Interview mit dem Hörfunksender Südwestdeutscher Rundfunk (SWR)

Schwerpunktthema: Interview

18. Juni 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Hörfunksender SWR während seines Staatsbesuchs in der Republik Indonesien ein Interview gegeben, das am 17. Juni erschienen ist: "Das, was Zeitenwende genannt wird, hat nicht nur etwas mit der Bundeswehr zu tun, hat nicht nur etwas mit besserer Ausrüstung der Bundeswehr und einem Sondervermögen zu tun. Sondern wir erleben natürlich jetzt etwas, was verbunden ist mit den Entscheidungen, die wir getroffen haben: der Ukraine beizustehen, Sanktionsentscheidungen gegenüber Russland zu treffen, uns von der Abhängigkeit von russischer Energie zu lösen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Interview mit Evi Seibert für den Hörfunksender Südwestdeutscher Rundfunk (SWR) während seines Staatsbesuches in Indonesien

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Hörfunksender SWR während seines Staatsbesuchs in der Republik Indonesien ein Interview gegeben, das am 17. Juni erschienen ist.

Das Interview der Woche mit Evi Seibert. Und unser Gast ist heute der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Hallo, Herr Steinmeier!

Guten Nachmittag, Frau Seibert.

Herr Steinmeier, man hat den Eindruck – wir führen dieses Interview ja am Ende Ihrer Reise durch Südostasien, wir waren in Singapur und in Indonesien –, dass es Ihnen doch enorm viel Spaß macht, wieder auf Reisen zu sein. Ist das so?

Es ist die erste große Auslandsreise, in der Tat, seit Beginn der zweiten Amtszeit. Ich habe mich sehr darauf gefreut. Und sie ist halt weit weg: dreizehneinhalb Flugstunden von Berlin entfernt auf die andere Seite des Globus. Auch mit dem Interesse, hier zu erfahren, ob die Themen hier ganz andere sein werden. Es gibt andere Perspektiven, aber oft doch ähnliche oder dieselben Themen. Das haben wir erfahren. Der Krieg in der Ukraine ist viel weiter weg, aber die Region hier – Singapur, Indonesien – ist genauso davon berührt.

Sie sind auch unterwegs gewesen, um Verbündete zu finden, die in dieser neuen Weltordnung an der Seite Deutschlands und Europas sein könnten. Das ist ja auch ein Teil Ihrer Gespräche hier gewesen.

Zunächst mal geht es darum zu erkunden: Wie denkt man eigentlich hier? Und es ist ja schon erstaunlich, in welcher Weise der Krieg die Menschen hier berührt, zum Beispiel indem in Singapur das Nationalgericht bedroht ist. Das ist Hühnchen. Warum ist das Hühnchen als Nationalgericht bedroht? Weil es aus Malaysia kommt. In Malaysia ist der Weizen teurer geworden, der normalerweise aus der Ukraine kommt. Und insofern hängt eines mit dem anderen zusammen.

Das, was wir als Zäsur oder als Zeitenwende oder als Epochenbruch begreifen, das ist eben etwas, was sich nicht allein auf Europa beschränkt, sondern auch hier sichtbar wird. Insofern geht es um Erkundung, ja. Und in der Tat natürlich auch zu sehen: Wo können andere Partner sein? Wo können Partner sein, mit denen wir unsere Beziehungen sogar stärker pflegen werden in Zukunft?

Dann haben Sie aber auch erfahren, dass die Partner manchmal eine etwas andere Sicht auf die Welt haben. Also der Krieg in der Ukraine ist weit weg, auch wenn die Auswirkungen bis hier sind. Aber alle Dinge, die wir so neu sortieren aus unserer westeuropäischen Sicht, werden hier unter Umständen auch ganz anders gesehen, oder?

Ich glaube, gerade deshalb kommt es darauf an, die Möglichkeiten zu nutzen, wieder unterwegs zu sein. Weil: Vieles – das haben wir in den letzten Jahren gelernt – lässt sich behelfsweise mit Kommunikation über digitale Formate lösen, aber eben nicht alles. Und da, wo neue Beziehungen geknüpft werden wollen, da glaube ich kommt es darauf an, dass man vor Ort ist. Und das, was ich hier erfahren habe, ist, dass unsere Anwesenheit – ja nicht meine alleine, sondern ich bin begleitet durch eine relativ große Wirtschaftsdelegation –, die persönliche Anwesenheit hier in der Region, in Südostasien sehr geschätzt wird.

Sind wir vielleicht auch ein bisschen blauäugig, wenn wir davon ausgehen, dass unsere Sicht auf die Welt und die Weltordnung die für alle erstrebenswerte ist?

Wir hätten jedenfalls wissen können, dass sich nicht die ganze Welt einem Block zurechnen will. Und wenn wir uns hier in Südostasien bewegen: Wir haben es hier mit ganz selbstbewussten Staaten zu tun, die in einem schwierigen politischen Umfeld mit einem großen Nachbarn wie China leben. Und die haben es gelernt, in dieser risikoreichen Atmosphäre Selbstbewusstsein, Souveränität, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu bewahren.

Deshalb: Diese Staaten zu zwingen, sich auf eine Seite zu begeben, das wird aus meiner Sicht nicht gelingen. Sie müssen überzeugt werden – und überzeugt werden durch Zuwendung, durch Anwesenheit, durch Interesse und auch durch eine Bereitschaft, ihnen und ihren Sorgen tatsächlich zuzuhören.

Bei uns spielt das Thema Boykott eine sehr große Rolle, darüber haben Sie sicherlich ja auch gesprochen. Auf der anderen Seite: Kann man das überhaut verknüpfen? Müssen Handelspartner auch Wertepartner sein?

Sie sollten es sein, aber wir stellen ja weltweit fest, dass sie es nicht immer sind. In der Lösung von Russland, was die Energieressourcen angeht, was im Augenblick stattfindet, sehen wir ja, dass weltweit die ressourcenreichen Staaten nicht immer nur Wertepartner sind. Insofern: Idealerweise ist das in dieser Welt so, aber wir müssen eben realistischerweise auch davon ausgehen, dass das nicht in jedem Falle so ist. Trotzdem: Gerade hier in Südostasien haben wir eben Partner, mögliche Partner, die in vielem mit uns übereinstimmen. Hier ist man davon abhängig, dass es einen fairen und freien Welthandel gibt. Hier ist man davon abhängig, dass es eine belastbare internationale Ordnung gibt. Hier, sowohl in Singapur wie in Indonesien, hat man den Überfall Russlands auf die Ukraine verurteilt, und deshalb sind das Partner, von denen ich wirklich überzeugt bin, dass sie unsere Schlüsselpartner hier in der Region sind. Eine Region übrigens, die wir von ihrer Bedeutung nicht unterschätzen dürfen. Wir sagen als Europäer häufig, wir sind ein einflussreicher Raum mit 500 Millionen Menschen. Südostasien, die sogenannte ASEAN Association hat ungefähr 600 Millionen Menschen und ganz starkes wirtschaftliches Wachstum, höher etwa als das chinesische.

Sie waren ja als Außenminister auch schon mal hier, unter anderem auch in einer Schule, die Sie jetzt wieder besucht haben. Diese Reisen des Bundespräsidenten beinhalten ja sehr viel mehr solcher Termine. Also: Sie haben Maden gefüttert, Sie haben eine Gummipuppe intubiert, Sie haben Krabben gefüttert, Sie haben einen Auswärtswettbewerb-Sieger gekürt. Sie machen den Eindruck, als ob Sie in dieser Rolle richtig aufgehen.

Ja, auch der Bundespräsident repräsentiert ja sein eigenes Land. Er repräsentiert es auch im Ausland, und deshalb gehört natürlich die Pflege unseres Bildes, das wir in der Region hinterlassen, dazu. Mich aber allerdings freut es ganz besonders, wenn man dann nach Jahren auf die eigenen Spuren wieder stößt und das, was man angestoßen hat, sich positiv entwickelt hat. Der Besuch an der deutschen Schule zeigt ja, dass eine Schulinitiative, die wir vor vierzehn Jahren ins Leben gerufen haben, doch weltweit jetzt sich stark verbreitet hat und wir allein hier in Indonesien 160.000 Deutschlerner haben. Das ist ein riesiger Erfolg und kann eben die Sympathie für unser Land noch weiter stärken.

Sehen Sie sich als Sympathieträger?

In den Ländern, an denen wir Interesse haben, mit denen wir unsere Beziehungen verstärken wollen, kann und sollte der Bundespräsident ein Sympathieträger sein. Ich will das nicht für mich selbst beantworten, aber ich bemühe mich darum.

Während wir hier sind, ist die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz zusammen mit dem französischen Präsidenten und dem italienischen Ministerpräsidenten in der Ukraine gewesen. Jetzt läuft im Moment die Diskussion, wie die Ukraine-Reise bewertet werden soll. Es geht von zu spät über nur Symbol bis hin zu gut, dass es wenigstens ein Symbol ist. Wie haben Sie das hier erfahren?

Meine Erfahrungen, was Reisen in die Ukraine angeht, sind ja breiter. Meine vielen Reisen liegen in den Jahren nach 2014, als es darum ging, das Minsker Abkommen zu stabilisieren und voranzubringen. Das ist leider nicht gelungen. Nach der abgesagten Reise vor einigen Wochen habe ich mit Herrn Selensky lange gesprochen. Wir haben das, was vorgefallen war, denke ich, erfolgreich ausgeräumt. Und wir haben auch vereinbart, dass es vermehrt zunächst Reisen der Bundesregierung geben sollte. Diese Reise war aus meiner Sicht ganz besonders wichtig, weil sie im Vorfeld eines europäischen Gipfels stattfindet, in dem darüber entschieden wird, in welchem Verhältnis die Europäische Union zukünftig zur Ukraine stehen wird. Und dazu haben alle drei, sowohl der italienische Ministerpräsident wie der französische Präsident und auch der deutsche Bundeskanzler, finde ich, die richtigen Worte gefunden, die in der Ukraine, aber auch – wir sollten das nicht vergessen – in Moldawien auf Zustimmung gestoßen sind.

Werden Sie auch in die Ukraine fahren demnächst?

Wir haben verabredet, Präsident Selensky und ich, dass wir darüber im Gespräch bleiben. Ich glaube, wichtig waren jetzt zunächst mal die Reisen von Mitgliedern der Bundesregierung, die innerhalb der Ukraine nicht nur unterstrichen haben, wie groß unser Interesse an der Souveränität und Eigenständigkeit, der territorialen Integrität der Ukraine ist, sondern die auch deutlich gemacht haben, wie sehr Deutschland die Ukraine in diesen letzten drei Monaten unterstützt hat.

Sie haben es gerade angesprochen: Ihre Erfahrung mit der Ukraine. Der Kanzler war ja sehr empört darüber, das hat ja auch eine ganz große Rolle in den ganzen letzten Wochen gespielt, dass das deutsche Staatsoberhaupt anfangs ausgeladen wird. Ich gehe mal davon aus, dass Sie das auch nicht besonders gut fanden. Darf sich eigentlich ein Staatsoberhaupt öffentlich ärgern? Haben Sie lange darüber nachgedacht, wie Sie sich öffentlich dazu verhalten?

Ob er sich öffentlich ärgern darf? Die Frage kann ich nur mit Ja beantworten. Ob er sich in diesem Fall öffentlich ärgern sollte, weiß ich nicht. Ich habe das anders entschieden. Ich habe auf diese Ausladung professionell, hoffe ich, reagiert und gesagt, dass dieser Umstand nichts zu tun hat mit unserer Solidarität mit der Ukraine. Die Ukraine ist das angegriffene Volk, die Ukraine hat viele Opfer zu verzeichnen, viele Ukrainerinnen und Ukrainer haben sich auf die Flucht begeben müssen, ihre Heimat verlassen müssen. Da ist völlig klar, an welcher Seite wir stehen, wen wir unterstützen, und das war das Wichtigste, was ich als Reaktion auf diese Ausladung zu sagen hatte und, ich finde, auch sagen musste.

Sie sind aber noch weiter gegangen. Sie haben sogar zugegeben, dass Sie Ihre Politik heute anders sehen, also man könnte auch anders sagen: Fehler zugegeben. Ist das schwer als Politiker, Fehler zuzugeben, und sollte das mehr stattfinden? Es wird ja im Moment sehr viel über politische Kommunikation gesprochen. Also die Menschen sagen, Sie verstehen teilweise nicht, wie Entscheidungen zustande gekommen sind. Muss man etwas mehr, anders erklären heutzutage?

Ich will das nicht für andere sagen, ich kann das nur für mich sagen. Natürlich schaue ich in Zeitabständen immer wieder zurück und versuche auch zu beurteilen, was man mit dem Wissen von heute möglicherweise früher anders entschieden hätte. So habe ich in einem Interview in Bezug auf Nordstream 2 geantwortet und gesagt: Mit dem Wissen von heute hätte ich vermutlich den Bau von Nordstream 2 nach 2014, nach der Annexion der Krim, nicht unterstützt. Aber das sind Dinge, die mich angehen und mit denen ich versuche, meinen politischen Alltag auch immer wieder mir selbst vorzulegen. Und ich habe den Eindruck jedenfalls, das ist nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch akzeptiert worden.

Die Ukraine wäre unter Umständen, wenn es nicht zum Krieg gekommen wäre, nicht mit so offenen Armen in der EU empfangen worden, und es ist ja das große Problem jetzt, dass es sehr schnell gehen soll, als Symbol und auch als wichtiges Zeichen der Unterstützung. Auf der anderen Seite sind ja andere Länder, die schon länger den Kandidatenstatus haben, die unter Umständen nun denken: Warum geht es an uns vorbei? Sehen Sie da – weil, die EU braucht ja für alles doch immer etwas länger – die Chance, dass sich das so regelt? Dass hinterher alle zufrieden sein können? Also sowohl die anderen, der Westbalkan, als auch die Ukraine?

Ich glaube, das ist die ganze Schwierigkeit der Entscheidung, die jetzt vor dem Europäischen Rat steht. Und der Bundeskanzler hat ja hinreichend deutlich gemacht, wie schwer man sich diese Entscheidung auch machen muss vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es auf dem westlichen Balkan viele Länder gibt, die schon zehn oder fünfzehn Jahre lang mit der Europäischen Union verhandeln. Und ich kann das durch die Besuche in der letzten Zeit bei mir auch nur bestätigen. Der albanische Ministerpräsident, der montenegrinische Präsident und andere haben sich bei mir gemeldet und gesagt: Wir haben in unseren Ländern immer den proeuropäischen Kurs vertreten. Wir wollen nicht der Ukraine im Weg stehen, aber vergesst uns bitte nicht, sonst wird unsere proeuropäische Politik in unseren eigenen Ländern unglaubwürdig. Das muss man mit bedenken. Und deshalb gilt das, was in Kiew gesagt worden ist: Das wird mit Sicherheit einfließen in die europäischen Entscheidungen, die wir jetzt erwarten, und das wird hoffentlich begleitet sein durch Signale an den westlichen Balkan, dass sie mit solchen Entscheidungen zugunsten der Ukraine und zugunsten Moldawiens nicht vergessen sind.

Es wird sicherlich nächtelange Verhandlungen in Brüssel wieder geben. Ich gehe mal davon aus, dass Sie das eher nicht vermissen?

Ehrlich gesagt, ich habe meinen Teil an durchverhandelten Nächten in Brüssel erfüllt.

Bevor Sie ins Ausland aufgebrochen sind, haben Sie den Deutschen eine gesellschaftliche Debatte hinterlassen: eine soziale Pflichtzeit. Das hat quer durch die Parteien – also man kann nicht sagen, die einen reagieren so und die anderen so, sondern aus den Parteien selber gibt es Befürworter und Gegner. Eine sehr, sehr starke und große Diskussion. Haben Sie erwartet, dass das so heftig sein würde?

Vielleicht nicht erwartet, aber erhofft. Und man darf das Thema soziale Pflichtzeit ja nicht ganz ohne den Zusammenhang mit der Demokratie sehen. Ich habe in meiner ersten Amtszeit viel über das notwendige Engagement von Menschen für die Demokratie geredet. Habe immer wieder gesagt, diese Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen. Sie lebt nur vom Engagement ihrer Bürger, und das verlangt eben auch Überzeugung, dass die Menschen sich für diese Demokratie tatsächlich interessieren und sich einbringen. Und deshalb müssen wir nach Möglichkeiten suchen, wieder stärker mit der Bevölkerung, mit der Gesellschaft zu sprechen oder, besser gesagt, die Gesellschaft mit sich ins Gespräch zu bringen.

Könnten Sie das mal ganz konkret an Beispielen festmachen: Also jetzt ist es ja sehr demokratie-theoretisch gewesen, aber wenn ich mir vorstelle, so eine Pflichtzeit für Junge, Alte, Mittelalte – wie soll die aussehen? Was haben wir für eine Pflicht?

Es geht um Zusammenhalt in dieser Gesellschaft, und das diskutieren wir in einer Zeit, in der, glaube ich, sichtbar Verständnis und Toleranz für andere Lebensentwürfe gelitten hat, wo es schwerfällt, andere Meinungen auszuhalten. Wo der Ton in der nicht nur politischen, sondern auch öffentlichen Auseinandersetzung gerade in den sozialen Medien schärfer, manchmal würde ich sogar sagen: unerträglich geworden ist. Hier Zusammenhalt zu bewahren, könnte ein Element sein. Die soziale Pflichtzeit, die ich ins Gespräch gebracht habe, in der Menschen einmal im Leben – und ich habe betont, diese Pflichtzeit ist nicht nur auf Junge bezogen, sondern Männer und Frauen gemeint und Junge und Alte gemeint – sich in einer bestimmten Zeitphase ihres Lebens für das Gemeinwesen zu verpflichten, gemeinnützige Arbeit zu leisten, sich um Alte oder um Junge zu kümmern; da, wo Not am Mann ist, auch Nothilfe zu leisten; und vieles andere mehr bis hin zu sozialen Pflichtzeiten, die auch in der Bundeswehr abgeleistet werden können.

Und wenn Sie mich fragen: Habe ich das erwartet? Dann kann ich nur sagen: Ich habe eine Debatte erhofft. Die findet statt, und erste Reflexe, die vor allen Dingen in den sozialen Medien zu sehen waren – Das ist alles abzulehnen –, das hat sich erfreulicherweise verändert. Die Debatte verläuft differenzierter. Und was mir aufgefallen ist: Unter den vielen Zuschriften, E-Mails, die ich bekomme, sind auch ganz viele von jungen Menschen, die das richtig finden. Und deshalb würde ich sagen: Warten wir mal ab, wie sich diese Debatte weiterentwickelt. Ich habe nichts anderes gewollt, als eine Debatte in Gang zu bringen, und die läuft erfreulich intensiver, als ich es mir selbst erhofft habe.

Nun kommt neuer sozialer Sprengstoff auf uns zu, nämlich mit steigenden Preisen, der die Gesellschaft sicherlich auch sehr, sehr stark belasten wird – also eben gerade die, die unten stehen. Die jetzt unter Umständen tatsächlich zum ersten Mal im Leben überlegen, ob sie überhaupt noch über die Runden kommen können, und zwar vermehrt. Sehen Sie das auch als Gefahr?

Das ist eine Gefahr. Und die Entwicklung, die Sie aufgezeigt haben, zeigt eben auch: Das, was Zeitenwende genannt wird, hat nicht nur etwas mit der Bundeswehr zu tun, hat nicht nur etwas mit besserer Ausrüstung der Bundeswehr und einem Sondervermögen zu tun. Sondern wir erleben natürlich jetzt etwas, was verbunden ist mit den Entscheidungen, die wir getroffen haben: der Ukraine beizustehen, Sanktionsentscheidungen gegenüber Russland zu treffen, uns von der Abhängigkeit von russischer Energie zu lösen. Alles das hat die Energiemärkte in eine Dynamik gebracht, die zu Preissteigerungen bei uns führt. Und ich bin froh darüber, dass die Bundesregierung Entlastungsmaßnahmen beschlossen hat.

Aber kann es nicht sein, dass zum Beispiel die Zustimmung zu solchen Boykott-Maßnahmen letzten Endes schwindet? Wir haben ja eine Gruppe von Leuten in Deutschland, die letzten Endes eigentlich immer nur ein neues Thema braucht, um dagegen zu sein. Das könnte doch der nächste Grund sein.

In der Tat, und das ist auch ein Grund, weshalb ich mich entschieden habe, von Zeit zu Zeit ins Land zu gehen, weg von Berlin, um mir genau diese Debatten anzuhören. Ortszeit heißt das neue Format, mit dem ich unterwegs bin. Ich habe begonnen mit dem Süden Thüringens, in Altenburg, war dann ein paar Wochen später für drei Tage in Quedlinburg, bin jetzt unmittelbar vor der Indonesien-Reise aus Rottweil – ebenfalls nach drei Tagen – zurückgekommen, wo ich mich intensiv in das Gespräch in der Bevölkerung einschalte, verschiedene Veranstaltungen mache, kleine und große Formate, Leute unterschiedlicher Meinungen an einen Tisch setze. Um erstens natürlich zuzuhören: Was quält die Leute? Was macht ihnen möglicherweise Hoffnung? Aber zweitens auch immer zu sagen: Was kann Politik, und wo sind auch die Grenzen von Politik? Und das ist ein Gesprächsformat, was nicht nur mir gefällt, mir entgegenkommt, sondern von dem ich bisher, nach den drei Versuchen, die ich jetzt hinter mir habe, den Eindruck habe, dass es auch in der Bevölkerung ganz gut ankommt und gespürt wird, dass man sich für ihre Meinungen interessiert. Wir haben jedenfalls viele Bewerbungen von anderen Städten, die das in gleicher Weise machen möchten.

Das ist natürlich ein sehr ehrbares Anliegen, aber Sie alleine können das ja nicht retten, oder?

Nein, ich bin ja auch nicht alleine. Ich weiß, dass die Abgeordneten ihre Wahlkreise pflegen und viel unterwegs sind. Aber nach meinem Eindruck ist es für die Bevölkerung auch noch mal ein besonderer Reiz, wenn der Bundespräsident nicht nur kommt, eine Rede hält und wieder fährt, sondern wenn er sich drei Tage in das Geschehen vor Ort nicht einmischt, aber in das Geschehen eintaucht und sehr viel mehr mitnimmt, als er das bei den Kurzreisen aus der Vergangenheit gewohnt war.

Die documenta ist ein großes Thema, schon im Vorfeld wurde darüber gestritten, ob die indonesische Gruppe – und wir sind ja gerade in Indonesien – sich Antisemitismus-Vorwürfen aussetzen muss. Sie bestreitet das, aber diese kulturpolitische Diskussion ist im Gange. Und Sie haben gesagt, Sie würden bei Ihrer Eröffnungsrede sagen, wo die Grenzen von Kunstfreiheit sind. Wo sind die denn?

Erstens: Ich bin ein documenta-Gänger; ich glaube, ich habe in den letzten dreißig Jahren keine der documenta-Ausstellungen verpasst. Zweitens: Die documenta ist und bleibt eine Bestandsaufnahme zeitgenössischer Kunst, die wir brauchen, die auch in die Gesellschaft hineingewirkt hat und auch dieses Mal hineinwirkt.

Gleichwohl hat mich manches an der öffentlichen Debatte irritiert, und manches, was ich an Beiträgen gesehen habe – insbesondere über das Verhältnis zu Israel bis hin zu Boykottaufrufen, von denen ich gelesen habe –, hat mir nicht gefallen. Und deshalb, glaube ich, kommt es darauf an, dass ich die Gelegenheit nutze, um auch zu sagen: Kunst muss anstößig sein, sie muss bemerkbar sein, sie muss Impulse geben. Aber wo sich politischer Aktivismus sozusagen nur der Mittel der Kunst bedient, muss er eben auch damit rechnen, Widerspruch zu erfahren, und diese Grenzen müssen diskutiert werden.

Dann muss eben auch klar sein, dass es politischen Widerspruch geben kann, und dann muss auch klar sein, dass über die Grenzen dieser Botschaften nachgedacht wird. Und das gilt natürlich ganz besonders in einem Land wie Deutschland. Wenn in diesen Debatten auch darüber diskutiert wird, ob israelische Künstler boykottiert werden müssen oder Israel das Existenzrecht abgesprochen wird, direkt oder indirekt, da müssen wir ganz besonders hier in Deutschland darauf bestehen, dass diese Grenzen auch beachtet werden.

In dieser Amtszeit ist etwas anders: Ihre Frau arbeitet wieder als Richterin. Wie macht sich das denn bemerkbar? Sehen Sie sich weniger? Gehen Sie weniger zusammen auf Reisen? Diskutieren Sie zu Hause anders? Müssen Sie mehr im Haushalt machen? Müssen Sie Ihre Koffer wieder selber packen?

Meine Koffer habe ich immer selbst gepackt, darauf lege ich Wert. Ich merke natürlich jetzt gerade bei dieser langen Auslandsreise, immerhin fünf Tage mit einem Staatsbesuch in Indonesien, dass meine Frau nicht dabei ist, die gerade bei Staatsbesuchen eine sehr eigenständige Rolle gespielt hat. Das finde ich schade, aber ich habe allervollstes Verständnis dafür, dass sie gesagt hat: Die ersten fünf Jahre als First Lady waren aufwendig, sie waren hochinteressant, und ich will das auch weitermachen, aber ich will auch nicht ganz raus aus meinem alten Beruf.

Und deshalb ist die Aufteilung, die wir jetzt getroffen haben, dass sie fünfzig Prozent ihrer Arbeitszeit ihrem Richterberuf widmet und für die anderen fünfzig Prozent als First Lady zur Verfügung steht, finde ich in Ordnung, finde ich gut und kann mich dafür nur bedanken.

Aber es war sicherlich anders, oder? Wenn sie aus einem Programm zurückkam, wo sie mit anderen Leuten zum Beispiel auf Staatsbesuchen geredet hat, dass sie dann sicherlich nochmal andere Impulse gesetzt hat?

Ja klar, es sind natürlich häufig auch andere Besuchs- und Gesprächsmöglichkeiten, die sie wahrgenommen hat, häufig im sozialen Bereich oder aber beim Treffen mit Richterkolleginnen und -kollegen oder aber Treffen mit Unicef, wo sie Schirmherrin ist. Das sind Themen, die müssen wir jetzt in unseren Programmen mit unterbringen. Und wie Sie gesehen haben, wir lassen das auch bei einem längeren Besuch wie jetzt in Singapur und Indonesien nicht aus. Trotzdem will ich damit nicht sagen, dass ich die Anwesenheit meiner Frau ersetzen könnte. Sie fehlt.

Herr Bundespräsident, vielen Dank für dieses Gespräch.

Dankeschön.

Die Fragen stellte: Evi Seibert