Interview mit dem ZDF-Morgenmagazin

Schwerpunktthema: Interview

5. April 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem ZDF-Morgenmagazin am 5. April ein Interview gegeben, das vom Willkommenszelt für Ukraine-Flüchtlinge am Berliner Hauptbahnhof live gesendet wurde. Darin sagt er: "Wir sind gescheitert mit dem Bemühen, Russland einzubinden in eine europäische Sicherheitsarchitektur, wir sind gescheitert mit dem Bemühen der Charta von Paris, auch Russland mitzunehmen auf dem Weg Richtung Demokratie und Menschenrechte. Das ist eine bittere Bilanz, vor der wir stehen."


Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem ZDF-Morgenmagazin am 5. April ein Interview gegeben, das vom Willkommenszelt für Ukraine-Flüchtlinge am Berliner Hauptbahnhof live gesendet wurde:

Viele Menschen kommen, wenn sie vor dem Angriffskrieg von Putin flüchten, erst einmal hier in Deutschland, in Berlin am Hauptbahnhof an, und hier wird wirklich Enormes geleistet, vor allen Dingen von den ganzen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Denn nachdem die Menschen im Hauptbahnhof angekommen sind, kommen sie dann erst einmal – hinter mir sehen Sie es auch – in der Willkommenshalle an. Dort gibt es dann etwas zu essen, etwas zu trinken, erste Informationen, es gibt auch eine Spielecke für Kinder, die dort erstmal zur Ruhe kommen können, und vieles, vieles mehr. Bereits Mitte März war auch er am Hauptbahnhof, um sich ein Bild von der Situation zu machen; vor allen Dingen natürlich auch, um mit Menschen zu sprechen, die vor dem Krieg geflohen sind, aber sich auch das anzugucken, was ich gerade schon geschildert habe, nämlich die enorme Leistung und Hilfsbereitschaft der Ehrenamtlichen. Und damit einen schönen guten Morgen, Herr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Guten Morgen.

Mitte März waren Sie hier, haben sich das angeguckt, sicherlich wie wir alle auch beeindruckt von der großartigen Hilfe. Heute sind Sie wiedergekommen – welches Zeichen wollen Sie damit setzen?

Wir sind hier an einem Ort, der für diejenigen, die hier ankommen, ein sicherer Hafen ist, das Licht am Ende eines langen Tunnels. Ich habe hier in Berlin hundert Waisenkinder begrüßen können in einer jüdischen Einrichtung, die waren 60 Stunden lang mit dem Bus unterwegs, über Moldawien, Rumänien, Ungarn, Österreich, bis sie hier in Berlin ankamen. Bei meinem letzten Besuch hier in der Willkommenshalle habe ich mit Frauen und ihren Kindern gesprochen, die anderthalb Tage gebraucht haben, um aus Kiew herauszukommen, dann irgendwann einen Zug gefunden haben, der Sie über Polen nach Berlin gebracht hat. Ich glaube, es ist ganz mühelos, sich vorzustellen: Die Menschen, die hier ankommen, sind noch voller Angst über das, was sie in Kiew und anderen Orten in der Ukraine erlebt haben; Bombenalarm in der Nacht, sie sind in Angst um ihre Männer, die dableiben mussten; sie kommen entkräftet an, und deshalb ist das ein Ort, an dem sich zunächst einmal Erleichterung breitmacht bei den allermeisten. Und dass wir diesen sicheren Hafen gewähren können, das ist gut.

Wir sind alle beeindruckt von der ehrenamtlichen Hilfe, von der Willkommenskultur. Die aufrechtzuerhalten, das wird auch eine Aufgabe sein, denn wir haben die Gräueltaten gesehen, die Russland – mutmaßlicher Weise, noch ist das alles nicht bestätigt – jetzt wieder begangen hat in der Ukraine. Also, wir werden noch viele Menschen sehen, die das Land verlassen werden, auch darüber möchte ich gleich noch mit Ihnen sprechen, auch über Ihr Eingeständnis der Fehler in Bezug auf Russland.

[Film-Einspieler]

Herr Bundespräsident, Sie haben die Kritik gehört, die haben wir heute früh – wir haben schon mit vielen ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen auch gesprochen – dort wurde sie noch mal verstärkt: Ruht sich das Land, die Kommunen, der Senat in Berlin, der Bund zu sehr auf der Hilfsbereitschaft der Ehrenamtlichen aus?

Nein, das glaube ich nicht. Sehen Sie in dem Zelt hinter uns – das Willkommenszelt wird von der Stadtmission in Berlin unterhalten – viele Freiwillige, die sich gemeldet haben, am Anfang 100 pro Tag; unten an den Gleisen gibt es ein freiwilliges Helfernetzwerk, die die Anreisenden in Empfang nehmen; es gibt eine unglaubliche Hilfsbereitschaft im ganzen Land, und wir dürfen nicht verkennen: Es sind pro Tag zwischen 5.000 und 10.000 Menschen, die hier ankommen – inzwischen in einem Verteilzentrum in Tegel –, auch auf andere Bundesländer dort weiter verteilt werden. Aber Sie müssen auch sehen: Viele kommen an, wollen zunächst einmal zusammenbleiben, weil sie in Gruppen geflüchtet sind, viele wollen in die größeren Städte, weil sie mit der sehr kurzfristigen Perspektive kommen, auch bald wieder zurückzugehen, und wir schöpfen, glaube ich, die Aufnahmebereitschaft in vielen Bundesländern zurzeit noch gar nicht richtiggehend aus. Es gibt diese Hilfsbereitschaft, und wir dürfen vor allen Dingen die aufnehmenden Kommunen mit ihren Aufgaben nicht alleine lassen.

Aber die Lastenteilung, genau das ist ja der große Kritikpunkt, man kann ja die Menschen natürlich verstehen, die sagen, wir wollen nah an der Grenze bleiben, weil, eigentlich wollen wir gern wieder nach Hause, wir bleiben lieber erstmal in Berlin, weil, so ländliche Regionen sind jetzt nichts für uns. Wir hören von Bussen, die irgendwo hinfahren, wo die Menschen aber an der Raststätte aussteigen, um sich dann wieder in irgendeiner Weise zurück nach Berlin zu bewegen. Also, wie soll das funktionieren, auch auf europäischer Ebene?

Genau darüber habe ich auch mit hier ankommenden Flüchtlingen hier in diesem Willkommenszelt gesprochen vor drei Wochen, und viele haben mir gesagt: Wir kennen Berlin, wir kennen Köln, aber die Orte, in die die Busse fahren im Übrigen, die kennen wir nicht, und deshalb gehen wir da lieber nicht hin. Das zeigt ein bisschen die Schwierigkeit bei der Verteilung. Das ist keine Entschuldigung; das ist besser geworden inzwischen. Und wenn sie auf die Verteilung in Europa zu sprechen kommen: Ich glaube, wir haben allen Anlass, zunächst mal unseren großen Dank, unseren großen Respekt für Polen z.B. zum Ausdruck zu bringen, wo 2,5 Millionen Flüchtlinge inzwischen Schutz und Unterkunft gefunden haben. Dasselbe gilt für Moldawien, ein kleines, das ärmste Land in Europa, die sehr, sehr viele Flüchtlinge aufgenommen haben; einige wenige sind inzwischen auch in Deutschland aus Moldawien angekommen. Aber viele andere Länder in Europa halten sich noch zurück, und deshalb, glaube ich, muss noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Und so richtig die Forderung danach ist, dass wir uns gegenseitig in die Pflicht nehmen müssen, auch über Quoten reden müssen, ich glaube, jetzt kommt es darauf an, dass alle europäischen Länder sich selbst in der Verantwortung sehen.

Herr Bundespräsident, das Amt ist natürlich überparteilich, und doch hat Sie Ihre – sagen wir mal: die Zeit als Außenminister, aber auch als Kanzleramtschef unter Merkel und dann Schröder bzw. andersrum, jetzt eingeholt. Sie haben sich gestern bereits erklärt, Sie haben Fehler auch eingestanden, insbesondere am Festhalten von Nord Stream 2. Haben Sie sich als Kanzleramtschef und auch als Außenminister vom russischen Diktator blenden lassen?

Nein, mit Sicherheit nicht. Ich habe auch gesagt am gestrigen Tag: Wir müssen unterscheiden zwischen dem Putin, der 2001 im Deutschen Bundestag geredet hat, der den Eindruck erweckt hat, es gäbe hier die Chance für einen gemeinsamen Weg zu Demokratie, Freiheit und zur Beachtung von Menschenrechten, und dem eingebunkerten Kriegstreiber Putin des Jahres 2022. Auf der Strecke in diesen zwanzig Jahren ist etwas passiert, worüber wir länger nachdenken müssen. Das wirklich Traurige ist, dass wir in vielen Punkten gescheitert sind. Wir sind gescheitert mit dem Bemühen der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses – die große Vision von Gorbatschow –, wir sind gescheitert mit dem Bemühen, Russland einzubinden in eine europäische Sicherheitsarchitektur, wir sind gescheitert mit dem Bemühen der Charta von Paris, auch Russland mitzunehmen auf dem Weg Richtung Demokratie und Menschenrechte. Das ist eine bittere Bilanz, vor der wir stehen, und zu dieser bitteren Bilanz gehört auch die Fehleinschätzung, dass wir – und auch ich – gedacht haben, dass auch ein Putin des Jahres 2022 am Ende nicht den totalen politischen, wirtschaftlichen, moralischen Ruin des Landes hinnehmen würde für seine imperialen Träume oder seinen imperialen Wahn.

Herr Bundespräsident, hinterher ist man immer schlauer, aber wenn Sie schon die letzten zwanzig Jahre ansprechen: Da gab es Tschetschenien, da gab es Georgien, es gab das Beseitigen, so will ich es mal nennen, von Oppositionellen und der Opposition, es gab die Invasion, den Krieg auf der Krim, wir haben Giftgas in Syrien gesehen und vieles, vieles mehr. Und Sie haben gestern selber gesagt: Wir haben die Warnungen von Partnern ignoriert. Wie kann das sein?

Wir haben uns gerade nach 2014, noch vor der Annektion der Krim, auch ich persönlich, intensiv eingesetzt. Ich war damals in Kiew, um das Morden auf den Straßen in Kiew zu beenden, zusammen mit dem französischen und dem polnischen Außenminister. Meine ganze zweite Amtszeit als Außenminister ist durch die Ukraine und das Engagement für die Ukraine geprägt. Aber wir haben es auch mit unseren Unterstützungen etwa bei den Verabredungen im Abkommen von Minsk nicht geschafft, die Entwicklung aufzuhalten, die jetzt inzwischen eingetreten ist und sich in diesem Krieg entladen hat.

Sie haben ja selber gesagt, es gab Warnungen...

Es gab unterschiedliche Einschätzungen. Und die Warnungen, das ist wahr, von unseren osteuropäischen Partnern hätten wir ernster nehmen müssen, insbesondere was die Zeit nach 2014 anging und den Ausbau der Nord Stream 2 Pipeline. Richtig ist, dass die Planungen zwar alle vor 2014 stattgefunden haben, aber die Realisierungsphase fiel in die Jahre nach 2014, und deshalb war das Festhalten, so habe ich gestern gesagt, sicherlich ein Fehler. Auch deshalb, weil es am Ende nicht nur ein milliardenschweres Projekt vernichtet hat, sondern weil es uns viel Kredit und Glaubwürdigkeit bei unseren osteuropäischen Partnern gekostet hat.

Sie haben das europäische Haus angesprochen gerade: Wie sehen Sie die Zukunft? Kann es jetzt noch mit oder nur noch gegen Putins Russland eine Zukunft geben?

Was Russland angeht, muss ich Ihnen sagen, weiß ich es nicht. Ich bin sicher, es wird in dem Russland unter Putin keine Rückkehr zur Normalität, zum Status quo ante geben.

Klare Aussage, klare Ansage. Vielen Dank, Herr Bundespräsident, auch für Ihre Zeit, und alles Gute.

Danke.

Die Fragen stellte: Dunja Hayali