Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Monatszeitschrift Herder Korrespondenz ein schriftliches Interview gegeben, das unter der Überschrift Gemeinsam innehalten
in deren April-Ausgabe sowie am 29. März auf www.herder.de/hk erschienen ist.
Herr Bundespräsident, was hat Sie als Staatsoberhaupt dazu bewogen, eine Gedenkfeier zu planen?
Der Tod in der Pandemie hat auch eine gesellschaftliche Dimension. Die Corona-Pandemie ist eine Katastrophe, die uns alle – in Deutschland, Europa und weltweit – trifft. Wir leben nun schon mehr als ein Jahr in einer gesellschaftlichen Ausnahmesituation und in einer nahezu beispiellosen Gesundheitskrise. Für eine Gedenkfeier wünsche ich mir, dass wir als Gesellschaft innehalten und gemeinsam der Menschen gedenken, die gestorben sind in dieser Zeit, auch wenn die Pandemie noch nicht vorbei ist. Das Ausgeliefertsein und die Einsamkeit im Sterben, unsere Verwundbarkeit, die Stigmatisierung durch das Virus, die Unsichtbarkeit des einsamen Todes abseits der betriebsamen Gesellschaft – all das ist mit der Pandemie verbunden. Mit einer Gedenkfeier erkennen wir als Staatsspitze diese verstörenden Folgen an und möchten zeigen: Wir sehen das Leid. Corona verändert das Sterben und den Tod insgesamt. Deshalb soll die Gedenkveranstaltung allen gewidmet sein, die unter den Bedingungen der Pandemie sterben mussten.
Haben sich die Kirchen in der Krise zu wenig zu Wort gemeldet?
Die Kirchen sind von der Pandemie massiv betroffen – zeitweilig waren die Gotteshäuser geschlossen; das gemeinsame Gebet, die Kommunion oder das Abendmahl und das Gemeindeleben waren nicht möglich beziehungsweise mussten digital stattfinden. Ich hätte mir vor Corona zum Beispiel nicht vorstellen können, dass im Gottesdienst so etwas Elementares wie der gemeinsame Gesang nicht möglich sein würde. Aber die Kirchen waren trotz aller Einschränkungen hörbar und haben eine wichtige Rolle übernommen, auch beim Gedenken an die Corona-Toten. Sie haben die Seelsorge aufrechterhalten, auch im Krankenhaus, und Familien angesichts des Todes von Angehörigen begleitet. Sie haben, besonders zu Allerseelen und am Totensonntag, der Corona-Verstorbenen gedacht.
Die Gesellschaft erfährt – auch in der Pandemie – einen Säkularisierungsschub. Wie erleben Sie die Entkirchlichung?
Es gibt Säkularisierungstendenzen, gleichzeitig wird Deutschland auch in religiöser Hinsicht immer vielfältiger – beides aber nicht erst seit der Pandemie. Und ich halte es nicht für ausgemacht, dass es die Pandemie ist, die die Säkularisierung beschleunigt. Möglicherweise erleben wir sogar das Gegenteil: Denn in der Pandemie machen viele die Erfahrung, nicht nur auf individuelles Glück vertrauen zu können. Sie erleben, auf sich selbst zurückgeworfen und zugleich elementar auf andere angewiesen zu sein, um diese Krise zu bestehen. Diese Erfahrung kann durchaus die Offenheit für die christliche Botschaft oder Religion vergrößern. Was daraus entsteht, das kann ich nicht vorhersehen. Aber das Bedürfnis nach Religiosität, nach Glauben und übergeordneten Antworten auf das Leben ist vorhanden. Der Auftrag der Verkündigung bleibt, und damit verbinde ich viel Hoffnung und Zuversicht.
Was sagen Sie denen, die mehr der Ärger über Fehler der Politik umtreibt?
Leider gehören Unzufriedenheit, Verunsicherung und bisweilen Zorn über die Folgen der Pandemie zu dieser schwierigen Zeit. Klar ist: In der Krise wurde nicht alles richtig gemacht. Es gab Versäumnisse, die uns schmerzen. Zugleich dürfen wir nicht vergessen: Die Beteiligten handeln unter immensem Verantwortungsdruck. Sie müssen weitere Infektionen abwenden und gleichzeitig den wirtschaftlichen und sozialen Schaden so gering wie möglich halten. Über all das muss die Gesellschaft offen und öffentlich sprechen, damit Lehren gezogen werden können und unausgesprochene oder ignorierte Vorwürfe die Pandemie nicht als Misstrauen gegen den Staat überdauern. Es werden noch viele Herausforderungen auf unsere Gesellschaft, unser Land und Europa zukommen. Ich finde es aber umso wichtiger, dass wir – neben allen kritischen Debatten – als Gesellschaft auch gemeinsam innehalten.
An den Auftritt von Martin Luther vor dem Reichstag wird jetzt am 500. Jahrestag erinnert. Wann haben Sie einmal gesagt oder gedacht: "Hier stehe ich und kann nicht anders"?
Ihre Frage ist verführerisch: Sie liefert die Vorlage, schwierige politische Entscheidungen, die ich verantworten musste, nachträglich zu einer unausweichlichen Glaubensfrage zu machen. Aber so war es nicht. Meine Entscheidungen waren immer das Ergebnis von Abwägungen. Ich hätte oft auch anders gekonnt. Aber das aus meiner Sicht bessere Argument hat mich jeweils überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein.
Die Fragen stellte: Volker Resing