Interview des Bundespräsidenten mit der tschechischen Tageszeitung Právo, das am 25. August, dem ersten Tag der Reise des Bundespräsidenten in die Tschechischen Republik, erschienen ist.
Herr Bundespräsident, gestatten Sie mir bitte zu Beginn eine persönliche Frage. Ich habe Sie bereits 2009 interviewt, damals noch als Außenminister und Vizekanzler. Seitdem hat sich die Welt, aber auch Europa, Deutschland und Tschechien grundlegend verändert. Welches Ereignis ist Ihnen am meisten im Gedächtnis geblieben – gesellschaftlich und privat?
Wenn Sie nach einem einzelnen Ereignis fragen, dann ist es die Corona-Pandemie, die uns seit achtzehn Monaten heimsucht, die uns allen das Leben schwer macht und unseren Blick auf die Welt verändert. Ohne Pandemie wäre ich auch schon längst wieder in Tschechien gewesen. Umso mehr freue ich mich nun auf diesen ausführlichen Besuch – mein letzter liegt schon vier Jahre zurück.
Die Pandemie hat durch ihre Gleichzeitigkeit an fast allen Orten dieser Welt eine globale Aufmerksamkeit geschaffen. Mit unseren europäischen Antworten auf die Krise haben wir sicherlich nicht jede Prüfung in dieser Ausnahmesituation bestanden. Auch Tschechien und Deutschland waren zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark betroffen. Als die Grenzen zwischen unseren beiden Ländern geschlossen wurden, war es eine schwierige Situation – nicht nur für die Pendler, sondern für das gesamte Lebensgefühl in der Grenzregion. Die plötzlichen Hürden an den Grenzen haben uns schmerzhaft, aber sehr deutlich den Wert eines freien, offenen und starken Europa gezeigt. Wir haben in der Europäischen Union nach anfänglichen Schwierigkeiten auch enorme Solidarität erlebt und organisiert – mit den Impfstoffen genauso wie mit dem Wiederaufbauprogramm. Etwas Vergleichbares lässt sich kaum finden in der Welt. Ich wünschte nur, ich könnte sagen, wir hätten die Pandemie schon weltweit hinter uns gelassen. Das haben wir leider noch nicht.
Vor der Pandemie erlebte das Zusammenleben von Deutschen und Tschechen einen nie dagewesenen Aufschwung. Nicht nur auf höchster politischer Ebene, sondern auch beim gegenseitigen Kennenlernen von Familien, Schulen, Institutionen oder Kulturvereinen. Entspricht das Ihren Erfahrungen?
Ja, unbedingt. Uns ist zwischen Tschechien und Deutschland etwas ganz Besonderes gelungen. Eine wirklich gute Nachbarschaft, die ich mit meinem Besuch ausdrücklich würdigen und stärken will. Wir haben mit der Deutsch-Tschechischen Erklärung vor bald 25 Jahren nicht nur unsere Zukunft von der Bürde einer schwierigen Vergangenheit befreit. Sondern wir haben unserer Nachbarschaft einen institutionellen Rahmen gegeben, der bis heute die ganz konkrete Zusammenarbeit trägt und prägt – den Zukunftsfonds, das Gesprächsforum, das Jugendforum, später den Strategischen Dialog. Unsere Volkswirtschaften haben beide eine starke industrielle Basis, die sehr eng miteinander verflochten ist. Handel und Investitionen zwischen Tschechien und Deutschland haben sich extrem dynamisch entwickelt. Davon profitieren viele Menschen in beiden Ländern. Die Zahl der Pendlerinnen und Pendler ist auf heute etwa 50.000 gewachsen. Über 350.000 Menschen in Tschechien lernen in diesem Jahr Deutsch. Wir teilen mit über 800 Kilometern eine sehr lange gemeinsame Grenze. Wir sind enge Partner in EU und NATO. Ich habe mit vielen tschechischen Kollegen sehr eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Im vollen Bewusstsein unserer schwierigen Geschichte hat unsere gute Nachbarschaft heute ein festes Fundament und ist unabhängig von bestimmten politischen Konstellationen. Auch das ist eine wichtige Botschaft in diesem Herbst, in dem in unseren beiden Ländern gewählt wird. Wir sind uns heute in jeder Hinsicht nah. Besonders freue ich mich darauf, heute mit dem Zug von Berlin nach Prag zu reisen. Für mich ist es die erste, vermutlich die einzige Auslandsreise mit der Bahn.
Doch es gibt natürlich nicht nur Positives. Die guten deutsch-tschechischen Beziehungen wurden von zwei Kontroversen überschattet. 2016 versuchte die Bundesregierung die Tschechische Republik auf der Grundlage der EU-Flüchtlingsquoten zur Aufnahme von Flüchtlingen zu bewegen, ohne Rücksicht auf die Meinung der tschechischen Bevölkerung, führender tschechischer Politiker oder auf die Tatsache zu nehmen, dass Tschechien vor Ort Hilfe leistet – in den Ländern, aus denen man nach Europa flieht. Wie ist Ihre Erinnerung an diese Zeit?
Natürlich sind wir zwischen Berlin und Prag nicht immer in jeder Frage einer Meinung. Und wir haben natürlich auch unterschiedliche Prägungen und einen unterschiedlichen Blick auf die Welt. Aber in der Frage des Umgangs mit Flucht und Migration geht es um eine europäische Herausforderung, nicht um einen deutsch-tschechischen Konflikt. Die Diskussion um die Verteilung von Flüchtlingen wird im Übrigen ja nicht nur zwischen EU-Staaten, sondern auch innerhalb vieler Gesellschaften lebhaft geführt.
Wir tun als Europäische Union eine Menge, um die Fluchtursachen in vielen Ländern dieser Welt zu bekämpfen. Dennoch wird dies allein nicht ausreichen. Wir können nicht alle Menschen aufnehmen, die aus guten Gründen ein besseres Leben suchen. Aber wir müssen denen Zuflucht gewähren, die nach unseren selbstgesetzten Maßstäben Anspruch auf Schutz und Asyl haben. Das macht uns als Europäer aus. Und es wird weiterhin Krisen geben, die Menschen zur Flucht nach Europa bewegen, da reicht aktuell ein Blick nach Afghanistan. Damit müssen wir in Europa solidarisch umgehen und dürfen die Staaten mit einer EU-Außengrenze, gerade im Süden Europas, nicht allein lassen. Und vergessen wir nicht: Auch aus Deutschland und der früheren Tschechoslowakei mussten, in weniger guten Zeiten, viele Menschen flüchten, die anderswo aufgenommen wurden.
Eine weitere Kontroverse erleben wir gerade jetzt. Viele Tschechen befürchten, dass der auch von Deutschland forcierte europäische Klimazielplan eine generelle Verteuerung, den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit sowie den wirtschaftlichen Abschwung mit sich bringen wird. Fast alle tschechischen Ökonomen halten ihn für größenwahnsinnig, unüberlegt und realitätsfern. Wie ist Ihr Blick auf die europäische Klimapolitik?
Der menschengemachte Klimawandel lässt sich nicht mehr bestreiten. In diesem Sommer beherrschen verheerende extreme Wetterlagen seit Wochen die Schlagzeilen und die Bilder der Nachrichtensendungen. Zahllose Menschen sind auch in Europa davon betroffen. Das macht deutlich: Die Klimakrise ist kein deutsches, sondern ein globales Problem. Frans Timmermans hat für die EU-Kommission in diesem Sommer ein ambitioniertes Programm für den Kampf gegen den Klimawandel vorgestellt. Ich finde es richtig und wichtig, wenn Europa hier Maßstäbe setzt. Aber natürlich muss diese große Transformation so gestaltet werden, dass sie unsere Wirtschaftskraft erhält und unsere Gesellschaften nicht zerreißt. Das ist die Herausforderung, vor der Deutschland und Tschechien als eng verflochtene Volkswirtschaften mit einer starken industriellen Basis gemeinsam stehen. Deshalb wird sie sicher eins der Themen bei meinen Gesprächen in Prag sein.
Das Corona-Virus wurde zum unerwarteten und schmerzhaften Lackmustest für den Zustand der Gesellschaft. Was hat dieser Test in Bezug auf Deutschland gezeigt?
Die Pandemie und die harten Einschränkungen waren und sind eine beispiellose Belastungsprobe für jede moderne und offene Gesellschaft. Die Pandemie hat schwere Krankheit, großes Leid und den Tod vieler geliebter Menschen mit sich gebracht. Ganz besondere Anerkennung verdienen die großen Leistungen der Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte, die Leben gerettet haben, aber auch der unermüdliche Einsatz vieler Bürgerinnen und Bürger, die für andere da waren, für Ältere, für Kinder und Jugendliche, einfach für ihre Mitmenschen, die Hilfe brauchten.
Wir haben in der Pandemie etwas über die Stärke unserer Demokratie gelernt, über die Kraft der Wissenschaft, über funktionierende Hilfe und Solidarität. Zugleich traten aber auch die Schwachstellen bei der Krisenbewältigung offen zu Tage: Geschlossene Schulen, verwaiste Behörden und Büros waren der große Testfall für den Einsatz digitaler Technik. Dabei mussten wir leider feststellen: Deutschland war in mancher Hinsicht zu analog, zu langsam, zu umständlich.
Kurzum: Deutschland hat bei der Bewältigung der Pandemie nicht überall gut abgeschnitten. Aber bei der Impfstoffentwicklung und der Gesundheitsversorgung ist uns doch ganz Beachtliches gelungen. Und noch etwas: Weder ist die Wirtschaft stark eingebrochen noch ist die Arbeitslosigkeit zu stark angestiegen. Das gehört ebenfalls zur Erfolgsbilanz.
Sie haben sich noch vor der Bundeskanzlerin mit Astrazeneca impfen lassen. Warum?
Ich wollte das klare Signal senden: Man kann den in Europa zugelassenen Impfstoffen vertrauen. Deshalb habe ich mich um Ostern herum, als meine Altersgruppe an der Reihe war, mit Astrazeneca impfen lassen. Ich hoffe, das hat vielen anderen Mut gemacht. Die Impfkampagne in Deutschland ist jedenfalls gut vorangekommen, selbst wenn das Tempo zuletzt auch in Deutschland leider abgenommen hat. Deshalb werbe ich mehr denn je für die Impfung. Nur wenn die Impfkurve wieder steiler wird, können wir die Pandemie dauerhaft überwinden!
Sie haben die chaotischen Szenen auf dem Flughafen von Kabul nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan als eine Schande bezeichnet. Warum?
Ich habe von beschämenden Bildern gesprochen, weil sie Zeugnis einer menschlichen Tragödie sind, für die wir als Westen Mitverantwortung tragen. Deshalb ist es richtig, dass wir in diesen Tagen zunächst mit unseren internationalen Partnern alles daransetzen, um diejenigen, denen wir Schutz und Zuflucht schulden, in Sicherheit bringen. Ernüchternd sind die Bilder aber auch für alle, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren für ein besseres Leben der Menschen dort engagiert haben und dafür viel, oft sogar ihre Gesundheit und ihr Leben, eingesetzt haben. Das Scheitern unserer jahrelangen Anstrengungen, in Afghanistan ein stabiles, tragfähiges Gemeinwesen aufzubauen, wirft grundlegende Fragen für unser außenpolitisches und militärisches Engagement auf. Bittere Fragen, die wir nicht in erster Linie schnell, sondern ehrlich und gründlich beantworten müssen. Denn diese Ereignisse markieren über die erschütternden Bilder dieser Tage hinaus auch eine politische Zäsur, die die Welt verändern wird.
Sie gehören zu den Befürwortern von Nord Stream 2, einer Ostseepipeline, die Deutschland mit russischem Erdgas versorgen wird. Die USA, die Ukraine sowie Polen waren angesichts der künftigen energetischen Abhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland von Russland gegen die Pipeline. Doch die Bundesregierung hat ihren Willen durchgesetzt und der US-Präsident Joe Biden hat keine Einwände gegen den gefundenen Kompromiss mehr. Wie gefällt Ihnen ein solches Happy End?
Über North Stream 2 ist viel debattiert und auch gestritten worden – in Europa und über den Atlantik hinweg. Nun hat die Bundesregierung mit der neuen amerikanischen Regierung einen Weg vereinbart, der den unterschiedlichen Interessen gerecht zu werden sucht. Der US-Präsident hat – aus meiner Sicht zu Recht – gesagt: Uns verbinden größere gemeinsame Interessen, die wir über solchen Differenzen nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Das sollten wir auch in Europa beherzigen.
Bei einer 90-minütigen OP haben Sie Ihrer kranken Frau Elke Büdenbender eine Niere gespendet. Auf eine postmortale Spender-Niere hätte sie damals ungefähr sechs Jahre warten müssen. Sie haben nicht nur persönliche Tapferkeit bewiesen, sondern dadurch auch auf die Wichtigkeit von Organspenden hingewiesen. Wie sieht es im Bereich Organspenden jetzt aus?
Organtransplantationen retten Leben. Deshalb ist es wichtig, die Menschen zu informieren, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, und die Bereitschaft zur Organspende zu erhöhen. In den vergangenen Jahren ist intensiv gearbeitet worden, um die Organisation in den Krankenhäusern zu verbessern. Darüber hinaus wird bei uns diskutiert, ob Spender zu Lebzeiten dezidiert ihre Zustimmung zur Organspende erklärt haben müssen, wie es bisher bei uns der Fall ist, oder ob es reicht, dass sie nicht explizit widersprochen haben, so wie wir es zum Beispiel aus Österreich, Spanien oder Belgien kennen. In Deutschland ist jüngst erst Mitte 2019 das Transplantationsrecht geändert worden. Jeder Deutsche wird dazu angehalten, sich zu Lebzeiten zu erklären, ob er im Todesfall mit einer Organentnahme einverstanden ist. Wir hoffen, dass mit der Neuregelung die Zahl der Organspender wieder signifikant steigt. Wenn das ausbleibt, wird die Debatte zur Widerspruchslösung wieder auf den Tisch kommen.
Die Fragen stellte: Vladimír Plesník