Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland

Schwerpunktthema: Interview

5. September 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) ein Interview gegeben, das am 5. September erschienen ist. In dem Gespräch sagt er: "Politik und Medizin werden das Virus nicht allein besiegen, sondern nur 83 Millionen Deutsche gemeinsam. Aus der Corona-Müdigkeit darf keine Rücksichtslosigkeit werden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Interview mit Chefredakteur Marco Fenske und Büroleiter Steven Geyer vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) im Amtszimmer von Schloss Bellevue

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Redaktionsnetzwerk Deutschland RND ein Interview gegeben, das am 5. September erschienen ist.

Herr Bundespräsident, zu Beginn der Corona-Pandemie haben Sie gesagt: "Wir werden das Virus besiegen." Müssen Sie nun, rund sechs Monate später, einräumen, dass das zu voreilig war?

Nein. Wir werden das Virus besiegen. Und ich hoffe, dass wir dann auf diese Krise in der Gewissheit zurückschauen, dass wir vielleicht nicht immer alles richtig gemacht, aber doch gemeinsam das Mögliche getan haben, um Gesundheit und Leben der Menschen in Deutschland zu schützen.

Woher nehmen Sie diesen Optimismus?

Ich finde die Meldungen über die aussichtsreiche Forschung an Impfstoffen durchaus ermutigend. Es gibt Licht am Ende des Tunnels – allerdings wissen wir nicht, wie lang die Wegstrecke dahin noch ist. Deshalb dürfen wir in unseren Bemühungen und unserer Disziplin nicht nachlassen. Wir haben den Corona-Ausnahmezustand gemeistert, jetzt werden wir nicht an der Corona-Normalität scheitern. Das Virus wird uns die Zukunft nicht nehmen. Es wird eine Zeit nach Corona geben, und auf die müssen wir jetzt unseren Blick richten.

Wie wird die Welt nach Corona aussehen?

Sie wird eine andere sein. Wie sie sein wird, das haben wir selbst in der Hand. Ich verstehe jeden Wunsch nach Rückkehr zum Alltag, den habe ich auch. Aber das muss nicht heißen: einfach zurück in die alte Spur! Es kann, wenn wir uns bemühen, eine bessere Normalität werden: mit wieder erstarkter Wirtschaft, aber mehr Rücksicht aufeinander, mehr Gerechtigkeit, mehr Nachhaltigkeit. Eine Normalität mit weniger Hass und Häme, aber einem ehrlichen Austausch von Argumenten und mehr Engagement für's gemeinsame Ganze!

Eine bessere Welt dank Corona? Ist da nicht der Wunsch Vater des Gedanken?

Die Krise hat das Schlechteste und das Beste in uns Menschen hervorgekehrt. Und ja, ich wünsche mir, dass wir möglichst viel von dem, was wir an Positivem erfahren haben, mitnehmen in die Zeit nach Corona. Rücksicht, Solidarität, Zusammenhalt, Verantwortung für andere – alles das ist doch keine Selbstverständlichkeit, gerade weil die persönliche Betroffenheit niedriger war als anderswo. Nur elf Prozent der Deutschen kennen einen Virusinfizierten; in Italien sind es dreimal, in Großbritannien viermal so viele. Es ist doch erstaunlich und erfreulich zugleich, wie schnell die Einsicht gewachsen ist, dass wir die Pandemie nicht im Nebeneinander von Individualisten überwinden werden – mit Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe aber schon.

Schon jetzt steckt die Wirtschaft in der Rezession, die Staatsschulden explodieren, die Proteste werden lauter. Das Virus hat auch den Arbeitsmarkt infiziert. Wie lange halten wir das noch aus?

Bloße Durchhalteparolen tragen uns nicht durch diese Zeit. Die Belastungen der Menschen sind real, und ich verstehe, dass die Sorgen zunehmen. Doch die gesunkenen Zahlen von Neuinfektionen und die deshalb möglichen Lockerungen sind überzeugende Argumente, auf dem Weg der Vorsicht zu bleiben. In Deutschland sind weniger als vier Prozent der Infizierten am Virus gestorben. Jeder Tote ist einer zu viel, und wir trauern um sie. Aber im Vergleich mit anderen europäischen Ländern und vor allem mit einigen Staaten außerhalb Europas haben wir weniger Opfer zu beklagen. Der lange Weg lohnt sich also.

Trotzdem: Es sind auch bei uns Menschen gestorben.

Ja, wir haben 9.300 Tote zu beklagen. Und ich habe ein sehr ungutes Gefühl, wenn wir uns in Debatten darüber verlieren, ob jemand an oder mit Corona gestorben ist, oder wenn wir über die Toten nur in Verhältniszahlen reden. Die Todeszahlen sind niedriger als anderswo, aber es sind in sechs Monaten dreimal so viel wie die jährlichen Verkehrstoten. Das sollten wir nicht übersehen. Hinzu kommt: Zahlen trösten jene nicht, die gerade einen geliebten Menschen verloren haben; so denken jene nicht, die trauern. Der Tod ist immer absolut. Wir dürfen die Trauer der Angehörigen nicht vergessen.

Was meinen Sie konkret?

Der Corona-Tod ist ein einsamer Tod. Die Patienten in Krankenhäusern und Altenheimen sind meist ohne den Beistand ihrer Angehörigen gestorben. Und auch die Hinterbliebenen hatten keine Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Das ist eine Seelenqual, davon haben mir viele Angehörige berichtet. Wir müssen den Menschen in ihrer Trauer helfen – und darüber nachdenken, wie wir unser Mitgefühl ausdrücken können. Wann dafür der richtige Zeitpunkt ist und ob etwa eine Gedenkstunde der richtige Rahmen ist, darüber muss man sprechen, und das tue ich mit den Repräsentanten der anderen Verfassungsorgane.

Wie groß ist Ihre Sorge vor einer zweiten Welle samt neuem Lockdown?

Die Zustimmung zu den Maßnahmen ist nach wie vor hoch. Alle wissen jedoch, dass ein zweiter Lockdown extrem schädlich für die Wirtschaft wäre. Und wir dürften nicht mit derselben Akzeptanz rechnen wie noch vor vier, fünf Monaten. Deshalb ist die gesamte Politik in Bund und Ländern darauf ausgerichtet, dieses Szenario zu vermeiden. Gerade weil das allen bewusst ist, bin ich überzeugt, dass es gelingen wird – wenn alle mitziehen und die Menschen nicht nachlässig werden. Politik und Medizin werden das Virus nicht allein besiegen, sondern nur 83 Millionen Deutsche gemeinsam. Aus der Corona-Müdigkeit darf keine Rücksichtslosigkeit werden.

Als Bundespräsident müssen Sie ohne öffentliche Auftritte, ohne Staatsgäste, ohne Kontakt zu den Bürgern auskommen. Was hat sich für Sie und Ihr Amt verändert?

Ehrlich gesagt: alles! Das Amt des Bundespräsidenten lebt ja von der Präsenz der Person, von öffentlichen Auftritten und Reden, von Besuchen im ganzen Land und der Pflege der Beziehungen zu unseren Partnern im Ausland. Das Staatsoberhaupt entfaltet seine Integrationskraft auch darin, Menschen mit unterschiedlichen Meinungen an einen Tisch zu bringen. Es braucht die Begegnung, das direkte Gespräch. All das ist in den vergangenen Monaten der Pandemie zum Opfer gefallen. Ich musste also mich selbst und die Aufgabe – ja: neu erfinden.

Wie haben Sie das gemacht?

Trotz Abstand Nähe herstellen – das habe ich mir von Anfang an zur Aufgabe gemacht. Weil die Pandemie zwar alle trifft, aber nicht alle gleich, kümmere ich mich vor allem um die, denen auf dem Höchststand der Corona-Welle die größte Belastung zukam: alle, für die Homeoffice immer ein Fremdwort bleiben wird, im Krankenhaus, im Pflegeheim oder an der Supermarktkasse – und die dann mitunter sogar noch aus Frust beschimpft wurden. Also habe ich mit dem Lkw-Fahrer telefoniert, dem Müllmann, mit der Krankenschwester auf der Intensivstation, dem Altenpfleger, mit Lehrerinnen, Polizisten, Apothekern. Ich habe gemerkt, das war wichtig, und das haben mir auch einige sehr emotionale Rückmeldungen gezeigt.

Auch ein historischer Schritt: Sie sind als erster Bundespräsident auf Instagram aktiv, dem Foto- und Videoportal unter den sozialen Medien.

Ja. Das ist vielleicht nicht das gewohnte Kommunikationsmittel des Bundespräsidenten und kann andere Formen, etwa die Fernsehansprache oder die öffentliche Rede, nicht ersetzen. Aber gerade jetzt in der Krise gibt es mir die Möglichkeit zum direkten Kontakt und zur zielgerichteten Ansprache verschiedener Gruppen, gerade auch eines jüngeren Publikums. Das ist für mich ein willkommenes Instrument und wird, soweit ich sehe, auch gern angenommen.

Die Politiker in Bund und Ländern, die derzeit Entscheidungen treffen müssen, stehen vor einem Spagat: Viele Deutsche wünschen sich klare Vorgaben und strikte, möglichst einheitliche Auflagen. Kommen diese, fühlen sich andere in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt.

Die Politik hat Entscheidungen getroffen, die weit in den privaten Alltag der Menschen hineinwirken. Immer noch begrüßen achtzig Prozent der Deutschen diese Maßnahmen. Sie setzen darauf, dass der Staat für den Schutz seiner Bürger sorgt. Weil das im Großen und Ganzen gelungen ist, ist das Vertrauen in die Politik gestiegen. Es kommt jetzt darauf an, dass die Politik Gründe liefert, dieses gewachsene Vertrauen zu erhalten.

Sie warnten zu Beginn Ihrer Amtszeit vor einer neuen "Faszination des Autoritären" in Europa und der Welt. Nun rufen viele Deutsche nach strikten Verhaltensregeln trotz eingeschränkter Freiheiten. Wird Ihnen da nicht unwohl?

Die Menschen in Deutschland sind den Empfehlungen von Medizin und Politik aus Einsicht gefolgt, nicht aus stumpfem Gehorsam. Sie spüren, dass wir uns mit dem unbekannten Virus auf unsicherer Grundlage bewegen; dass sich auch Wissenschaft und Politik im dauerhaften Lernprozess befinden. Es ist ein großer Fortschritt für unsere politische Kultur, dass wir uns diesen Lernprozess zugestanden haben. Das ist alles andere als eine Rückkehr ins Autoritäre. Die Menschen trauen der Demokratie zu, Lösungen zu finden, unterschiedliche Interessen abzuwägen – während zugleich autokratische Systeme rund um den Erdball an Vertrauen verlieren. Es zeigt sich, dass sich das Virus nicht durch Vertuschung, Ignoranz und Kraftmeierei besiegen lässt.

Manch einer sorgt sich dennoch um die Grundrechte, zweifelt an der Verhältnismäßigkeit der Einschnitte – oder leidet unter den wirtschaftlichen Folgen. Wie können sich Menschen, die in Kurzarbeit sind, die Existenzängste plagen oder deren Kinder nicht in die Kita können, Gehör verschaffen? Demonstrationen gegen die Corona-Politik sind in Verruf geraten, seit sie von Rechtsextremen und Corona-Leugnern gekapert wurden.

Kritik ist nicht reserviert für coronafreie Zeiten. Aber es lohnt sich, genau hinzuschauen, denn zurzeit geht einiges durcheinander. Da gibt es verständliche und reale Sorgen, um die sich die Politik kümmern muss: Arbeitslosigkeit verhindern, Unternehmen erhalten, Eltern entlasten, Zugang zu Bildung sicherstellen, Kulturschaffende unterstützen. Da gibt es Diskussionen über die Maßnahmen, die für uns alle belastend sind, über deren Sinn wir offen reden und die wir mit immer besserem Wissen auch immer präziser fassen müssen. Und dann gibt es irritierende Positionierungen, etwa wenn auf Demonstrationen die Gefahr von Infektionen geleugnet oder Ideen einer Weltverschwörung verbreitet werden. Das ist nicht verboten, bleibt aber trotzdem falsch. Da müssen wir gegenhalten. Meinungsfreiheit heißt ja nicht, ohne Widerspruch durchs Leben gehen zu können. Gänzlich endet mein Verständnis, wenn die Demonstranten gleichgültig neben Demokratiefeinden, Rechtsextremen und Antisemiten laufen. Das geht nicht.

Wir erleben, dass Rechte und Linke gemeinsam marschieren. Wie groß ist Ihre Sorge, dass diese Minderheiten mehr werden? Immerhin sind noch fünf Millionen Deutsche in Kurzarbeit – sie fürchten Arbeitslosigkeit und sind unzufrieden.

Wenn vor dem Reichstag Reichsflaggen und extremistische Hetze zu sehen sind, ist das unerträglich. Dieser Ort ist nicht irgendein Ort in der deutschen Geschichte! Doch ich bin mir sicher, dass die allermeisten Menschen in unserem Land das ablehnen. Die große Mehrheit der Deutschen lässt sich von Vernunft und Einsicht leiten. Sie alle wissen, dass sie in einem Land leben, das im weltweiten Vergleich mit einer gefährlichen Infektionskrankheit verantwortungsvoll umgegangen ist.

Wie schon zu Beginn Ihrer Amtszeit nach dem Jamaika-Aus gelten Sie erneut als Stabilitätsanker. Schon werden Rufe nach einer zweiten Amtszeit für Sie laut. Würden Sie dafür zur Verfügung stehen, oder schließen Sie das aus?

Das Amt des Bundespräsidenten bietet ganz vielfältige Herausforderungen: Debatten über die Zukunft unserer Demokratie, das Lebendighalten des historischen Gedenkens, das Zusammenführen von Menschen aus Ost und West, Stadt und Land, mit verschiedenen Lebensgeschichten und Erfahrungen. Ich kann denen Aufmerksamkeit schenken, die sonst eher im Schatten stehen, sich abgehängt, missverstanden oder gar verraten fühlen. Ich darf unser Land nach außen vertreten, internationale Beziehungen pflegen und die innenpolitischen Diskussionen um den Blick von außen bereichern. All diese Aufgaben sind nach dreieinhalb Jahren unverändert fordernd und spannend. Über alles andere ist jetzt nicht zu entscheiden.

Aktuell wächst sich die Diagnose, dass der Kremlkritiker Alexej Nawalny vergiftet worden ist, zu einer neuen diplomatischen Krise aus. Was bedeutet das für die deutsch-russischen Beziehungen?

Die Ergebnisse der sorgfältigen Untersuchung bestätigen leider die schlimmsten Befürchtungen: Nawalny ist schwer vergiftet worden mit dem Ziel, ihn zum Schweigen zu bringen. Die drängendsten Fragen richten sich nun an die Regierung in Moskau. Die konkreten Konsequenzen aus den jüngsten Erkenntnissen wird die Bundesregierung zu ziehen haben, in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern. Aber dass Oppositionelle und kritische Stimmen in Russland in Serie um ihre Gesundheit oder ihr Leben fürchten müssen, ist ohne Zweifel eine schwere Belastung für die Glaubwürdigkeit der russischen Führung und erschwert die Zusammenarbeit. Wir wollen keine Feindschaft mit Russland oder dem russischen Volk. Aber Unrecht muss klar benannt werden. Und hier ist ein Verbrechen verübt worden, dessen Verantwortliche nur in Russland zu finden sein werden.

Die Fragen stellten: Steven Geyer und Marco Fenske