Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der kenianischen Tageszeitung Daily Nation vor seinem Staatsbesuch in der Republik Kenia ein Interview gegeben, das am 23. Februar erschienen ist.
Rund neun Jahre nach dem Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in unserem Land, Juli 2011, kommen Sie nun nach Kenia. Welchem Zweck soll Ihre Reise dienen?
Ich freue mich, nach genau fünf Jahren wieder ihr schönes Land zu besuchen. Damals kam ich als deutscher Außenminister. Heute ist es mir eine besondere Ehre, das im Rahmen des ersten Staatsbesuches eines deutschen Bundespräsidenten in Kenia zu tun. Ich gebe zu, dieser Besuch ist überfällig. Denn Kenia und Deutschland sind auf vielfältige Art eng verbunden und außerdem als wichtige Länder in ihren jeweiligen Regionen natürliche Partner bei der Bewältigung von Zukunftsaufgaben. Es gibt viele Themen, bei denen wir beide von einer engeren Zusammenarbeit profitieren können. Dazu zähle ich den Kampf gegen den Klimawandel, den wir immer stärker spüren.
Ein enorm wichtiges Thema für uns alle ist die voranschreitende Digitalisierung, die alle Lebensbereiche erfasst, egal ob in Kenia oder in Deutschland. Ich freue mich besonders darauf, die Innovationsfreude in Ihrem Land persönlich zu erleben, die mit neuen Ideen frischen Wind in die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Afrikas bringt. Kurz gesagt: Ich bin neugierig auf meine Begegnungen in den nächsten Tagen und bin Präsident Kenyatta dankbar für die Einladung und für die Gastfreundschaft.
Deutschland war das erste Land, das zu Kenia nach dessen Unabhängigkeit förmliche diplomatische Beziehungen aufgenommen hat. Welche Bilanz dieser bilateralen Beziehungen ziehen sie heute?
Sie haben völlig recht. Deutschland war der erste Staat, der Kenia nach der Unabhängigkeit im Jahr 1963 anerkannte. Daran erinnern bis heute die Autokennzeichen der Deutschen Botschaft in Nairobi: 1 CD. Deutschland als Auto-Land
hat das immer als eine besondere Ehre empfunden. Kenia und Deutschland verbinden seit sechs Jahrzehnten gute und freundschaftliche Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur. Daher begleiten mich auf dieser Reise prominente Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die sich in Kenia engagieren. Ich bin zuversichtlich, dass mein Besuch Impulse geben kann, unsere Verbindungen zum Wohle unserer Völker noch zu vertiefen.
Wie wird die Zukunft der deutsch-kenianischen Beziehungen aussehen, angesichts der Tatsache, dass auch andere aufstrebende Weltmächte die Zusammenarbeit mit Afrika suchen?
Kenia und Deutschland sind auf ihren Kontinenten Länder mit positiver Strahlkraft – in ihrer Region und darüber hinaus. Unsere Kontinente, Afrika und Europa, sind geographische Nachbarn. Aber wir tun uns manchmal schwer damit, diese Realität emotional zu begreifen. Ich werbe dafür, dass wir in Europa einsehen: Eine gute Zukunft Afrikas ist für unsere Entwicklung und für die Entwicklung unseres ganzen Planeten von entscheidender Bedeutung. Anders ausgedrückt: Unsere Zukunft kann nur als gemeinsam verstandene und gemeinsam gestaltete Zukunft gelingen. Unsere Nachbarschaft, unser Lernen voneinander, Wertschätzung, Toleranz und Austausch entfalten hoffentlich eine neue fruchtbare Partnerschaft zum Wohle beider Seiten.
Mich beeindruckt der Wille zum Aufbruch, wie er in der Gründung der Afrikanischen Freihandelszone zum Ausdruck kommt. Aber auch die gesellschaftliche Öffnung und der politische Aufbruch in Kenias Nachbarschaft, etwa in Äthiopien und im Sudan. Deutschland und Europa unterstützen die Transformation in beiden Ländern mit allem Nachdruck. Auch wirtschaftlich gibt es große Chancen. Kenia wird von vielen Unternehmen als Zukunftsmarkt wahrgenommen.
Entwicklungshilfe und Handelsbeziehungen werden oft gegeneinander ausgespielt. Welche Strategie präferiert Deutschland gegenüber Kenia?
Ich sehe darin kein Entweder-oder. Unsere Erfahrung zeigt: Beides, privatwirtschaftliche Kooperation und staatliche Entwicklungszusammenarbeit, sind wichtige Bausteine unserer Partnerschaft. Als eine der stärksten Volkswirtschaften ist Kenia der wichtigste Wirtschaftspartner Deutschlands in Ostafrika. Zugleich ist Kenia Schwerpunktpartnerland unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Deutschland gehört zu den wichtigsten internationalen Geberländern. Unser Portfolio aus politisch zugesagten oder aktuell durchgeführten Projekten beläuft sich auf etwa eine Milliarde Euro. Dabei ist die Förderung von Jugendbeschäftigung das Hauptziel der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Deutschland unterstützt die nachhaltige Landwirtschaft, den Ausbau erneuerbarer Energien und die Korruptionsbekämpfung. Kenia ist außerdem ein wichtiges Aufnahmeland von Flüchtlingen in der Region – eine Tatsache, die in Deutschland wenig bekannt ist. Ich freue mich daher, mir bei meinem Besuch in Turkana ein eigenes Bild machen zu können. Wir unterstützen auch die Versorgung von Geflüchteten und Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen.
Ich werde aber auch von einer Wirtschaftsdelegation begleitet. Denn das Interesse deutscher Firmen an Kenia und am riesigen Markt der Ostafrikanischen Gemeinschaft wächst. Ich bin mir sicher: Die Begegnungen und Gespräche während meines Besuches bieten gute Chancen, unsere bilateralen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen auszubauen. Die meisten großen deutschen Unternehmen sind mit Niederlassungen in Kenia vertreten, viele von ihnen sogar mit größeren regionalen Vertretungen.
Deutschland und Kenia teilen seit jeher die Auffassung, dass der gewalttätige Extremismus bekämpft werden muss. Die Mission der Afrikanischen Union zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Friedenserhaltung in Somalia, abgekürzt AMISOM, an der sich Kenia beteiligt, leidet allerdings nach wie vor unter finanziellen Engpässen. Mit welcher Art von Unterstützung kann Nairobi in diesem Zusammenhang von Seiten Deutschlands rechnen?
Lassen Sie mich ganz ausdrücklich sagen: Deutschland schätzt Kenia als wichtigen Stabilitätsanker in der Region Ostafrika. Kenia setzt traditionell auf Ausgleich, gute nachbarschaftliche Beziehungen sowie friedliche Streitbeilegung. Darüber hinaus schätzt Deutschland in besonderer Weise das seit vielen Jahren anhaltende Engagement Kenias bei der Terrorismusbekämpfung und der Stabilisierung Ihres Nachbarlandes Somalia. Seit 2012 sind kenianische Truppen ein unabdingbarer Bestandteil der von der EU, von Deutschland und der internationalen Gemeinschaft unterstützten AU-Mission AMISOM. Dabei lässt sich Ihr Land auch von wiederholten schweren Anschlägen von Al-Shabaab, zuletzt zu Beginn dieses Jahres, nicht abschrecken. All das gelingt Ihrem Land und das bisher grundsätzlich gute Verhältnis zwischen christlicher Mehrheit und muslimischer Minderheit bleibt gewahrt. Eine Tatsache, auf die Kenia stolz sein darf. Deutschland unterstützt Somalia insbesondere bei der Reform des Sicherheitssektors, im Bereich maritime Sicherheit sowie bei politischen Reformen und beim Wiederaufbau des Landes.
Mit dem Brexit wird Deutschland zur größten Volkswirtschaft in der Europäischen Union. Was dürfen wir von Deutschlands Verhältnis zu Kenia von nun an erwarten?
Deutschland ist seit langem die stärkste Volkswirtschaft in Europa. Aber so sehr wir das Ausscheiden Großbritanniens bedauern: Unsere Hauptaufgabe ist es, die Europäische Union der 27 zusammenzuhalten und zu stärken. Seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hat am 1.2.2020 die Übergangsphase begonnen. Wir wollen eine möglichst enge Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich beibehalten. Die Detailfragen werden nun in den nächsten Monaten verhandelt. Während der Übergangsphase bleibt das Vereinigte Königreich an Präferenzabkommen der EU gegenüber Staaten wie Kenia gebunden. Aber Deutschland und die EU haben ein großes Interesse daran, die Beziehungen zu Kenia unabhängig von der Frage des Brexits auszubauen und zu stärken.
Der Wert des Systems der Vereinten Nationen beziehungsweise des Multilateralismus steht immer mehr in Frage, da dieser von einigen Weltmächten aus Eigeninteresse untergraben wird. Wie will Deutschland den Multilateralismus verteidigen? Und was könnte man besser machen?
Ein Rückzug auf ein eng verstandenes nationales Interesse schadet uns allen. Das führt uns zurück in eine Welt, in der jeder die eigene Sicherheit auf Kosten der anderen zu vergrößern sucht. Aber eine solche Absage an die internationale Zusammenarbeit hindert uns eben auch daran, überzeugende Antworten zu entwickeln auf jene Fragen und Probleme, die keiner, auch nicht der größte Nationalstaat auf diesem Erdball, allein geben kann. Es beschädigt die Institutionen und Instrumente, die wir notwendig brauchen, um die großen Menschheitsfragen anzugehen, die in den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen festgehalten sind. Der Klimaschutz ist nur eines davon. Aber hier wird täglich sichtbarer: Die Folgen treffen nicht nur die Kleinen. Nationale Scheuklappen und Kurzsichtigkeit werden auch den Größten unter uns hohe Kosten auferlegen. Überall auf der Welt wird die Generation unserer Kinder und Kindeskinder einen hohen Preis bezahlen für Nichthandeln und für nationale Alleingänge, die gemeinschaftliches Handeln unterlaufen.
Deutschland ist aktuell Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Wir haben das erste Jahr unserer Mitgliedschaft genutzt, um die Zusammenarbeit der Vereinten Nationen mit den afrikanischen Partnern weiter zu intensivieren. Beispielsweise unterstützen wir als einziger westlicher Truppensteller die gemeinsame VN-AU-Friedensmission in Darfur. Diese Mission kann ein Leitbild für die Zukunft der Kooperation zwischen New York und Addis Abeba sein: Internationale Unterstützung bei dem Ziel, afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme zu erreichen. In der VN-Friedensmission MINUSMA in Mali ist Deutschland größter europäischer Truppensteller. Außerdem engagieren wir uns nicht nur bilateral für den Kampf gegen Ebola, sondern auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Gemeinsam setzen wir uns für Silencing the Guns
in Afrika ein.
Wir möchten den Multilateralismus und die regelbasierte Weltordnung in Zusammenarbeit mit unseren afrikanischen Partnern stärken – auch im VN-Sicherheitsrat. Dafür hat die deutsche Bundesregierung eine Allianz für den Multilateralismus
ins Leben gerufen, um ganz praktisch neue Formen der Zusammenarbeit im gemeinsamen Interesse zu ermöglichen.
Nairobi ist ein bedeutendes regionales Zentrum für große VN-Organisationen, wie etwa das VN-Umweltprogramm UNEP oder das Siedlungs- und Stadtentwicklungsprogramm UN-Habitat. Und Kenia ist für uns ein wichtiger Partner im weltweiten Werben um gemeinschaftliche Lösungen in der Zeit des Anthropozän, in der der Mensch erstmals die Lebensbedingungen auf unserem Planeten durch sein eigenes Handeln tiefgreifend verändert.
Die Fragen stellte: Aggrey Mutambo