Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Rheinischen Post ein Interview gegeben, das am 6. Februar erschienen ist.
Herr Bundespräsident, dem Fuchs, dem wir gerade im Garten begegnet sind, haben Sie den Namen Theo gegeben, auch mit Blick auf den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss. Sie sind der zwölfte Bundespräsident. Welchem Ihrer Vorgänger fühlen Sie sich persönlich besonders verbunden?
Der erste Bundespräsident gehört sicher dazu. In den schwierigen Anfängen der 50er Jahre hat er durch seine Autorität und das Vertrauen, das ihm die Menschen entgegengebracht haben, der deutschen Demokratie eine neue Selbstverständlichkeit und den Menschen Zuversicht gegeben. Darauf sehe ich mit großem Respekt.
Sie haben eine lange Karriere in der SPD hinter sich. Das war vor Ihnen nur bei Johannes Rau der Fall. Was bedeutet dieser politische Hintergrund für Ihr Amtsverständnis?
Jeder meiner Vorgänger hat dieses Amt auf seine Weise und deshalb sehr unterschiedlich geprägt. Für mich bedeutet die Aufgabe mindestens dreierlei. Erstens ist es eine enorme Ehre, meine Erfahrungen aus vielen Jahren in der Landes- und Bundes-, innerer und internationaler Politik in dieses höchste Staatsamt einbringen zu dürfen. Zweitens heißt für mich die zentrale Herausforderung dieses Amtes: Orientierung geben. Nicht nur dann, wenn alles glatt läuft, sondern gerade auch an den dunklen Tagen. Ich denke an den Mord an Walter Lübcke, die Attentate von Halle und Hanau: In solchen Momenten Worte zu finden, in denen sich Menschen wiederfinden und zusammenfinden, darauf kommt es an. Daneben die Reden zu den großen geschichtlichen Jahrestagen, die eben nicht Selbstzweck oder Routine sind: Vergangenheit ist gegenwarts- und damit demokratierelevant.
Wie meinen Sie das?
Indem wir unsere Nähe oder Distanz zu geschichtlichen Ereignissen neu vermessen, verorten und vergewissern wir uns auch als Gesellschaft immer wieder neu. Nehmen wir allein das Nie wieder
, das als zentrales Bekenntnis zur Gründungsgeschichte unserer Republik untrennbar gehört und das nicht relativiert werden darf. Aber reicht das Nie wieder
für künftige Generationen als Begründung von Demokratie aus? Wir müssen nach meiner Überzeugung zusätzlich die Wurzeln der deutschen Demokratie viel mehr freilegen und im historischen Selbstverständnis der Deutschen stärker verankern. Auch darum bemühe ich mich. Und drittens treffe ich in diesem Amt so viele und so unterschiedliche Menschen wie in keinem Amt zuvor – in der Pandemie leider nicht so häufig, wie ich es mir wünsche. Diese Begegnungen sind schlicht eine Freude. Viele nähern sich dem Bundespräsidenten mit einem Grundvertrauen, vielleicht auch, weil sie das Amt nicht mit dem Alltag politischer Entscheidungen belastet sehen. Das gibt Raum, jenseits davon Mut und Zuversicht zu geben. Ehre, Herausforderung, Freude, kurzum: Es ist eine großartige Aufgabe.
Anlässlich des Holocaust-Gedenkens nahmen Sie an einer Feierstunde im Bundestag teil. Wie sehr schmerzt Sie, dass dort nicht nur Freunde der Demokratie in den Reihen der Abgeordneten sitzen?
Das schmerzt mich, aber vor allem besorgt es mich. Wir müssen sehr wachsam sein, in welche Richtung sich die politische Auseinandersetzung entwickelt. Wenn ich in die Debatten in den sozialen Medien schaue, dann ist da nicht nur vieles schrill und laut, sondern es gibt Kräfte, die die Grundlagen von Demokratie und Politik anfechten und verächtlich machen. Das ist eine Minderheit, aber die Mehrheit muss sich bemerkbar machen! Wir müssen lauter sein als der Hass. Unsere Demokratie lebt nicht allein aus den Buchstaben des Grundgesetzes, sondern vom Engagement der Menschen. Sie ist die Staatsform der Mutigen.
Nur zwei Bundespräsidenten – neben Theodor Heuss Richard von Weizsäcker – haben zwei volle Amtsperioden absolviert. Streben Sie eine zweite an?
Es ist eine herausfordernde und erfüllende Aufgabe zugleich. Trotzdem kommt diese Frage zur Unzeit. Ich denke im Moment an diejenigen, die auf Intensivstationen um ihr Leben kämpfen, an Angehörige, die trauern, an Ärztinnen und Pfleger, die Übermenschliches leisten, an Kinder und Jugendliche, denen Schule und Freunde fehlen, an die Künstlerin oder den Wirt, die um die Existenz bangen. An die denke ich, nicht an meine persönliche Zukunft. Die Zeit dafür kommt, aber jetzt ist sie nicht.
Vier Fünftel Ihrer ersten Amtsperiode liegen hinter Ihnen. Was sehen Sie selbst als Ihre wichtigsten Impulse?
Die Zukunft unserer Demokratie zu sichern! Die Morde von Kassel, Hanau und Halle dürfen über die Pandemie nicht in Vergessenheit geraten. Diese Taten waren nicht nur in sich tief erschütternde Ereignisse, sondern haben dramatisch aufblitzen lassen, dass im Innenleben unserer Gesellschaft etwas ins Rutschen geraten ist. In der politischen Auseinandersetzung verschwimmt die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen. Demokratie braucht die Kontroverse, auch den Streit. Aber wenn man sich nicht mehr der Wahrheit und einem Mindestmaß an Vernunft verpflichtet sieht, geht das schief. Deshalb habe ich an meinem ersten Tag als Bundespräsident gesagt: Wir müssen über Demokratie nicht nur reden, wir müssen wieder für sie streiten! Das ist im Lauf der vergangenen vier Jahre vielen schmerzhaft deutlich geworden.
Wie hat sich das Amt durch die Krise verändert? Dringt das Wort eines Bundespräsidenten noch durch?
Eindeutig ja, auch wenn man das nicht immer gleich am folgenden Tag feststellen kann. Die Resonanz auf öffentliche Äußerungen ist gewachsen und noch mehr die Zahl derjenigen, die sich mit Kritik, Sorge oder Zustimmung an den Bundespräsidenten wenden. Das ist ein gutes Zeichen, auch ein Zeichen für die Wertschätzung des Amtes und politischer Institutionen insgesamt.
Hat die Pandemie in diesem Punkt auch etwas Positives bewirkt, etwa durch ein kollektives Innehalten?
Ich finde es zu früh, Bilanz zu ziehen. Corona ist eine Zäsur. Das Unvorstellbare ist in unsere scheinbar geordnete Lebenswelt eingebrochen. Das macht neben den gesundheitlichen Risiken einen großen Teil der Verunsicherung aus. Hinzu kommt: In der ersten Welle waren die Nachrichten über Infektionen und Sterbefälle für die allermeisten sicherlich traurig, aber für viele auch schwer zu fassen. In der zweiten Welle, in der zeitweise über tausend Menschen an einem Tag gestorben sind, erfahren viel mehr Familien diese Tragödie persönlich. Der Tod ist keine statistische Größe, sondern tragische Realität. Er ist nicht nur Gegenstand von individueller Trauer – es wird uns noch etwas bewusst: eine schon fast verdrängte Verletzlichkeit unseres Daseins. Wir haben unsere Individualität gepflegt und spüren jetzt, wie existenziell wir auf andere angewiesen sind. Das Angewiesensein auf andere – vielleicht bleibt das von der Krise zurück. Sie erinnert uns: Leben heißt Gemeinschaft.
Das Gedenken an die Toten findet im Stillen statt. Sie haben eine nationale Gedenkveranstaltung für die Todesopfer der Pandemie angekündigt. Was stellen Sie sich vor?
Mich erreichen viele Briefe zu diesem Thema. Ich habe den Eindruck, dass hier etwas fehlt: ein Zeichen der Anteilnahme der ganzen Gesellschaft in einer Katastrophe, die uns alle betrifft. Deswegen habe ich Mitte Januar die Aktion #lichtfenster initiiert, bei der Menschen im Gedenken an die Verstorbenen ein Licht ins Fenster stellen. Über dieses stille Symbol hinaus brauchen wir eine angemessene Form des öffentlichen Gedenkens. Wir planen für den 18. April eine zentrale Gedenkfeier, die live übertragen wird. Neben Hinterbliebenen wird an diesem Sonntag auch die Staatsspitze teilnehmen. Wegen Corona kann leider nur eine begrenzte Anzahl von Teilnehmern dabei sein, und viele Planungen bleiben unsicher. Aber das Ziel der Gedenkfeier ist klar: als Gesellschaft innehalten, den Hinterbliebenen eine Stimme geben, in Würde Abschied nehmen von den Toten.
Leidtragende der Pandemie sind auch die Jungen, die Schulen sind geschlossen. Wächst hier eine verlorene Generation Corona heran?
Die Jugend ist eigentlich eine Zeit des Aufbruchs, aber in der Pandemie ist das Leben ungeheuer eng geworden. Immer nur die eigenen vier Wände, die ständige Präsenz der Eltern, die womöglich selbst im Homeoffice arbeiten, keine Treffen mit Freunden. Statt Reisen und Auslandsaufenthalten digitales Studium, digitale Berufsschule und geschlossene Ausbildungsbetriebe. Träume sind geplatzt, Pläne durchkreuzt. Aber eine verlorene Generation
? Die jungen Menschen, mit denen ich rede, lehnen diese Zuschreibung ab. Eine ausgebremste Generation
, das sind sie schon. Aber es gibt eine Zukunft nach Corona; diese Zukunft braucht eine Richtung, und die müssen wir mit den Jungen bestimmen. In der Pandemie nehmen wir aus guten Gründen Rücksicht auf die Älteren, aber nach der Pandemie müssen wir uns als Gesellschaft den Jüngeren besonders verpflichtet fühlen.
Die Infektionszahlen sinken deutlich. Welche Freiheitsrechte sind vorrangig wiederherzustellen?
Die Grundrechte einzuschränken, ist keine Kleinigkeit, und ihre Ausübung wiederherzustellen, ist die Pflicht der Politik, sobald die Infektionslage das zulässt. Dabei halte ich den Zugang zu Kitas und Schulen für besonders bedeutsam. Es sind noch einige Tage bis zu den nächsten Beratungen zwischen Bund und Ländern. In der Pandemie ist das eine lange Zeit. Ich kann also jetzt nur sagen, was wünschenswert wäre.
Wie zufrieden sind Sie mit dem staatlichen Handeln, insbesondere auf der Verwaltungsebene, etwa bei der Digitalisierung der Gesundheitsämter?
Ich bin weder Obergutachter von Regierungsentscheidungen noch Schiedsrichter zwischen Bundes- und Landesregierungen. Viele Entscheidungen mussten in den vergangenen Monaten in extremer Ungewissheit getroffen werden. Die medizinischen Erkenntnisse sind erst nach und nach gewachsen, der wissenschaftliche Rat wird auf Basis neuer Erkenntnisse laufend aktualisiert. Da kann es doch niemanden überraschen, dass manche Entscheidung der Vergangenheit mit heutigem Wissen neu bewertet wird. Wer in der Pandemie von vornherein immer Recht hatte, der werfe den ersten Stein! Eines aber bleibt: Die Pandemie legt wie unter einem Brennglas schonungslos offen, wo unsere Defizite liegen. Im Digitalen haben wir erheblichen Nachholbedarf in der Verwaltung, aber auch im Bereich von Schule und Bildung. Das muss dringend aufgearbeitet werden.
Bei der Rückverfolgung von Infektionsketten steht das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit versus Datenschutz: Wie bringt man diese Rechtsbegriffe in Einklang?
Zweifellos ist die Praxis im Umgang mit persönlichen Daten in China, Taiwan und Südkorea eine andere, aber die kam für uns aus guten Gründen nicht in Betracht. Wir sollten nicht nachträglich so tun, als sei das eine Option gewesen. Das ist allerdings keine Rechtfertigung dafür, dass Hotlines nicht funktionieren oder impfwillige Ältere beim zwanzigsten Anruf verzweifeln.
Sie haben die Pandemie mit einem Brennglas verglichen. Wir sehen jetzt Ungerechtigkeiten, viele sind zu kurz gekommen oder haben Schaden genommen. Wäre es sinnvoll, nach Corona gemeinschaftlich eine grundlegende Reform des Sozialstaats anzustreben?
Corona trifft alle, aber eben nicht alle gleich. Krisen sind nie der große Gleichmacher gewesen, und die Pandemie ist es erst recht nicht. Die Schwächsten trifft es am härtesten. Wir reden auch über Restaurants und Hotels, den Einzelhandel oder die Kultur, aber da geht es nicht nur um Eigentümer und Inhaber, sondern auch um die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, oder Freiberufler. Das Virus werden wir besiegen, aber die sozialen und wirtschaftlichen Folgen werden uns lange begleiten. Darüber spreche ich zurzeit mit den Sozialpartnern. Und das bleibt Aufgabe künftiger Politik: wirtschaftliche Stärke wiederzugewinnen und soziale Balance zu wahren.
Sie haben die Kultur angesprochen. Museen und Theater verfügen über große, hohe Räume, die gut gelüftet werden können. Wäre ihre Öffnung nicht bald ein wichtiger Schritt?
Wir können die Bedeutung der Kultur für unsere Gesellschaft gar nicht hoch genug einschätzen. Ich denke dabei nicht nur an den individuellen Genuss, den wir alle vermissen, oder die wirtschaftliche Bedeutung der Kreativwirtschaft. Kultur ist Grundbedingung für Demokratie! Kultur ist Vielfalt, ist Begegnung. Kultur hinterfragt, verstört, ist widerspenstig, überschreitet Grenzen. Kultur fördert das Gespräch der Gesellschaft über sich selbst. Ich hoffe, dass Museen und Theater schon bald wieder öffnen können – wir brauchen sie, wir brauchen die Aktiven, die Kreativen der Gesellschaft. Und wir brauchen den öffentlichen Raum!
Viele Beschlüsse im Kampf gegen die Pandemie sind außerhalb der Parlamente gefallen. Befürchten Sie, dass das Schule macht und die Demokratie dauerhaften Schaden nimmt?
Die Krise ist die Stunde der Exekutive. Das habe ich in meinem politischen Leben häufig erfahren. Aber Regierungen sind gut beraten, auch in dieser Zeit die Rechte des Parlaments zu wahren. Das hat der Bundestag eingefordert und für die eigene Mitwirkung rechtliche Grundlagen geschaffen. Ich bin zuversichtlich, dass sich das Verhältnis von Exekutive und Legislative wieder einpendelt.
Auch die Rolle der Regierenden hat sich verändert. Bundeskanzlerin Angela Merkel nimmt eine nahezu präsidiale Haltung ein. Wie erleben Sie das?
Selten stand das Verhältnis der staatlichen Ebenen so im Fokus. Wir sehen das an den Diskussionen über die Impfkampagne, aber auch über den Lockdown im Spätherbst. Ich verstehe jedes ernsthafte Ringen um Positionen, denn die Politik greift derzeit tief in den Alltag der Menschen ein. Natürlich braucht es Kritik, Fehleranalyse, Kurskorrektur. Aber bei allem notwendigen Streit: Unser Feind sitzt nicht in Brüssel oder Berlin, in Staatskanzleien oder Pharmakonzernen. Unser Feind ist das vermaledeite Virus! Es ist ein ungeheuer wandlungsfähiger und gefährlicher Gegner. Der Kampf gegen das Virus darf nicht zum Schwarzer-Peter-Spiel werden. Die Pandemie sollte keine Bühne für persönliche Profilierung oder vorzeitigen Wahlkampf sein. Der Politik muss klar sein: Gelingt uns der Kampf gegen das Virus, gewinnen alle. Verlieren wir ihn, verlieren alle.
Die Pandemie stellt die europäische Solidarität auf die Probe, ohnehin liegt das Nationalstaatliche im Trend. Wie realistisch ist es heute noch, eine stärkere europäische Einheit anzustreben?
Es gab in der Krise zur Überraschung vieler einen Akt der europäischen Solidarität, der seinesgleichen sucht. Die EU-Mitglieder haben sehr eindrucksvolle wirtschaftliche Hilfen beschlossen, damit die Gemeinschaft keinen irreparablen Schaden erfährt. Vielleicht waren wir uns zu sicher, dass wir auch weiter so solidarisch sind, wenn der ersehnte Impfstoff da ist. Seitdem er zur Verfügung steht, gibt es Streit. Und ich wundere mich, wie schnell auf der Suche nach dem Sündenbock Europa als Schuldige für alle Verzögerungen ausgemacht war. Keine Frage: Wir müssen beim Impfen schneller werden, ja – auf allen Ebenen! Aber das Gute ist doch: Das Licht am Ende des Tunnels ist in Sicht, auch wenn wir noch nicht genau voraussagen können, wie lang der Tunnel noch sein wird. Ich persönlich bin froh, dass wir die Kraft gefunden haben, die Beschaffung europäisch zu organisieren. Ich mag mir die Lage Europas gar nicht vorstellen, wenn jedes Land auf eigene Faust versucht hätte, bei den Herstellern seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Die kleineren und ärmeren Länder, vor allem in Ost- und Südosteuropa, wären leer ausgegangen, so wie es vielen Ländern außerhalb Europas ergeht. Der serbische Präsident sagte kürzlich, ihn erinnere der Streit um den Impfstoff an den Kampf um das letzte Rettungsboot auf der Titanic.
Aber Serbien hat doch eine vielfach höher Impfquote als Deutschland.
Jenseits der EU gibt es zahlreiche Länder, die ohne internationale Hilfe absehbar keine Impfdosen erhalten. Das ist nicht nur eine gesundheitspolitische Tragödie, sondern eine geopolitische Herausforderung. In dieses Vakuum stoßen Russland und China mit ihren Impfstoffen hinein. Sie versprechen sich davon langfristige Vorteile. Das könnte politische Kräfteverhältnisse weit in die Zukunft hinein verändern. Deswegen ist die gemeinsame Impfstoff-Hilfe durch die Covax-Initiative der Weltgesundheitsorganisation so wichtig. Es ist gut, dass die USA nach ihrem Regierungswechsel nun an Bord gekommen sind.
Sie haben Russland erwähnt. Was empfinden Sie bei den Massendemonstrationen für die Freilassung von Alexej Nawalny, der zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden ist?
Mir persönlich fehlt für die Verhaftung jedes Verständnis. Es ist geradezu zynisch, den einzusperren, der gerade erst von einer lebensbedrohlichen Vergiftung genesen ist, die ihm in seinem Heimatland zugefügt worden ist. Russland verstößt gegen Verpflichtungen, die das Land im nationalen wie internationalen Recht zum Schutz der Menschenrechte eingegangen ist. Die Verhaftung und Verurteilung von Alexej Nawalny hat mit Rechtsstaat nichts zu tun. Und der Umgang mit Demonstranten auch nicht. Nawalny muss sofort und ohne Vorbedingungen freigelassen werden. Zugleich müssen wir das größere Bild der Beziehungen zwischen der EU und Russland im Auge behalten. Wir müssen klar und unmissverständlich sein in der Kritik an Russlands innenpolitischen Verhältnissen und doch in der Außenpolitik immer wieder nach Anknüpfungspunkten suchen, um eine schlechte Gegenwart in eine bessere Zukunft zu verwandeln. Eine Weisheit, die ich aus vielen Gesprächen mit Henry Kissinger in guter Erinnerung habe und die beim europäisch-russischen Verhältnis nichts an Gültigkeit verloren hat.
An einem Punkt zeigt sich der Konflikt, den Sie beschreiben, gerade überdeutlich. Wie stehen Sie zur Fertigstellung von Nord Stream 2? Liegen die deutschen Interessen eher bei der Energiesicherheit oder bei der Treue zu den USA?
Wenn es doch so einfach wäre. Aber zunächst einmal: Der Dialog mit der neuen amerikanischen Regierung über diese Frage hat ja noch gar nicht begonnen. Im Übrigen müssen Sie bedenken: Nach der nachhaltigen Verschlechterung der Beziehungen in den vergangenen Jahren sind die Energiebeziehungen fast die letzte Brücke zwischen Russland und Europa. Beide Seiten müssen sich Gedanken machen, ob man diese Brücke vollständig und ersatzlos abbricht. Ich finde: Brücken abzubrechen ist kein Zeichen von Stärke. Wie sollen wir auf einen Zustand, den wir als nicht hinnehmbar empfinden, noch Einfluss nehmen, wenn wir letzte Verbindungen kappen? Für uns Deutsche kommt noch eine ganz andere Dimension hinzu: Wir blicken auf eine sehr wechselvolle Geschichte mit Russland zurück. Es gab Phasen fruchtbarer Partnerschaft, aber noch mehr Zeiten schrecklichen Blutvergießens. Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Mehr als 20 Millionen Menschen der damaligen Sowjetunion sind dem Krieg zum Opfer gefallen. Das rechtfertigt kein Fehlverhalten in der russischen Politik heute, aber das größere Bild dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Ja, wir leben in der Gegenwart eines schwierigen Verhältnisses, aber es gibt eine Vergangenheit davor und eine Zukunft danach.
Zum Schluss: Worauf freuen Sie sich nach Corona am meisten?
Theater! Kino! Reisen! Aber vor allem würde ich gern mal wieder mehr als einen Menschen zu mir nach Hause einladen.
Die Fragen stellten: Kerstin Münstermann und Moritz Döbler