte: Virginie Wolfram