Interview mit der Zeitung Bild am Sonntag

Schwerpunktthema: Interview

12. Juni 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Sonntagszeitung Bild am Sonntag während seiner "Ortszeit Rottweil" ein Interview gegeben, das am 12. Juni erschienen ist: "Es bringt nichts, die eigene Verunsicherung hinter einer vermeintlich starken Meinung zu verstecken. Wenn das alle machen, verschanzen wir uns und kommen nicht mehr in das notwendige Gespräch. Diese wachsende Entfremdung, nicht nur zwischen Politikern und Bürgern, auch zwischen Großstadt und Land, die will ich nicht hinnehmen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Aufnahme der Amtsgeschäfte im Hotel Maiers Johanniterbad in Rottweil

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Sonntagszeitung Bild am Sonntag während seiner Ortszeit Rottweil ein Interview gegeben, das am 12. Juni erschienen ist:

Herr Bundespräsident, Sie kommen aus bescheidenen Verhältnissen, Ihr Großvater ging als Ziegler auf Wanderschaft, Ihr Vater war Tischler. Galt bei Ihnen zu Hause der Satz: Unsere Kinder sollen es besser haben als wir?

Der galt. Meine Mutter konnte wegen ihrer Flucht aus Schlesien die Schule nicht beenden. Unsere Eltern waren sehr darauf bedacht, dass es ihren Kindern besser geht und haben alles getan, dass ich Abitur machen und studieren konnte. Ich bin ihnen sehr dankbar.

Ihre Tochter Merit ist 26, studiert Arabistik. Können Sie diesen Satz zu Ihrem Kind auch guten Gewissens sagen?

Viele Eltern sorgen sich, ob er noch gilt. Die Pandemie hat uns sehr gefordert, es gibt einen brutalen Krieg in Europa, der Klimawandel schreitet voran. Wir sehen jetzt, dass wir viel zu lange davon ausgegangen sind, dass Frieden, Freiheit und Wohlstand garantiert sind. Die Gewissheit ist erschüttert. Aber ich bin überzeugt, dass wir es schaffen, die großen Versprechen der Demokratie zu bewahren, wenn wir gemeinsam daran arbeiten. Das zu schaffen, ist mein Ziel.

Was sagen Sie Menschen, die keinen Cent Zinsen für ihr Erspartes bekommen, aber dafür mit acht Prozent Inflation leben müssen?

Ich weiß, wie belastend das gerade für ärmere Haushalte ist, wenn der Wochenendeinkauf plötzlich zehn oder zwanzig Euro teurer wird. Wenn Menschen, die von Grundrente leben, nun jeden Euro noch einmal umdrehen. Deshalb muss alles getan werden, die Härten zu mildern.

Tut der Staat genug?

Die Bundesregierung federt mit Maßnahmen wie dem Entlastungspaket Belastungen ab. Klar ist aber auch, dass die Politik auf Dauer nicht jede Teuerung für jeden wird ausgleichen können. Auf längere Sicht müssen wir neu darüber nachdenken, wie wir eine gerechte Lastenverteilung hinbekommen. Die Debatte darüber muss geführt werden, ohne dass sich die Beteiligten vorab Denkverbote auferlegen.

Wissen Sie, was heute in Rottweil ein Liter Diesel kostet?

Um die zwei Euro. Letzte Woche in Berlin lag der Preis für ein Liter Super deutlich unter zwei Euro. Zwei Tage später ging es aber wieder nach oben.

Heute früh waren es 2,17 Euro. Kann der Staat es hinnehmen, dass die Ölmultis sich mit dem milliardenteuren Tankrabatt Extragewinne einstreichen?

Ich verstehe den Unmut der Bürger, wenn sich viele einschränken müssen und manche Extragewinne einfahren. Den Ärger müssen wir ernst nehmen. So wichtig es ist, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen, dass der Staat nicht jede Teuerung wird ausgleichen können, so wichtig ist es auch, dass wir dafür sorgen, dass nicht einige ungerechtfertigt Vorteile aus der Situation ziehen können. Die Frage nach dem richtigen Instrument muss die Regierung beantworten.

Haben Sie eigentlich Gerhard Schröder am 7. April zum Geburtstag gratuliert?

In diesem Jahr nicht.

Sie waren sein wichtigster politischer Weggefährte, erst in Niedersachsen, später leiteten Sie sein Kanzleramt. Ist Schröder noch Ihr Freund?

Wir sind 15 Jahre zusammen einen Weg gegangen, seit 17 Jahren gehe ich meinen politischen Weg ohne ihn. In dieser Zeit hat Gerhard Schröder persönliche Entscheidungen getroffen, die uns auseinandergeführt haben.

Schröder hat sich bis heute nicht von Wladimir Putin losgesagt. Was für einen Schaden richtet das an?

Vieles, was Gerhard Schröder in seiner Kanzlerschaft auf den Weg gebracht hat, gerät durch sein Verhalten nach seiner Amtszeit in den Hintergrund. Das hat aber nicht nur eine persönliche Dimension für ihn, es hat auch Folgen für ganz Deutschland: Gerhard Schröders Engagement für russische Energieunternehmen hat in Europa, insbesondere bei unseren osteuropäischen Nachbarn, viele Fragezeichen auch in Bezug auf unser Land hinterlassen. Das war nicht gut.

Hat Schröder durch seine Geschäftemacherei mit Russland auch hier im Land den Glauben bestärkt, dass es Politikern doch nur um den eigenen Geldvorteil geht?

Und genau diesem Eindruck müssen wir entgegentreten. Auch mit Blick auf Gerhard Schröders Tätigkeiten wurde inzwischen ja ein Regelwerk geschaffen, das klar benennt, was jene zu beachten haben, die nach politischen Spitzenjobs in andere Tätigkeiten wechseln wollen. Wo Interessenkonflikte drohen, kann ein neuer Job untersagt werden. Das begrüße ich. Denn ja, auch nur der Anschein eines Interessenkonflikts oder persönlicher Vorteilsnahme schadet dem Ansehen von Politik.

Bei der Landtagswahl in NRW haben gerade noch 55 Prozent der Wahlberechtigen ihre Stimme abgegeben. Können wir das einfach hinnehmen?

Nein. Es darf Demokraten nicht kaltlassen, wenn so viele Bürger von dem stolzen Recht, über ihre Regierung zu bestimmen, keinen Gebrauch machen. Aber nur den moralischen Zeigefinger zu erheben, bringt uns da kaum weiter. Wir dürfen nicht lockerlassen, wir müssen wieder mehr hingehen und jeden und jede fragen: Warum gehst du nicht wählen?

Wie steht es um die Demokratie im Land?

Mein Befund: In den zwei Jahren Pandemie gab es nicht nur weniger Veranstaltungen, die Menschen sind auch viel weniger mit der Familie, mit Kollegen oder Freunden ins Gespräch gekommen. Auseinandersetzungen, die es in der Demokratie immer geben muss, sind weniger, aber zugleich schärfer und unversöhnlicher geworden. Ja, ich verstehe die Belastungen, die Pandemie und Krieg ausgelöst haben. Aber es bringt nichts, die eigene Verunsicherung hinter einer vermeintlich starken Meinung zu verstecken. Wenn das alle machen, verschanzen wir uns und kommen nicht mehr in das notwendige Gespräch. Diese wachsende Entfremdung, nicht nur zwischen Politikern und Bürgern, auch zwischen Großstadt und Land, die will ich nicht hinnehmen.

Wen können Sie überhaupt erreichen?

Ich weiß, dass ich Menschen, die völlig festgefahren sind, mit einem Besuch vor Ort wie hier in Rottweil nicht bekehre. Aber zahlreiche Leute können wir mit Zuhören eben doch erreichen. Gerade auf dem Land haben viele das Gefühl, dass es in der politischen Debatte um Großstadtprobleme wie autofreie Zonen geht, während sie für Schule, Weg zur Arbeit und Einkaufen eher zwei Familienautos brauchen.

Unter den heutigen Putin-Verstehern sind viele Corona-Leugner. Das ist kein Zufall, oder?

Es gibt zumindest eine Gruppe, die zunehmend gegen den Staat ist, seine Institutionen und Repräsentanten mehr und mehr ablehnt. Der Grund für die Distanz scheint mir austauschbar. Mal ist das die Pandemie, mal das Verhältnis zu Russland. Das geht dann so weiter. Der Kampf gegen den Klimawandel, der ja auch die persönliche Lebensführung betrifft, birgt die Gefahr, zum nächsten Schauplatz der unversöhnlichen Auseinandersetzung zu werden.

Sie beschreiben düstere Aussichten.

Im Gegenteil. Ich rufe das ganze Land auf, das nicht gleichgültig hinzunehmen, sich zu engagieren. Nur so können wir Konflikte lösen. Demokratie ist nie ein fertiges Projekt.

US-Präsident John F. Kennedy hat mal gesagt: Frag nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst. Wäre es jetzt in Zeiten des bedrohten Friedens nicht an der Zeit, die Wehrpflicht wieder einzuführen?

Ich war für die Wehrpflicht, solange es sie gab. Sie ist ausgesetzt worden, wir haben jetzt eine Bundeswehr mit ganz anderen Strukturen. Ich rate davon ab, die alte Debatte über die Wehrpflicht neu aufzulegen. Was wir aber gerade erleben, ist ein wachsendes Verständnis dafür, dass sich Menschen eine gewisse Zeit für die Gemeinschaft einsetzen, dass sie sich engagieren. Politik sollte das aufnehmen. Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird, aber ich wünsche mir, dass wir eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit führen.

Wie könnte die aussehen?

Das sollte ja Gegenstand der Debatte sein. Ich habe auch bewusst Pflichtzeit gesagt, denn es muss kein Jahr sein. Da kann man auch einen anderen Zeitraum wählen. Es geht um die Frage, ob es unserem Land nicht guttun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen.

Aber nicht bei der Bundeswehr?

Auch bei der Bundeswehr. Aber die soziale Pflichtzeit könnte meiner Meinung nach genauso bei der Betreuung von Senioren, in Behinderteneinrichtungen oder in Obdachlosenunterkünften geleistet werden. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein. Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen. Das baut Vorurteile ab und stärkt den Gemeinsinn.

Die Fragen stellten: Angelika Hellemann und Alexandra Würzbach