Interview mit der isländischen Tageszeitung Morgunblaðið

Schwerpunktthema: Interview

12. Juni 2019

Bundespräsident Steinmeier hat vor seinem Staatsbesuch in Island der in Reykjavík erscheinenden Tageszeitung Morgunblaðið ein Interview gegeben, das am 12. Juni erschienen ist: "Trotz der geografischen Distanz sind sich Island und Deutschland in vielem sehr nah. Unsere Länder sind traditionell eng und sehr freundschaftlich miteinander verbunden – in Kultur, Politik und Wirtschaft. Dieser Verbundenheit möchte ich mit meinem Besuch – dem ersten eines deutschen Bundespräsidenten seit 16 Jahren – neue Kraft verleihen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Arbeitszimmer (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der isländischen Tageszeitung Morgunblaðið ein Interview gegeben, das am 12. Juni erschienen ist.

Wie bewerten Sie den Ausgang der Europawahl? Was sagt das Resultat über die Politik in Deutschland mit besonderem Blick auf die Situation der Volksparteien?

Die fast überall in der EU stark gestiegene Wahlbeteiligung, die politische Mobilisierung, ist ein sehr positiver Aspekt dieser Wahlen. In Deutschland war sie so hoch wie seit 25 Jahren nicht mehr. Das zeigt: Die Menschen waren sich bewusst, wie wichtig das geeinte Europa für unsere Zukunft ist. Die Wahlergebnisse sind darüber hinaus vielschichtig und verdeutlichen vor allem, wie sehr das Parteiensystem in vielen Ländern in Bewegung geraten ist. Neue politische Kräfte sind entstanden, und traditionelle Parteien haben an Gewicht verloren. Es gab viele Themen in diesem Wahlkampf, aber der Klimaschutz – das zeigt vor allem die hohe Zustimmung für die Grünen – hat die Menschen in besonderer Weise bewegt. Dieses Thema wird übrigens auch auf meiner Reise in Ihr Land, nach Island, eine besondere Rolle spielen.

Welche Folgerungen sollte man für die EU daraus ziehen? Wie sollen die etablierten Parteien mit den Rechtspopulisten in Europa umgehen? Sind sie regierungsfähig, oder sollte man von jeglicher politischen Annäherung an diese Parteien absehen?

Die nun gewählten politischen Kräfte sollten das große Interesse der Menschen zu einem neuen Aufbruch nutzen. Denn es stehen wichtige Entscheidungen an: zunächst über das Führungspersonal der Europäischen Union – die neue Spitze der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rates, aber auch der Europäischen Zentralbank und der europäischen Außenpolitik. Aber vor allem müssen wir Europäer in den kommenden Monaten Antworten darauf finden, wie wir Zukunft gestalten wollen: die Klimapolitik, die Digitalisierung, unseren Umgang mit Flucht und Migration und die sicherheitspolitische Selbstbehauptung Europas in einer unruhigeren Welt. Wie wir mit diesen Fragen umgehen, wird entscheidend sein für das Vertrauen der Bürger in das europäische Projekt. Das bedeutet eine hohe Verantwortung für alle, die gewählt worden sind, und für die, die in der EU Entscheidungen zu treffen haben.

Für Deutschland ergibt sich auch aus diesen Wahlen, dass die Arbeit am Zusammenhalt unserer Gesellschaft die große Aufgabe für alle Parteien ist, die Verantwortung tragen oder tragen möchten. Auch in Deutschland haben die klassischen Volksparteien an Zuspruch verloren, und neue Parteien konnten sich in den letzten Jahren etablieren. Insbesondere die junge Generation engagiert sich in verschiedenen politischen Bewegungen. Das alles ist eine besondere Herausforderung für die repräsentative Demokratie. Denn sie ist in besonderer Weise auf handlungsfähige und verantwortungsbereite Parteien angewiesen. Ich wünsche mir daher, dass die Parteien ihre Türen öffnen und auch jungen Menschen neue Wege zur politischen Beteiligung ebnen.

Die Beziehungen zwischen Europa und den USA sind derzeit gespannt. Trumps Anspruch auf globale wirtschaftliche Dominanz hat nicht nur zu einem Handelskrieg mit China geführt, sondern droht ähnlich eskalierende Wirkung mit Europa zu entfalten. Die USA haben sich aus dem Pariser Abkommen zurückgezogen. Es gibt auch Meinungsverschiedenheiten zwischen den NATO-Partnern. Angesichts dieser negativen Entwicklungen, wie bewerten Sie den heutigen Stand des transatlantischen Bündnisses in den Bereichen Handel, Klimawandel und Sicherheitsfragen?

Wir in der Europäischen Union sind aufgefordert, unsere eigenen Interessen und unsere eigene Verantwortung stärker in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns zu rücken: in der Sicherheitspolitik, in der Klimapolitik, aber auch in Handelsfragen, in denen für Europa und gerade für Deutschland so viel von einer regelbasierten internationalen Ordnung abhängt.

Europas verstärkte Anstrengungen für das Klima, für den Handel, für Sicherheit und Verteidigung werden eines der großen Themen sein für die neue Führungsmannschaft in Brüssel, aber auch für die Mitgliedstaaten. Dafür gibt es einen doppelten Grund: erstens eine objektiv veränderte und schwierigere Sicherheitslage – weltweit und in der europäischen Nachbarschaft; zweitens Unsicherheit über die zukünftige Rolle der USA in der NATO. Das gilt, auch wenn das Bündnis selbst nicht in Frage steht und die USA unser wichtigster Partner außerhalb Europas bleiben. Die neue Lage für die NATO ist übrigens nicht allein der Skepsis des amerikanischen Präsidenten gegenüber dem Bündnis geschuldet, sondern folgt aus der tiefgreifenden Veränderung der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gewichte in der Welt. Die USA sehen ihre langfristigen Interessen heute übrigens weniger durch den alten Gegenspieler Russland bedroht als durch das Schwergewicht in Ostasien, durch China. Wenn für Washington die transpazifische Perspektive immer wichtiger wird, sind die Europäer gut beraten, ihre gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen mit größerer Ernsthaftigkeit zu diskutieren und zu organisieren. Larmoyanz hilft keinem.

Antisemitismus hat in Europa zugenommen, und es ist alarmierend, wenn in Deutschland Juden den Ratschlag bekommen, die Kippa nicht auf der Straße zu tragen. Wie kann dieser Trend erklärt werden, und wie soll darauf reagiert werden?

Es ist ein großes Glück für unser Land, dass sich seit 1945 jüdisches Leben wieder in so großer Vielfalt entwickelt hat. Das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden ist inzwischen zu einer lebendigen Realität geworden. Dafür bin ich sehr dankbar. Gemeinden wachsen, Synagogen werden restauriert und erweitert, Rabbiner werden ausgebildet. Tradition und Gegenwart des Judentums sind in der öffentlichen Debatte, in der Literatur und im religiösen Dialog lebendig. Die in Deutschland lebenden Juden sind selbstbewusste Mitgestalter unserer Politik und Kultur. Das ist unser Glück und zugleich unsere besondere Verantwortung: Als Staat ist es unsere oberste Pflicht, die Sicherheit und Freiheit jüdischen Lebens zu garantieren, jüdische Bürgerinnen und Bürger zu schützen und einzuschreiten, wo es notwendig ist. Und auch die Zivilgesellschaft muss sich dem Antisemitismus mit ganzer Kraft entgegenstellen. Denn nur dann, wenn Juden in Deutschland ganz zu Hause sein können, ist auch unser Land ganz bei sich.

Island hat seinen Antrag auf Beitritt zur EU zurückgezogen und will weiterhin Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) bleiben. Wie bewerten Sie den Stand des EWR heute? Die EU entwickelt sich ständig weiter und hat sich seit der Entstehung des EWR in 1994 wesentlich verändert. Wird das die Existenz des EWR gefährden?

Auf welche Weise und wie weit Island sich international binden möchte, entscheidet Island selbst. Aus meiner Sicht ist der EWR seit seiner Gründung vor 25 Jahren eine wirkliche Erfolgsgeschichte. Er hat sowohl für die EU- als auch die EFTA-Staaten großen wirtschaftlichen Nutzen gebracht. Er hat jungen Isländern die Chance eröffnet, überall in Europa studieren, reisen oder arbeiten zu können. Das ist keine Selbstverständlichkeit und sehr viel wert. Gleichzeitig verstehe ich, dass nicht jede Rechtsvorschrift aus Brüssel Begeisterung auslöst. Der EWR hat sich in den vergangenen 25 Jahren dynamisch entwickelt, und ich bin zuversichtlich, dass er auch in Zukunft dazu beitragen kann, den Wohlstand unserer Länder zu mehren. Es ist übrigens sehr positiv, dass Island seine Präsenz in Brüssel verstärkt hat. Dadurch wird die Zusammenarbeit schneller und unmittelbarer gestaltet, und Island kann stärker und direkter Einfluss nehmen.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und Island sind in den vergangenen Jahren eng gewesen. Wie steht es um die Zusammenarbeit der beiden Länder heute – kulturell, politisch und wirtschaftlich?

Trotz der geografischen Distanz sind sich Island und Deutschland in vielem sehr nah. Unsere Länder sind traditionell eng und sehr freundschaftlich miteinander verbunden – in Kultur, Politik und Wirtschaft. Dieser Verbundenheit möchte ich mit meinem Besuch – dem ersten eines deutschen Bundespräsidenten seit 16 Jahren – neue Kraft verleihen.

Politisch verbindet uns eine vertrauensvolle Partnerschaft. In den Vereinten Nationen, in der NATO und im EWR sind wir häufig gleichgesinnt und können uns aufeinander verlassen. Deutschland ist zudem einer der wichtigsten Wirtschaftspartner Islands.

In Deutschland wird die isländische Literatur übrigens nicht erst hoch geschätzt, seit es Gastland auf der Frankfurter Buchmesse in 2011 war. Deutsche Studierende sind die größte Gruppe der ERASMUS-Studierenden in Island. Aus dem deutschen Sport sind Isländer nicht wegzudenken. Einer der erfolgreichsten Trainer der deutschen Handballbundesliga ist Ihr Landsmann Alfred Gíslason, der mich auf diesem Staatsbesuch begleitet. Und von Sigi, Ásgeir Sigurvinsson, wird heute noch weit über Stuttgart hinaus geschwärmt.

Aber es gibt noch eine weitere, in Deutschland kaum bekannte, ganz besondere Verbindung zwischen Island und Deutschland, die etwas mit dem konkreten Zeitpunkt meiner Reise zu tun hat: die deutschen Landarbeiterinnen, die 1949 und in den Folgejahren nach Island kamen. In diesen Wochen jährt sich zum 70. Mal die Ankunft der Esja, des ersten Schiffes, das vor allem deutsche Frauen und einige Männer nach Island brachte. Das ist eine ganz besondere Geschichte, wie diese Frauen aus dem vom Krieg zerstörten Deutschland in Island Arbeit gefunden und damit auch die durch die wachsende Fischereiwirtschaft schwächelnde Landwirtschaft unterstützt haben. Viele von ihnen haben in Island eine neue Heimat und eine neue Familie gefunden. Sie sind Teil der isländischen Gesellschaft geworden – und damit auch ein lebendiges Band zwischen unseren Ländern. Ich freue mich sehr darauf, in Reykjavik einige der damaligen deutschen Einwanderinnen zu treffen und ihre Geschichten zu hören.

Welche der gemeinsamen Themen werden Sie während des Aufenthalts in Island ansprechen, und wo sehen Sie Entwicklungsmöglichkeiten?

Wir werden in den zwei Tagen meines Besuchs viel Zeit für einen intensiven Austausch über viele Facetten der Beziehungen unserer beiden Länder haben. Aber ich möchte auch darüber hinaus von Islands Erfahrungen lernen. Es gibt Themen, die mich und Präsident Jóhannesson gleichermaßen beschäftigen – etwa der Zusammenhalt in unseren offenen, demokratischen Gesellschaften oder der Umgang mit neuen geostrategischen Herausforderungen.

Vor allem aber bin ich dankbar, dass Präsident Jóhannesson und seine Frau uns am zweiten Tag in den Süden Islands und auf die Westmännerinseln begleiten. Wir werden uns an diesem Tag intensiv mit den Folgen des Klimawandels beschäftigen, etwa bei einer Führung am Sólheimajökull-Gletscher gemeinsam mit kleinen isländischen Klimaexperten einer 7. Schulklasse aus Hvolsvöllur, aber auch mit einer der renommiertesten deutschen Klimaforscherinnen, Antje Boetius vom Alfred-Wegener-Institut, die mich auf dieser Reise begleitet. Beim Klimaschutz und der nachhaltigen Energiegewinnung hat Island viel zu bieten, von dem wir lernen können. Ich bin zum Beispiel sehr gespannt auf die klimafreundlichen Kraftwerke, die wir besuchen werden.

Die Fragen stellte: Karl Blöndal