Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der türkischen Tageszeitung Hürriyet ein Interview gegeben, das am 5. Oktober 2021 in der Europa-Ausgabe (in Teilen in der Türkei-Ausgabe) erschienen ist.
Vor 60 Jahren wurde zwischen der Türkei und Bundesrepublik Deutschland das Anwerbeabkommen abgeschlossen. Wie würden Sie diese 60 Jahre rückblickend bewerten?
60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei sind für uns in Deutschland Anlass, ganz besonders die Menschen der ersten Generation zu würdigen. Diese erste Generation hat großen Anteil am Aufbau unseres Landes und seinem wirtschaftlichen Erfolg. Diese Menschen kamen, weil wir sie eingeladen haben. Weil wir sie brauchten. Wir verdank ihnen viel. Unser Land ist mit ihrer Hilfe wirtschaftlich stärker und wohlhabender geworden, als Gesellschaft offener und vielfältiger. Deutschland ist ein Einwanderungsland, und weil wir ein starkes und wohlhabendes Land bleiben wollen, ist Einwanderung auch weiterhin notwendig.
Die Menschen aus der Türkei haben auch die Beziehungen zwischen unseren Ländern geprägt. Deutschland und die Türkei sind heute durch eine einzigartige Beziehung miteinander verbunden. Benzersiz bir iliski
, eine einzigartige Beziehung: In dieser Beschreibung hat Positives ebenso Platz wie Probleme und Herausforderungen.
Wie wurden damals die Familien aufgenommen, und gab es Ihres Erachtens eine Willkommenskultur?
Da gab es Licht und Schatten. Am Anfang, das darf man nicht beschönigen, sind viele angeworbenen Arbeitskräfte geringgeschätzt oder sogar herabwürdigend behandelt worden, stießen auf Misstrauen bei Kollegen und Nachbarn. Die Geschichten, die wir jetzt im Jubiläumsjahr noch einmal hören, zerreißen einem das Herz. Aber es gab seit Beginn auch Hilfe, Unterstützung und Solidarität, zum Beispiel durch die Gewerkschaften und in den Betrieben. Ich weiß aus Gesprächen mit Menschen der ersten Generation, dass viele deutsche Nachbarn oder Kollegen ihnen geholfen haben. Auch auf längere Sicht haben wir gesehen: Der Respekt voreinander und die Neugier an einer anderen Kultur hat auf beiden Seiten dazu beigetragen, Vorbehalte oder gar Ängste zu überwinden. Die Bereitschaft, engstirnigen Nationalismus und kulturellen Hochmut hinter sich zu lassen, auf andere zuzugehen, sich aufeinander einzulassen, voneinander zu lernen sind die besten Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander.
Wurden die Gastarbeiter und ihre Kinder, die in Deutschland geboren sind, vernachlässigt? Und welche Gründe sehen Sie dafür, dass die Integration der Gastarbeiter lange nicht gut funktioniert hat?
Integration stand lange Zeit nicht im Mittelpunkt. Man ging davon aus, dass die Menschen nach zwei, drei Jahren wieder in ihr Herkunftsland zurückgehen würden. Es fehlte an Sprachkursen, an Unterstützungsangeboten. Es gab keine echte Integrationspolitik und damit auch keine wirkliche Integration. Viele Menschen aus der Türkei blieben viel zu lange am Rande der deutschen Gesellschaft. Es hat zu lange gedauert, bis die Politik und die Gesellschaft erkannt haben: Die sogenannten Gastarbeiter waren weder Gäste, noch nur Arbeitskräfte. Heute sind die Menschen, die damals kamen, mit ihren Kindern, Enkeln und Großenkeln ein Teil Deutschlands geworden.
Glauben Sie, dass das Integrationsproblem von Menschen mit türkischen Wurzeln immer noch besteht? Wenn ja, wo liegt das Integrationsdefizit?
Bürgerinnen und Bürger mit türkischen Wurzeln sind heute Teil der deutschen Gesellschaft, Teil einer aktiven Bürgerschaft. Gemeinsam gestalten wir die Zukunft unseres Landes. Einwanderer, ihre Kinder und Enkel arbeiten heute in Fabriken genauso wie in Forschungseinrichtungen, als Künstlerinnen und Musiker, als Unternehmerinnen oder leisten als Impfstoffentwickler den entscheidenden Beitrag zum Kampf gegen die Corona-Pandemie – und zwar weltweit. Sie sind Richterinnen und Staatsanwälte, stehen als Abgeordnete, Staatssekretärinnen oder Minister an führenden Stellen für unseren Rechtsstaat, für unsere Freiheit und unsere Demokratie ein. Das zeugt nicht nur von den Möglichkeiten, die den Menschen offenstehen, sondern ist zugleich eine ungemeine Bereicherung für die Gesellschaft.
Aber wir können und müssen noch besser werden, um gleiche Chancen auf sozialen Aufstieg zu erreichen. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund verlassen fünfmal häufiger die Schule ohne Abschluss als ihre Klassenkameradinnen und -kameraden ohne Migrationshintergrund. Wenn 60 Jahre nach der Unterschrift auf dem Anwerbeabkommen die Unterschiede zwischen den Lebenschancen geblieben sind, dann steht auch unser Staat in der Pflicht, die Versäumnisse der Vergangenheit zu korrigieren.
Deutschland hat lange Zeit nicht akzeptiert, dass es ein Einwanderungsland ist. Glauben Sie, dass Deutschland dadurch etwas verloren hat?
Unser Land hat sich durch die Einwanderung verändert, und damit verändert sich auch die Bedeutung des Begriffes deutsch
. Deutsch zu sein, das kann heute genauso bedeuten, dass die Großeltern aus Köln oder Königsberg stammen wie aus Istanbul oder Diyarbakır. Deutsch zu sein, das meint alle, die in unserem Land auf Dauer friedlich zusammenleben wollen. Wir sollten nicht länger auf einzelne Menschen mit Migrationshintergrund
zeigen. Denn wir sind ein Land mit Migrationshintergrund.
Sie sagten, dass die Kinder von bosnischen und türkischen Familien nicht nur Hilfsarbeiter und Pförtner, sondern auch Leiter der staatlichen Institutionen werden sollten. Wie weit ist dies gelungen? Wo sehen Sie in 60 Jahren Deutschland-Türken?
Wenn wir heute in den Medien, in den Parlamenten, an den Hochschulen und in den Führungsetagen der Wirtschaft mehr und mehr Leistungsträger, Frauen und Männer, sehen, deren Familien aus der Türkei oder anderen Ländern stammen, dann hat das Vorbildcharakter. Es ermutigt die jungen Leute und zeigt ihnen: Dies kann auch ihr Weg sein. Viele Familien wollten und wollen ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen, haben das Versprechen vom sozialen Aufstieg durch Arbeit und Bildung ernst genommen. Kinder und Enkelkinder der ersten Generation haben eine gute Berufsausbildung oder ein Studium abgeschlossen. Sie sind Wege gegangen, auf die sie zu Recht stolz sind. Diese Erfolge sollen noch normaler werden, sollen noch breiter in allen sozialen Schichten Wirklichkeit werden. Ich wünsche mir, dass bald jede und jeder in unserem Land die Chance haben wird, ihre und seine Ziele zu verwirklichen.
Sie haben die Gründer von Biontech, Professorin Özlem Türeci und Professor Uğur Şahin, das Bundesverdienstkreuz verliehen. Was waren Ihre Gefühle bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes? Haben Sie die Gelegenheit gehabt, Sie kennenzulernen?
Die Leistung dieser beiden deutschen Wissenschaftler bewundere ich. Ihr Impfstoff hilft, auf der gesamten Welt Menschenleben zu retten. Als deutscher Bundespräsident bin ich natürlich auch stolz darauf, sie in unserer Mitte zu wissen. Die beiden sind ein wunderbares Beispiel dafür, was sich seit den Anfängen des Anwerbeabkommens alles getan hat, welche Möglichkeiten den Menschen in Deutschland offenstehen. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, diese beiden herausragenden Wissenschaftler und beeindruckenden Menschen mit dem Bundesverdienstorden ehren zu können.
Was erwartet die Beziehungen der Türkei und Deutschland in der Zukunft? Wie werden sich Ihrer Meinung nach die Beziehungen auf lange Sicht entwickeln? In welchen Bereichen kann Deutschland trotz Meinungsverschiedenheiten positive Beziehungen zur Türkei aufbauen?
Die Türkei ist uns nicht nur durch die menschlichen Bande auf einzigartige Weise verbunden. Sie ist auch durch Größe, geographische Lage und politisches Gewicht ein Partner von strategischer Bedeutung für Deutschland. Wir sind Bündnispartner in der NATO. Wir haben vor fünfzehn Jahren die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union beschlossen. Dieser Weg ist schwieriger und gewundener als wir es uns wohl beide gewünscht hätten. Viele Entwicklungen in der Türkei haben uns in den vergangenen Jahren mit Sorge erfüllt. Aber klar ist: Uns in Deutschland kann es nie gleichgültig sein, wie es in und mit der Türkei weitergeht. Das gilt natürlich auch in umgekehrter Richtung. In vielen Bereichen ist die konkrete Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern in unserem gemeinsamen Interesse – etwa beim Umgang mit Flüchtlingen und Migranten, oder bei der Frage, wie wir auf die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan reagieren.
Sie waren als junger Student in der Türkei. Was für ein Türkeibild hatten Sie damals und mit welchen Eindrücken kamen Sie zurück?
Die Türkei war schon damals ein faszinierendes Land. Auch die besondere Freundlichkeit und Gastfreundschaft, die man als Deutscher genießt, haben großen Eindruck auf mich gemacht. Ich habe mir damals vorgenommen, oft zurückzukehren – und das ist mir zum Glück auch gelungen.
Sie sind auch später häufig in der Türkei gewesen. Wie hat sich die Türkei verändert?
Natürlich ist die Türkei heute sehr viel moderner. Sie hat sich schneller und weiter entwickelt als viele Deutsche es bis heute wahrnehmen. Zugleich beobachte ich in der Türkei eine wachsende Polarisierung der Gesellschaft, wie wir sie auch in manchen Gesellschaften in der Europäischen Union sehen. Eine Polarisierung, in der der Andersdenkende immer stärker als Feind attackiert wird. Das tut der Demokratie nicht gut.
Wie sehr schaden rechtspopulistische und rechtsextremistische Tendenzen in einigen EU-Ländern?
Mich erschüttert es, wenn Menschen mit anderer Hautfarbe, Sprache oder Religion zur Zielscheibe von Hass und Hetze werden, wenn sie angefeindet werden, im Netz oder auf der Straße. Die Opfer der niederträchtigen Morde des NSU, die Toten in Mölln, Solingen und Hanau sind Opfer eines Hasses, der mitten in Deutschland, mitten in unserer Gesellschaft seine Wurzeln hat. Die Gewalt geht dabei von einer extremistischen Minderheit aus, aber gerade deshalb müssen wir sie mit aller Kraft bekämpfen, denn sie darf unser Land nicht vergiften. Ebenso machen uns extremistische Tendenzen auch in der Türkei Sorgen. Es gibt gegenüber Europa und den Europäern mitunter eine hasserfüllte Sprache, die zu nichts Gutem führt und mit der Wirklichkeit unserer Partnerschaft nichts zu tun hat. Fremdenhass ist Menschenhass. Und diesen Hass dürfen wir nicht dulden.
Die Fragen stellte: Ahmet Külahci.