Interview mit der Tageszeitung Dagens Nyheter

Schwerpunktthema: Interview

7. September 2021

Bundespräsident Steinmeier hat der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter ein Interview gegeben, das am 7. September, dem ersten Tag des Staatsbesuchs in Schweden, erschienen ist: "Schweden und Deutschland sind lebendige Demokratien mit einer langen industriellen Tradition. Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir als Partner in Europa gemeinsame Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit finden werden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Arbeitszimmer (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter ein Interview gegeben, das am 7. September, dem ersten Tag des Staatsbesuchs in Schweden, erschienen ist.

Die Corona-Pandemie führte zu Reisebeschränkungen und zur Einführung von Grenzkontrollen zwischen unseren beiden Ländern. Wie hat sich das auf die deutsch-schwedischen Beziehungen ausgewirkt?

Corona hat unsere Gesellschaften, die Politik und unsere Regierungen auf eine harte Probe gestellt. Wir alle haben uns Einschränkungen auferlegen müssen, die uns wehgetan haben. Die Schließung der Grenzen innerhalb der Europäischen Union waren dabei besonders schmerzhaft. Das hatte zum Teil dramatische Konsequenzen für Pendler, Familien auf beiden Seiten der Grenze und für Reisende. Die geschlossenen Grenzen hatten eine besondere Symbolik. Von einem auf den anderen Tag waren wir in Europa wieder getrennt. Das hat bei uns allen Spuren hinterlassen.

Zwei Dinge haben mir dabei dennoch Hoffnung gemacht: Uns allen ist der praktische Wert der Europäischen Integration und der offenen Grenzen in dieser Zeit noch einmal sehr bewusst geworden. Und die EU-Mitgliedstaaten haben zu einem neuen Miteinander gefunden: Die Beschränkungen wurden wieder aufgehoben, sobald es die Pandemielage zuließ. Und alle 27 waren solidarisch bei der Impfstoffbeschaffung, und wir konnten eine wirtschaftliche Erholung organisieren, die in der Welt ihresgleichen sucht.

Was ist Ihrer Meinung nach das wichtigste Thema für eine zukünftige schwedisch-deutsche Zusammenarbeit?

Schwerpunkt meiner Reise ist die enge und sehr dynamische deutsch-schwedische Zusammenarbeit bei entscheidenden Zukunftsfragen: von der emissionsfreien Mobilität über die Digitalisierung im Gesundheitswesen, vom nachhaltigen Wirtschaften und Bauen bis zur Zukunft der Raumfahrt – hier arbeiten Schweden und Deutsche heute gemeinsam an Lösungen für die Zukunft. Schweden und Deutschland sind lebendige Demokratien mit einer langen industriellen Tradition. Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir als Partner in Europa gemeinsame Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit finden werden.

Sie sind seit viereinhalb Jahren im Amt und haben sich dafür eingesetzt, die Demokratie zu stärken und der Polarisierung entgegenzuwirken. Welche Bilanz ziehen Sie? An welchen Beispielen können Sie konkrete Verbesserungen der deutschen Demokratie feststellen?

Die Demokratie steht unter Druck – nicht nur in Deutschland. Ideen und Institutionen der liberalen Demokratie werden heute mit besonderer Härte und Vehemenz angegriffen: von innen und von außen. Als Demokraten stehen wir vor denselben Herausforderungen und müssen uns bewusst machen, dass Freiheit und Rechtsstaat hart erkämpft werden mussten und niemals selbstverständlich sind – weder in Berlin noch in Stockholm. Unsere Demokratien brauchen den engagierten Einsatz für die Bürgerrechte und für die Geltung demokratischer Verfahren bei Wahlen und in Parlamenten; sie brauchen das Werben um Vertrauen in staatliche Institutionen und die Unabhängigkeit der Gerichte. Die Demokratie braucht den Streit in der Sache, das Ringen um das bessere Argument, nicht den emotionalisierten Wettstreit am öffentlichen Pranger.

Ich bleibe aber zuversichtlich, denn die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland steht hinter unserer Demokratie. Und auch der Rechtsstaat ist inzwischen besser gewappnet: Gewaltaufrufe im Internet zum Beispiel werden nun systematischer erfasst und geahndet. Bei meinen Gesprächen in Schweden interessiert mich, auch von Ihren Erfahrungen zu hören. Ich nehme sehr gerne gute Beispiele und Anregungen zurück mit nach Deutschland.

Soziale Medien, Fake News und Filterblasen sind heutzutage ein fester Bestandteil der öffentlichen Debatte, sowohl in Deutschland als auch in Schweden. Was ist Ihr Rezept, Menschen mit grundverschiedenen Meinungen und Weltanschauungen miteinander ins Gespräch zu bringen und eine gegenseitige Akzeptanz zu schaffen?

Der öffentliche Diskurs hat sich durch die sozialen Medien grundlegend verändert. Vieles ist intensiver, schneller, direkter und emotionaler geworden. Milieus und Gruppen bleiben unter sich, sie bestärken sich in ihrer Ablehnung und auch in ihrer Wut, anstatt sich gegenseitig zu hinterfragen. Es fehlt das direkte Gespräch, auch mit Andersdenkenden. Dabei hat uns gerade die Pandemie noch einmal gezeigt: Nichts kann die persönliche Begegnung wirklich ersetzen. In meiner Amtszeit habe ich daher immer wieder vor allem das unmittelbare Gespräch gesucht, Menschen aus ganz Deutschland an einen Tisch gebracht. Damit wollte ich auch andere dazu aufrufen: Denn die Offenheit und Bereitschaft, andere Lebenserfahrungen und Argumente zu hören, wächst, wenn wir uns gegenübersitzen.

Schweden hatte zuletzt – genau wie Deutschland im Jahr 2017 – Schwierigkeiten, Regierungskoalitionen zu bilden. Die letzten Sondierungsverhandlungen dauerten in Deutschland sechs Monate, in Schweden über vier. Sehen Sie in solch langen Sondierungsprozeduren den Glauben an die parlamentarische Demokratie in Gefahr?

Die bloße Dauer von Koalitionsverhandlungen besorgt mich nicht so sehr. Denn dort, wo vier oder fünf Parteien verschiedene Koalitionsmöglichkeiten auszuloten haben, werden die Gespräche komplizierter und brauchen Zeit.

Ein ernstes Problem wird es aber, wenn Zuspitzung und Kompromisslosigkeit die Verhandlungen bestimmen, wenn sich der Wahlkampf nach der Wahl fortsetzt. In der parlamentarischen Demokratie sind wir darauf angewiesen, dass die Parteien, die sich in Wahlen um Verantwortung bewerben, auch nach den Wahlen bereit sind, Verantwortung in einer Regierungskoalition zu übernehmen. Das geht nur mit Kompromissen in der Sache. In Schweden haben Sie das Instrument von Minderheitsregierungen. Diese Erfahrung hat die Bundesrepublik noch nicht gemacht.

Wie kann man eine politikverdrossene Person, die den Glauben an die demokratischen Prinzipien verloren hat, zurückgewinnen? Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Es ist schwer, tiefsitzende Vorurteile zu durchbrechen. Daher muss es vor allem darum gehen, die Zweifelnden und Unsicheren zu erreichen und zu überzeugen. Meiner Beobachtung nach sind die meisten von ihnen guten Argumenten zugänglich, sie warten sogar darauf. Politikverdrossenheit äußert sich oft in sehr pauschalen Vorwürfen. Auch mich erreichen zahlreiche solcher Briefe und E-Mails. Und dabei habe ich die Erfahrung gemacht: Die direkte Rückfrage, um welches konkrete Problem es eigentlich geht, löst beim Absender etwas aus. Durch diese Reaktion fühlt er oder sie sich geschätzt und wahrgenommen. Wenn wir beginnen, politisch zur Sache zu reden, öffnet sich die Tür für Argument und Gegenargument. Dafür bietet mein Amt viele Möglichkeiten, die ich versuche, so oft es geht zu nutzen. Wenn wir die Unentschlossenen überzeugen können, bleiben die wirklichen Feinde der Demokratie eine kleine Minderheit.

Die Rolle des deutschen Bundespräsidenten wird häufig mit einer moralischen Institution verglichen. Warum braucht eine moderne Gesellschaft eine Art moralisches Über-Ich?

In einer modernen Gesellschaft wollen die Menschen selbst denken und urteilen. Moralpredigten von oben sind nicht gefragt. Und ich finde, das ist ein Fortschritt. Trotzdem braucht eine Gesellschaft Orientierungspunkte, vor allem in einer Zeit, in der sich vieles sehr schnell verändert. Der Bundespräsident muss die hören, die sonst weniger gehört werden. Er sollte die Menschen zusammenbringen, gerade in schwierigen Fragen. Er kann jenseits des politischen Streits Orientierung bieten. Gerade in Zeiten starker Polarisierung muss er die Person sein, hinter der sich Menschen unterschiedlicher Meinung und sozialer Herkunft versammeln können.

Die Fragen stellte: Lina Lund