Interview mit der italienischen Tageszeitung La Repubblica

Schwerpunktthema: Interview

17. September 2020

Der Bundespräsident hat der italienischen Zeitung La Repubblica ein Interview gegeben, das am 17. September erschienen ist: "Es hat zwar eine Weile gedauert, aber letztendlich war die Hilfsbereitschaft und gegenseitige Unterstützung auf keinem Kontinent der Welt so groß wie in Europa. Damit meine ich nicht nur die Bereitschaft zur wirtschaftlichen Unterstützung, sondern auch zur Linderung der Not auf dem Höhepunkt der Krise."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Interview mit der Korrespondentin Tonia Mastrobuoni von La Repubblica im Amtszimmer von Schloss Bellevue

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der italienischen Tageszeitung La Repubblica aus Anlass seines offiziellen Besuchs in der Italienischen Republik ein Interview gegeben, das am 17. September erschienen ist.

Wie haben Sie die Pandemie erlebt, in den Beziehungen zwischen Italien und Deutschland?

Die Deutschen haben mit großem Erschrecken auf das Leid der Menschen in Italien geschaut. Die Italiener waren früher und härter von Corona betroffen als wir. In Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern gab es zu Beginn der Krise eine eher reflexhafte Orientierung nach innen. Auch die Schließung der Grenzen sollte im Kampf gegen die Verbreitung des Virus helfen. Das hat für Kritik gesorgt und die Beziehungen untereinander durchaus belastet. Aber sehr schnell wurde klar: Kein Land kann das Virus alleine besiegen. Ihr Präsident Sergio Mattarella und ich haben in dieser Zeit häufig telefoniert. Uns war bewusst: Wenn wir die Freundschaft zwischen unseren Ländern nicht gefährden wollen, dann müssen wir solidarisch sein, dann müssen wir zusammen arbeiten. Hilfe und Unterstützung dürfen nicht an den ja fast vergessenen Grenzen in Europa haltmachen. Es hat zwar eine Weile gedauert, aber letztendlich war die Hilfsbereitschaft und gegenseitige Unterstützung auf keinem Kontinent der Welt so groß wie in Europa. Damit meine ich nicht nur die Bereitschaft zur wirtschaftlichen Unterstützung, sondern auch zur Linderung der Not auf dem Höhepunkt der Krise. Da haben wir uns gegenseitig geholfen, angefangen bei der Versorgung mit Beatmungsgeräten bis hin zur Behandlung von Patienten aus italienischen oder französischen Krankenhäusern.

Das kurzzeitige Ausfuhrverbot von Schutzmasken hat Wunden hinterlassen. Und der Eindruck ist, dass es ein grundsätzliches Misstrauen zwischen Italien und Deutschland gibt, das immer wieder bei Krisen hervorkommt, wie zum Beispiel in der Finanzkrise. Sie reisen nach Italien und treffen Sergio Mattarella, um die Freundschaft zwischen Partnerkommunen zu fördern. Was kann dazu beitragen, dieses Misstrauen zu überwinden?

Ein grundsätzliches Misstrauen zwischen unseren beiden Ländern und Völkern sehe ich nicht. Im Gegenteil: Wir sind uns in enger Freundschaft und Partnerschaft verbunden. Aber Freundschaft ist eben keine Selbstverständlichkeit, sie muss gepflegt werden. Auf der politischen Ebene stehen Präsident Mattarella und ich in engem Austausch, auch die Regierungen sind in gutem Kontakt. Aber letztlich kommt es darauf an, dass auch die Menschen in Deutschland und Italien die gute Nachbarschaft und Freundschaft pflegen. Und an dieser Stelle werden die mehr als 400 Städtepartnerschaften besonders wichtig. Während der Krise haben mich Bürgermeister angerufen und mir erzählt, was sie zur Unterstützung ihrer jeweiligen italienischen Partnerstadt organisiert haben. Ob Videobotschaften, Spenden oder einfach nur das Gespräch. Dieser Austausch hat Mut und Hoffnung gemacht. Das ist ein guter Anlass, um die Tradition der Städtepartnerschaften neu zu beleben.

Spätestens als sich einige Industriebosse in Deutschland für Corona-Bonds aussprachen, hat man gewusst, dass sich die Industrie der Vernetzung Italiens und Deutschlands bewusst ist. Wie kann man dazu beitragen, dass diese enge Verbundenheit auch im kollektiven Bewusstsein stärker wird?

Deutschland und Italien sind nicht nur Nachbarn, wir sind auch wirtschaftlich eng miteinander verflochten. Besonders in Krisenzeiten zeigt sich, in welch hohem Maße wir voneinander abhängig sind. Als die Diskussion über die Wiederaufnahme der Produktion in Deutschland lief, habe ich mit Vorständen hiesiger Dax-Konzerne telefoniert und der Tenor war immer gleich: Solange die Bänder in Italien nicht anlaufen, brauchen wir unsere Bänder gar nicht erst wieder anstellen. Denn wir brauchen dafür Zehntausende von Zulieferteilen aus italienischer Produktion. Zwar stellen wir das unter den tragischen und traurigen Bedingungen der Corona-Pandemie fest, aber ich freue mich darüber, dass uns dieses Zusammengehörigkeitsgefühl wieder bewusster geworden ist. Und dass es uns nach manch kritischen Diskussionen in Europa geholfen hat, gemeinsam eine Antwort zu finden, die der Tiefe und der Dimension der Krise gerecht wird. Auch die, die skeptisch waren, ob Europa die Kraft und Entschiedenheit hat, der Krise entgegenzutreten, haben sich davon überzeugen lassen. Wie in so vielen anderen Fällen in der Geschichte Europas, macht das Mut zum gemeinsamen Handeln. Wir brauchen eine Brücke in wirtschaftlich bessere Zeiten. Mit dem Recovery Fund und der Neuordnung der EU-Haushaltspolitik sind in relativ kurzer Zeit Entscheidungen getroffen worden, die zeigen, dass Europa das entgegen aller Kritik verstanden hat. Und ich hoffe, wir erinnern uns auch in Zukunft daran, dass gemeinsames europäisches Handeln allen hilft.

Der Recovery Fund, ein deutsch-französischer Vorstoß, hat die Populisten in Italien verstummen lassen. Vor allem die, die während der Migrationskrise sehr stark geworden sind. Glauben Sie, dass ist auch in Deutschland verstanden worden?

Populismus ist kein italienisches Phänomen. Viele EU-Staaten kämpfen mit einer vereinfachenden, bisweilen demagogischen Politik an den politischen Rändern. Dem kann man nur mit glaubwürdiger und solider Politik entgegentreten.

Fünf Jahre Wir schaffen das: Trotz des Bemühens Deutschlands, ist auf europäischer Ebene nicht viel passiert. Wie man in diesen Tagen in Lampedusa und Moria sieht, ist die Frage der Umverteilung immer noch ungelöst, so wie die der Reform des Dublin-Abkommen. Italien steht schon wieder alleine da.

Ja, Italien leistet als Erstaufnahmeland enorm viel – und das schon seit Jahren. Das gilt auch für Griechenland. In Deutschland ist die Erinnerung an die Zeit vor vier, fünf Jahren sehr präsent. Deutschland hat damals etwa eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Aber die Aufnahme bedeutet noch lange nicht Integration. Dies ist eine andauernde Aufgabe und sie verlangt insbesondere den Kommunen auch heute noch viel ab. Dennoch gibt es positive Zeichen. Die Integration in den Arbeitsmarkt hat besser funktioniert als manche Skeptiker angenommen haben. Alles in allem denke ich, dass Deutschland damals seiner Verantwortung gerecht geworden ist. Aber dauerhafte Lösungen können nur auf europäischer Ebene gefunden werden. Die erschreckenden Bilder aus Moria stehen sinnbildlich für die Folgen einer weiterhin nicht gelösten Flüchtlingspolitik in Europa. Flüchtende und Migranten menschenwürdig unterzubringen, ist ein sowohl rechtliches wie moralisches Gebot. Es ist daher ein wichtiges Signal in dieser Notsituation, dass Deutschland, ebenso wie weitere europäische Staaten, Geflüchtete aus Griechenland aufnehmen will. Griechenland und Italien haben als Erstaufnahmeländer in den vergangenen Jahren die Hauptlast getragen und viel Druck aushalten müssen. Natürlich sehen wir auch mit Sorge die aktuell steigende Zahl der ankommenden Flüchtlingsboote aus Tunesien. Und Sie haben recht: Die Debatte über das Dublin-Abkommen zur Verteilung von Flüchtenden läuft schon viel zu lange – auch die Debatte um ein gemeinsames Asylrecht. Ich hoffe, dass uns die bald vorliegenden Beschlüsse der EU-Kommission dem dringend erforderlichen Konsens näherbringen. Letztendlich braucht Europa Einigkeit über zwei Dinge: effektiven Schutz der Außengrenzen, aber auch eine Verständigung über die Aufnahme und Verteilung der Geflüchteten. Und das muss einhergehen mit einer stärkeren Rolle Europas bei der Befriedung von Konflikten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Das gilt insbesondere für den seit Jahren ungelösten Konflikt in Libyen. Auch die zunehmenden Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland bedürfen einer klaren europäischen Position. In beiden Fällen ist die europäische Außenpolitik gefragt.

Die Türkei ist nicht nur in Griechenland aggressiv. Sie ist auch in Libyen eine Macht geworden. Wie geht man mit so einem Land um, das mit internationalem Recht und mit europäischer Politik nicht selten in Konflikt gerät?

Zwei NATO-Staaten, die wegen Seegrenzen miteinander im Konflikt liegen – das ist ein Problem für eine Allianz. Europa und die Bundesregierung bemühen sich gegenüber der Türkei, von ihrer aggressiven Politik Abstand zu nehmen. Ein Blick auf die Welt sollte jedem deutlich machen, dass eine Eskalation bis hin zur militärischen Eskalation nicht hilfreich ist. Letztlich gilt die bewährte Regel: Wer eine ernsthafte und friedliche Lösung sucht, muss den Rechtsweg beschreiten.

In Italien und Deutschland sind Menschen auf die Straße gegangen, die das Coronavirus leugnen, die an Verschwörungen glauben, die die Restriktionen infrage stellen. In Berlin gab es sogar einen Sturm auf den Reichstag. Wie ist das möglich?

Ich finde es unerträglich, dass auf den Stufen des deutschen Parlaments die alte Reichsflagge – ein Symbol für Nationalismus und Revanchismus geschwenkt wurde und dass rechte Hetze zu hören war. Der Bundestag war zwar geschützt, aber diese Bilder hätten nicht entstehen dürfen. Auch weil sie in keiner Weise die Realität wiederspiegeln: Achtzig Prozent der Deutschen sind mit den Maßnahmen, die die Bundes- und Landesregierungen im vergangenen halben Jahr zum Schutz vor Corona getroffen haben, einverstanden. Natürlich sollen Menschen das Versammlungs- und Demonstrationsrecht in Anspruch nehmen. Aber ich erwarte von den Demonstranten darauf zu achten, mit wem und neben wem sie demonstrieren. Es gibt Hinweise darauf, dass rechtsextreme Gruppen versucht haben, die kritischen Demonstrationen zu kapern und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Allzu häufig dominieren sie die Berichterstattung. Dabei ist das Vertrauen in die Politik gestiegen in diesen Monaten. Und es sind autoritäre Regierungen, die an Glaubwürdigkeit verloren haben.

Viele wundern sich, warum Deutschland so hart auf den Fall Nawalny reagiert hat. Ist das der klassische Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, in den Beziehungen mit Russland?

Es ist leider nicht der erste Fall. Und dass Oppositionelle in Russland um ihr Leben fürchten müssen, erschwert die nachbarschaftliche Zusammenarbeit im europäisch-russischen Verhältnis sehr. Dabei lag uns viel an einer solchen Zusammenarbeit. Ich hoffe jetzt darauf, dass Herr Nawalny sich vollständig erholt und wieder seine wichtige Arbeit fortführen kann. Da die Vergiftung in Russland stattgefunden hat, können die Täter nur dort gefunden werden. Ich hoffe, dass Russland seiner Verantwortung zur Aufklärung gerecht wird.

Am 3. Oktober feiert Deutschland dreißig Jahre Deutsche Einheit. Damals hatten viele Angst vor einer Wiedervereinigung – Margaret Thatcher zum Beispiel. Diese Ängste haben sich dreißig Jahre später als unbegründet erwiesen. Aber wo steht Deutschland jetzt?

Wir erinnern uns in diesem Jahr an 150 Jahre Deutsches Reich und 30 Jahre Deutsche Einheit. Das Deutsche Reich wurde nach einem Krieg mit dem Nachbarn Frankreich gegründet, mit Siegerpose im Spiegelsaal von Versailles, geleitet von den machtpolitischen Absichten Preußens. Die Deutsche Einheit vor dreißig Jahren ist das genaue Gegenteil davon. Die Bundesrepublik Deutschland, eingebettet in die Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbarn, als Teil der Europäischen Union, in einem gemeinsamen Verteidigungsbündnis. Der friedliche Weg, den die Revolutionäre in der damaligen DDR beschritten haben und die europäische Einbettung der Einheit waren Grund dafür, dass manche Skepsis und Befürchtungen von einigen europäischen Partnern vor dreißig Jahren schnell gegenstandslos geworden sind. Deutschland bleibt diesem Europa verpflichtet, und wir arbeiten in Deutschland noch heute an der Vollendung der Einheit. Wirtschaftlich war der Annäherungsprozess zwischen Ost- und Westdeutschland aufwendig, aber erfolgreich. Es bleibt jedoch noch einiges zu tun, um das Lebensgefühl der Menschen, die von unterschiedlichen politischen Systemen geprägt worden sind, zusammenzubringen.

Die Fragen stellte: Tonia Mastrobuoni