Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg

Schwerpunktthema: Interview

4. September 2020

Der Bundespräsident hat dem Rundfunk Berlin-Brandenburg zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit ein Interview gegeben, das am 4. September im Radiosender radioeins gesendet wurde: "Mein Wunsch ist, dass man diese Geschichte am Ende nicht nur aus Zeitungsartikeln und aus Büchern liest, sondern dass die Antworten gegeben werden von Menschen, die die Jahre vor 1989 und nach 1990 erlebt haben."


Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit ein Interview gegeben, das am 4. September im Radiosender radioeins gesendet wurde:

Herr Bundespräsident, Sie sind der Auslöser für unsere Sendereihe, denn Ihnen ist es ein Anliegen, Ost und West ins Gespräch zu bringen. Sie laden Menschen aus Ost und West regelmäßig ins Schloss Bellevue ein. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Ja, mein Eindruck war und ist, dass wir noch ganz viele Geschichten in unserem gemeinsamen Land haben, die unerzählt geblieben sind. Geschichten aus den Jahren vor dem Mauerfall und nach der Einheit. Geschichten, die wir miteinander teilen können. Deshalb heißt die Reihe auch Geteilte Geschichte(n) zu der ich immer wieder einlade.

Ich könnte darüber jetzt lange erzählen. Vielleicht nur ein kleiner Aspekt, der mir in Erinnerung geblieben ist. Die Kölner Dokumentarfilmerin Regina Schilling sagt zum Beispiel: Ich stand vor dem Goethehaus in Weimar und wusste plötzlich: Dieses Land, das ist ein Land. Das ist ein kleiner Aspekt. Aber, was mir über die ganze Reihe hin klar geworden ist: Es gibt eben nicht die eine deutsche Geschichte, nicht die eine Geschichte zur Einheit, nicht die eine Erzählung, sondern es sind ganz unterschiedliche Erzählungen, ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Deutsche Einheit, von denen viele ihre Berechtigung haben. Und wenn wir über Deutsche Einheit heute – dreißig Jahre später – reden, dann glaube ich, geht es gerade darum, die Berechtigung beziehungsweise die Vielschichtigkeit anzuerkennen, weil aus dieser Vielfalt Einheit entsteht.

Wir feiern in diesem Jahr dreißig Jahre Deutsche Einheit. Warum reden Ost und West noch zu wenig miteinander?

Es gibt – nach meinem Eindruck – ganz viele Gründe dafür, und sie liegen nicht alle im Osten unseres Landes. Aber ich glaube, wir müssen schon damit beginnen, indem wir uns erinnern und sagen: Die größeren Folgen haben sich natürlich in den fünf neuen Bundesländern gezeigt – mit Massenarbeitslosigkeit, mit Massenabwanderung, mit einem völlig neuen Schulsystem, mit einem völlig neuen Sozialsystem. Will sagen: Es gibt eigentlich keine einzige Familie, keine einzige Biografie, die unberührt geblieben ist. Das weiß man im Westen, aber es ist doch im Westen eher eine Kopfsache geblieben – nach meinem Eindruck. Selbst diejenigen, die sich darum bemühen, können nicht wirklich nachempfinden, was das am Ende für die Familien und für Einzelpersonen in Ostdeutschland bedeutet.

Vor allen Dingen fragen viele Jüngere heute – dreißig Jahre später – nach den Gründen. Und was ich mir wünsche, und auch das macht ein solches Gespräch, wie heute, und eine Reihe, wie ich sie im Schloss Bellevue veranstalte, sinnvoll – mein Wunsch ist, dass man diese Geschichte am Ende nicht nur aus Zeitungsartikeln und aus Büchern liest, sondern dass die Antworten gegeben werden von Menschen, die die Jahre vor 1989 und nach 1990 erlebt haben.

Wir bewegen uns in diesem Gespräch vor allem in der Gegenwart, aber jetzt doch noch mal der Blick in die Vergangenheit. Sie waren am Tag des Mauerfalls 33 Jahre alt. Am Tag der Deutschen Einheit waren Sie 34 Jahre alt. Wie hat der 33-/34-jährige Frank-Walter Steinmeier diese besonderen Tage erlebt?

Ehrlich gesagt, es war so, dass ich in diesem Sommer 1989 zu einem großen Teil in fast klösterlicher Abgeschiedenheit in den Schlussarbeiten meiner Doktorarbeit saß. Es war wirklich so, dass das Ganze zu Ende ging. Ich wollte das Ganze zu Beginn 1990 abschließen. Aber dann ging es mir, wie allen anderen. Wir haben natürlich dann fast jeden Abend mit heißem Herzen die Nachrichten verfolgt – die Nachrichten aus Plauen, aus Leipzig, aus Ostberlin. Und es hat wahrscheinlich am Ende auch für mich und meine berufliche Biografie großen Einfluss gehabt. Weil, ich kann mich noch erinnern: Ich konnte mir damals eigentlich eine Zukunft in der Wissenschaft ganz gut vorstellen. Als die Mauer fiel, als der Weg zur Deutschen Einheit beschritten war, wusste ich: Hier wird Geschichte gemacht, und jetzt kannst Du Dich nicht einschließen, für die nächste große wissenschaftliche Arbeit.

Ich bin dann in die Politik gegangen. Über Niedersachsen zunächst, weil Niedersachsen mitverantwortlich war – mitgeholfen hat beim Aufbau in Sachsen-Anhalt. Ich bin viel in Sachsen-Anhalt gewesen, habe dann später Manfred Stolpe kennengelernt, von dem ich viel, viel erfahren habe über ostdeutsche Befindlichkeiten.

Für die jüngeren Zuschauer/Zuhörer: Ein wichtiger Vertreter der Kirche, später Ministerpräsident von Brandenburg.

Ja, der mich auch geworben hat, im Grunde genommen für Brandenburg, und gesagt hat: Wenn Dir irgendwann mal nichts Besseres einfällt, komm nach Brandenburg. Da ist dann viele Jahre später sogar was draus geworden.

Ich habe dann, als ich mich um einen Wahlkreis beworben habe, den Wahlkreis Havelland von – im Norden – Rathenow bis in den Süden Jüterbog und dazwischen, sozusagen als größte Stadt, Brandenburg an der Havel vertreten. Ich habe in dieser Zeit viel gelernt, weil wir viele Veranstaltungen, viele Gespräche hatten, in denen mir die Menschen noch einmal berichtet haben: von den Jahren des Umbruchs, von den persönlichen Umbrüchen, und von der Last, die sie aus der Zeit mitgetragen haben.

Wie erklären Sie sich, Sie haben es eben schon mal kurz angesprochen, dass Menschen, die 1990 oder sogar noch später geboren wurden, heute oft noch sagen "Na klar bin ich Ossi" oder "Na klar bin ich Wessi"?

Ich glaube, das ist nichts spezifisch Ostdeutsches, sondern Identitäten werden eben häufig durch Gruppen geprägt. Und das betrifft die Sprache, das betrifft die Erziehung, das betrifft auch den Blick auf Geschichte. Insofern ist es erst mal gar nichts Ungewöhnliches, das ostdeutsche Jugendliche heute das Bild der späten DDR und der frühen Jahre der Einheit vermittelt bekommen über Eltern und Großeltern.

Wenn man den wissenschaftlichen Studien folgt, ist das bei ostdeutschen Jugendlichen mit dieser Art von Identitätsbildung noch ein bisschen stärker als bei westdeutschen Jugendlichen. Aber das ist eben kein wirklich fester Tatbestand, sondern da ist etwas in Veränderung, und das ist das eigentlich Erfreuliche, finde ich.

Anders als Eltern und Großeltern haben Jugendliche aus den östlichen Bundesländern heute überhaupt gar keine Scheu mehr und unternehmen gar keinen Versuch, ihre Herkunft in irgendeiner Weise zu verschweigen, darüber nicht zu reden, sondern, was doch das eigentlich Erfreuliche ist, anders als viele ihrer Eltern und Großeltern, sagen die heute ganz selbstbewusst: Ich komme aus Ostdeutschland. Das ist eine gute Entwicklung.

Auf die nächste Frage könnten Sie dreißig bis vierzig Minuten antworten. Das weiß ich. Vielleicht nennen Sie nur einen Punkt jeweils: Was ist in dreißig Jahren Deutsche Einheit richtig gut gelaufen? Und, Sie ahnen, was der zweite Teil der Frage ist: Was ist nicht so gut gelaufen?

Ja, was gut gelaufen ist, das sehe ich jedes Mal, wenn ich durch die ostdeutschen Bundesländer fahre – und ich bin viel unterwegs gewesen. Ich verkenne nicht die Probleme in der Fläche, auf dem platten Land, wo noch viel zu tun ist. Aber wenn ich heute durch Dresden, durch Leipzig, durch Schwerin, durch Weimar fahre, dann sehe ich, was sich dort entwickelt hat, in diesen dreißig Jahren. Und die Menschen, die dort wohnen, sehen es auch. Und noch etwas, die Attraktivität der Städte, des Angebots von Universitäten, Lehrstellen wird ja auch in Westdeutschland gesehen. Wir haben, ich glaube, im letzten Jahr zum ersten Mal mehr Westdeutsche gehabt, die nach Ostdeutschland gegangen sind, als umgekehrt.

Sie haben den zweiten Teil der Frage nicht so richtig beantwortet. Was ist nicht so gut gelaufen?

Nein, ich dachte, die Frage kommt jetzt noch. (lacht)

Nein, natürlich gibt es viel aufzuholen, und das meine ich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch im Verständnis zueinander, füreinander. Und da sind solche Jubiläen und Erinnerungsorte, wie jetzt am 3. Oktober, natürlich ganz besonders sinnvoll und notwendig, um sich einfach noch mal klarzumachen, wo dieser Nachholbedarf tatsächlich besteht. Und, ich glaube, viele Ostdeutsche erwarten und erwarten zu Recht, wenn ich das so sagen darf, dass ihre Lebensleistung vor und nach dem Mauerfall, vor dem Mauerfall und nach der Deutschen Einheit, von den Westdeutschen stärker anerkannt wird. Ich weiß auch, dass Westdeutsche erwarten, dass ihr finanzieller Beitrag nach der Einheit in Ostdeutschland stärker anerkannt werden sollte. Vielleicht müssen wir darüber auch noch mal intensiver reden.

Was viel wichtiger ist, dass heute von beiden Seiten, aus Ost- und Westdeutschland, eigentlich der Ruf nach mehr Zusammenhalt, nach mehr miteinander kommt. Und dem sollten wir nachkommen – gerade auch mit Blick auf jüngste Entwicklungen und Spaltungstendenzen, wie wir sie in Deutschland erleben.

Zu der Frage wollte ich jetzt kommen. Also in den Jahren nach 1990 war häufig von Spaltung die Rede – zuletzt im Jahr 2015. Wenn auf einmal Menschen auf Demonstrationen mit Plakaten rumlaufen auf denen gewählte Politiker in Sträflingskleidung zu sehen sind, oder andere sogar versuchen den Reichstag zu stürmen, da stellt sich die Frage: Wie gespalten ist denn Deutschland? Oder: Wie gespalten ist unsere Gesellschaft?

Gerade mit Blick auf die jüngsten Demonstrationen: Ich glaube ja nicht daran, dass Corona, die Epidemie, die Erfahrung mit der Epidemie oder gar die Beschränkungsmaßnahmen, die Spaltung hervorrufen. Nach meinem Eindruck verstärkt der Blick auf die Krise, die Sicht auf die Spaltungen, die es vorher auch schon gab. Und in der Tat, da müssen wir sehr viel genauer hinschauen.

Es gibt Menschen – gerade im Osten unseres Landes – die sagen: Wir haben so viel erlebt, so viel durchstanden, deshalb kann uns diese Corona-Krise nicht schrecken. Es gibt Menschen in Ost und West, die sagen genau das Gegenteil: Weil wir schon viel ertragen und erlitten haben, jetzt nicht auch das noch. Und daraus wächst dann bei manchen das Gefühl von Empörung und Ablehnung bis hin zu Ablehnung und Empörung über Politik und Demokratie. Das muss Politik ernstnehmen und vor allen Dingen immer wieder zu versuchen, Kontakt zu denjenigen zu halten, die noch erreichbar sind. Das sind einige – auch nicht alle.

Aber was wir auch nie aus dem Blick verlieren dürfen: Es sind, wenn man den Umfragen glauben darf, achtzig Prozent der Menschen, die trotz aller Belastungen und trotz des Ärgers, obwohl der Mundschutz nervt, nach wie vor einverstanden sind mit den beschränkenden Maßnahmen – manche wollen sogar ein strengeres Regime. Und deshalb, glaube ich, dürfen wir uns auch nicht völlig verrückt machen lassen von dem, was wir da sehen. Ich glaube eher, dass in diesen letzten Monaten das Vertrauen in Politik und in Demokratie eher gestiegen ist. Es kommt jetzt darauf an, dass die Politik Gründe liefert, dieses gewachsene Vertrauen zu halten.

Und da sind Sie optimistisch?

Da kann man nicht per se optimistisch sein, sondern: Es ist ein Auftrag.

Zum Abschluss eine persönliche Frage. Im Rahmen dieser Reihe wird unter anderem die ostdeutsche Musikerin Stefanie Kloß von der Band Silbermond auf den westdeutschen Musiker Campino von den Toten Hosen treffen. Und da fiel mir auf, ich weiß gar nicht, welche Musik der Bundespräsident eigentlich gerne hört. Welche Musik hören sie gerne privat?

Ehrlich gesagt, das wechselt ein bisschen. Ich komme jetzt grade – vorvergangenes Wochenende – von dem Eröffnungskonzert der Berliner Philharmoniker für die neue Spielzeit. Wenn ich zu Hause bin, ist das eindeutig eine Vorliebe für den Jazz und deshalb freue ich mich auch ganz besonders auf das diesjährige Adventskonzert hier im Schloss Bellevue, wo wir zum ersten Mal, wenn man so sagen darf, die Mentoren des deutschen Jazz Ost und West miteinander vereint haben: Klaus Doldinger und Günther Fischer. Und wenn sie auch noch Musik spielen, im Verlaufe dieser Sendung, würde ich mich sehr freuen, wenn Solo Sunny darunter wäre.

Vielen Dank, Herr Bundespräsident, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben.

Die Fragen stellte: Marco Seiffert