Interview mit der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera

Schwerpunktthema: Interview

18. September 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera vor seinem Staatsbesuch in Italien ein Interview gegeben, das am 18. September erschienen ist: "Die EU befindet sich in einer schwierigen Phase und ist dringend auf Mitgliedstaaten angewiesen, die die Handlungsfähigkeit der Union erhalten und wiederherstellen. Ich bin daher froh, dass Italien mit dieser Regierungsbildung zurück auf dem europäischen Spielfeld ist."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit dem Redakteur der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera, Paolo Valentino, im Amtszimmer von Schloss Bellevue

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera vor seinem Staatsbesuch in der Republik Italien ein Interview gegeben, das am 18. September erschienen ist.

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach das deutsch-italienische Verhältnis in Europa oder welche Rolle sollte es spielen?

So unterschiedlich wir sind, Deutsche und Italiener, so haben wir doch aus den Schrecken von Faschismus, Nationalsozialismus und den beiden Kriegen des vergangenen Jahrhunderts den richtigen Schluss gezogen. Der richtige Schluss daraus ist unser geeintes Europa. Italien und Deutschland gehören zu den Gründerstaaten der Europäischen Union. Gemeinsam haben wir über viele Jahrzehnte unseren ganzen Willen, unsere Energie und Kraft investiert, um dieses Europa zu einen und nie wieder in die Auseinandersetzungen der Vergangenheit zurückzufallen. Gemeinsam haben wir dann aus diesem Friedensprojekt eine politische Union geschaffen, die uns stark sein lässt, wo ein Staat allein zu schwach ist.

Aber keine Frage: Die EU befindet sich in einer schwierigen Phase und ist dringend auf Mitgliedstaaten angewiesen, die die Handlungsfähigkeit der Union erhalten und wiederherstellen. Ich bin daher froh, dass Italien mit dieser Regierungsbildung zurück auf dem europäischen Spielfeld ist. Gerade jetzt – zu Beginn einer neuen Amtsperiode der EU-Kommission – werden die Weichen politisch und finanziell neu gestellt. Ich bin sicher, dass die enge europäische Zusammenarbeit von Italien und Deutschland dabei notwendig und konstruktiv sein wird. Das Ziel meines Besuches ist es, dieser Zusammenarbeit einen neuen Impuls zu geben. Der Zeitpunkt ist günstig.

Man sagt, dass Sie ein sehr gutes persönliches Verhältnis zu Staatspräsident Mattarella haben. Was prägt es? Was können wir uns darunter vorstellen?

Wenn ich auf die erste Hälfte meiner Amtszeit zurückschaue, so ist Staatspräsident Mattarella sicherlich das Staatsoberhaupt weltweit, das ich am häufigsten getroffen habe. Immerhin sind wir uns schon fünfmal begegnet. Und ich freue mich, dass wir uns bei meinem jetzigen Besuch in Rom und auch in Neapel sehen werden. Den Staatspräsidenten und mich verbindet sehr viel. Nicht nur der gemeinsame Blick auf Europa und die Überzeugung, den europäischen Zusammenhalt zu wahren, sondern uns verbindet auch der Blick auf die Gesellschaften in unseren jeweiligen Ländern. Wir schauen mit Sorge auf Risse, die es unzweifelhaft gibt – zwischen Regionen, zwischen Generationen, zwischen arm und reich. Wir investieren beide viel Zeit und Kraft darin, den Zusammenhalt in unseren Ländern zu erhalten. Wir wenden uns beide gegen eine Verrohung in der Sprache und eine Polarisierung in der Politik. Staatspräsident Mattarella und ich stehen ein für die Demokratie. Wir wissen, dass Demokratie nie ohne Kontroverse leben kann, aber dass die Kontroverse Spielregeln braucht. Wir sind beide Menschen, die für Vernunft, Respekt, für Maß und Mäßigung stehen.

Vor vier Wochen haben Sie in Fivizzano eine sehr bewegende Rede gehalten. Danach waren Sie zur Gedenkveranstaltung des 1. Septembers in Polen. Zwei Termine, die bestätigen, dass Sie die historische Kriegsverantwortung Deutschlands wahrnehmen. Polen verlangt zudem Reparationszahlungen. Ist das gerechtfertigt?

Es gibt keine gute Zukunft ohne die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Deshalb widme ich mich gerade in dieser Zeit dem Gedenken an den 80. Jahrestag des Kriegsbeginns und der Erinnerung an die furchtbaren Massaker, die Waffen-SS und Wehrmacht in der Toskana angerichtet haben. Deshalb war mir der Besuch in Fivizzano so wichtig. Mit diesem und auch meinen früheren Besuchen in Civitella, in Rom in den Fosse Ardeatine und in der Risiera di San Sabba will ich zeigen: Unser gemeinsames Gedenken ist für mich mehr als das Bekenntnis zur deutschen Schuld. Es ist vor allem der Wunsch, den Weg der Versöhnung, den Deutschland und Italien miteinander gegangen sind, in die Zukunft zu richten. Die von mir als damaliger Außenminister und meinem italienischen Amtskollegen 2008 ins Leben gerufene deutsch-italienische Historikerkommission und der dann gegründete deutsch-italienische Zukunftsfonds sind dafür sehr wichtig. Inzwischen sind mehr als 50 Erinnerungsprojekte in Italien realisiert worden.

Das ist der richtige Weg, mit der Vergangenheit umzugehen: sie nicht als abgeschlossen zu betrachten, sondern als eine gemeinsame Verantwortung für eine bessere Zukunft. Ich hoffe, dass wir diesen Weg auch mit Polen weitergehen können, ohne uns in einer rückwärtsgewandten Debatte um Reparationen zu verlieren. Ich würde mir sehr wünschen – und so habe ich auch immer meine Gespräche in der Vergangenheit in Polen geführt –, dass wir den Weg der Versöhnung, den Generationen vor uns mühsam und mit Schmerzen begonnen haben, weitergehen. Für uns Deutsche heißt das: die Vergangenheit nicht vergessen, die Schuld bekennen und die Verantwortung begreifen. Aber wir möchten auch mit Polen nicht nur zurück in die Vergangenheit schauen, sondern an der gemeinsamen Zukunft beider Staaten in guter Nachbarschaft arbeiten, vor allem auch für eine gemeinsame europäische Zukunft. Und eigentlich waren wir auf diesem Weg schon weit gekommen.

Das Thema Migration spaltet die europäischen Länder. Die ehemalige italienische Regierung unter Innenminister Salvini hat eine harte Linie vertreten, die zu Zuspitzungen auch mit Deutschland führte. Wie soll Europa auf die Herausforderungen der Migration antworten?

Italien und spätestens seit 2015 auch Deutschland haben viel getan für Flüchtlinge, die ihren Weg über das Mittelmeer gesucht haben. Umso bedauerlicher ist, dass sich beide Länder in den vergangenen anderthalb Jahren gerade in der Flüchtlingsfrage voneinander entfernt haben. Die Lage hat sich nicht entspannt, das zeigt allein die Zahl der Toten im Mittelmeer. Ich bin sicher: Es gibt mit der neuen italienischen Regierung wieder die Voraussetzung dafür, dass wir an gemeinsamen Lösungen arbeiten. Zentral ist in der Tat für mich, dass wir Italien bei alledem nicht alleine lassen dürfen. Ich bin zuversichtlich, dass die neue Europäische Kommission sich sehr entschieden für Lösungen in der Migrationsfrage einsetzen wird. Ich hoffe, dass es für die gemeinsamen europäischen Anstrengungen, die auch Italien entlasten würden, künftig mehr Unterstützung gibt als in der Vergangenheit.

Ich möchte hinzufügen, dass wir uns in der Zusammenarbeit nicht auf die Flüchtlingsfrage beschränken. Die Flüchtlingsfrage hängt eng mit der Situation in Libyen zusammen. Und die Lage dort verlangt eine neue europäische Anstrengung, wenn die Erosion von Staatlichkeit noch aufgehalten werden soll. Italien und Deutschland – gemeinsam mit Frankreich – könnten eine solche Initiative anstoßen und vorbereiten.

Die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg haben eine gespaltene Wählerschaft zum Ergebnis. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall scheinen West- und Ostdeutschland voneinander entfernter, als wir das wünschen sollten. Was ist bei der Wiedervereinigung schlecht gelaufen?

Wir lernen in Ost und West, dass die Deutsche Einheit weit mehr ist als eine einmal gefällte politische Entscheidung. Sie ist ein Prozess, der auch nach dreißig Jahren noch nicht abgeschlossen ist. Die Wiedervereinigung bedeutet mehr als nur vergleichbare wirtschaftliche Verhältnisse in West- und in Ostdeutschland zu schaffen. Dreißig Jahre nach der Deutschen Einheit sind wir den Freiheitskämpfern in der ehemaligen DDR ebenso dankbar wie den europäischen Nachbarn, die sie ermöglicht haben. Und wir stellen fest: Es gibt noch viel aufzuarbeiten. Wir haben in den ersten Jahren des Einheitsprozesses manches ignoriert, was für die Menschen in Ostdeutschland mindestens so wichtig war wie ihre wirtschaftliche Lage: Die Brüche in den Biographien und der schwierige Neuanfang, den die Deutsche Einheit für viele Menschen in Ostdeutschland bedeutete. Ihre persönlichen Geschichten sind noch nicht in demselben Maße Teil des gemeinsamen Wir geworden, wie das für westdeutsche Geschichten selbstverständlich ist. Da gibt es viel nachzuholen. Als Bundespräsident bemühe ich mich darum, dass wir das gemeinsam tun.

In Ostdeutschland wählt ein Viertel der Wähler eine rechts-nationale Partei. Wie soll der Umgang mit rechter Ideologie aussehen?

Wir stellen fest, dass die liberalen Demokratien des Westens in vielen Ländern angefochten sind. Vielleicht haben wir in Deutschland zu lange gehofft, dass Entwicklungen, die es in anderen Ländern gab, bei uns nicht auftreten, dass wir auch wegen unserer wirtschaftlichen Stärke und der damit einhergehenden Stabilität geschützt sind. Das ist erkennbar nicht der Fall. Auch bei uns in Deutschland gibt es in Teilen der Bevölkerung eine Haltung, Unmut gegenüber der Regierung, den Regierungsparteien und Repräsentanten demokratischer Institutionen nur noch durch maßlose Empörung und Systemkritik zum Ausdruck zu bringen. Die Sprache ist in der politischen Auseinandersetzung – insbesondere in den sozialen Medien – unerbittlicher und unbarmherziger geworden. Ich bin realistisch genug, um zu wissen, dass man das nicht von heute auf morgen ändern kann.

Wo die Glaubwürdigkeit demokratischer Politik bei den Wählern verloren gegangen ist, werden wir viel Zeit, Energie und auch persönlichen Einsatz brauchen, um diese Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Es beginnt damit, dass die Politik sich mit den tatsächlichen Problemen der Menschen beschäftigt und Lösungen auf den Feldern liefert, auf denen sie dringend erwartet werden. Nach meiner Auffassung setzt sich das fort mit der Notwendigkeit, in den Gegenden präsent zu sein, in denen Repräsentanten der Politik schon lange nicht mehr gesehen wurden. Das bedeutet: raus aus der Hauptstadt, auch raus aus den Landeshauptstädten und stattdessen rein in die Regionen.

Wir müssen die Menschen wieder davon überzeugen, dass die Bejahung der Demokratie auch ein Leben in Vielfalt bedeutet. Das ist die Besonderheit von offenen Gesellschaften: dass sich Menschen mit ihren Unterschieden, mit ihren Eigenarten und auch ihren Eigensinnigkeiten begegnen. Dabei hat jeder das Recht, gehört zu werden, aber nicht jeder kann erwarten, dass sich nur seine Auffassung und seine Position am Ende in politischen Entscheidungen widerspiegeln. Wir müssen wieder dafür werben, dass die Qualität der Demokratie eben gerade darin liegt, den Ausgleich unterschiedlicher Interessen innerhalb der Gesellschaft zu organisieren, dass Demokratie ohne den Kompromiss gar nicht lebensfähig ist.

Nach der Meinung von Joschka Fischer zeigt sich eine neue Art der Deutschen Frage in Europa am Horizont. Nicht mehr der Expansionismus und die militärische Stärke Deutschlands, sondern seine strategische Schwäche stellt ein Risiko dar. Wie sehen Sie das?

Ich sehe das Problem etwas anders. Es gibt in der Welt viele Veränderungen: die Schwächung oder die Selbstschwächung alter Großmächte, das Aufwachsen neuer Großmächte, eine neue Art von Bedrohung, die Erosion der internationalen Ordnung, insgesamt eine Entwicklung, die der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler gerade in der treffenden Überschrift Eine Welt ohne Hüter zusammengefasst hat. All diese Veränderungen spiegeln sich in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht ausreichend wider. Europa muss über die gemeinsamen Anstrengungen zur Wahrung europäischer Sicherheit reden, wenn Amerika sich auf gänzlich andere Bedrohungslagen konzentriert und sehr viel stärker auf den transpazifischen Raum orientiert. Europa wird notwendigerweise sehr viel mehr Verantwortung für sich selbst tragen müssen. Das muss auch ein deutsches, aber vor allem ein gemeinsames europäisches Ziel sein.

Die Fragen stellte: Paolo Valentino