Der Bundespräsident hat der Zeitung Jewish Voice From Germany ein Schriftinterview gegeben, das am 9. April erschienen ist.
Wie können die freiheitlichen Demokratien dauerhaft gegen den weltweiten offensiven Populismus bestehen?
Wir sollten uns zunächst fragen, was mit Populismus gemeint ist und welche Ursachen er hat. So verschieden die Formen und Ziele der populistischen Bewegungen weltweit sind, sie haben eine Gemeinsamkeit: Sie geben vor, Stimme des sogenannten wahren Volkes
gegen die repräsentativen Institutionen des Staates und der Politik zu sein. Genau darin liegt die Gegnerschaft des Populismus zur liberalen Demokratie, in der das Volk immer im Plural existiert und ein auf Gleichheit angelegtes Recht das friedliche Zusammenleben regelt. Ich denke, es sind unter anderem die Erschütterungen in den Mittelschichten, vor allem durch die Auswirkungen der Globalisierung, die den Populismus und die Faszination für das Autoritäre gegenwärtig nähren.
Die freiheitlichen Demokratien stehen insofern vor besonderen Herausforderungen. Dabei gilt es für alle staatliche Gewalt, Menschen- und Bürgerrechte gegen jeden Angriff zu schützen. Ich halte es zudem für entscheidend, den Dialog mit Kritikern der etablierten Politik zu verbreitern und zu vertiefen. Denn nicht jeder von ihnen ist ein Demokratiefeind. Zudem ist die Lösung konkreter sozialer und wirtschaftlicher Probleme und die Wahrung der inneren Sicherheit von besonderer Bedeutung. Ich bin überzeugt: Miteinander ins Gespräch zu kommen und Probleme zu lösen – beides ist wichtig, damit in unseren Gesellschaften neuer Zusammenhalt wächst.
Dem Bundespräsidenten kommt angesichts abnehmender politischer Stabilität eine stärkere Position zu – wie werden Sie diese nutzen?
Der Bundespräsident hat die Aufgabe, die Einheit des Landes und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu wahren und zu stärken. Die wachsende politische Polarisierung in Deutschland fordert dabei auch den Bundespräsidenten besonders heraus. Eine akute existenzielle Krise der Demokratie in Deutschland sehe ich allerdings nicht. Ich bin häufig im Land unterwegs, treffe viele Bürgerinnen und Bürger, von deren Engagement und Kraft ich wirklich beeindruckt bin. Sie bringen sich ein, ob online oder ganz klassisch vor Ort, manche sind sehr jung, andere älter, hier geboren oder auch eingewandert. Sie stehen für die Stärke und Vielfalt unseres Landes und unserer Demokratie. Sie geben Hoffnung. Und ihnen allen gilt meine volle Unterstützung, sie will ich ermutigen.
Wie kann man die Deutschen dazu bringen, die Juden nicht nur als Opfer der Nazis, sondern als deutsche Mitbürger und Mitmenschen zu begreifen? Wie transformiert man die Juden hierzulande von Mahnern zu Mitgestaltern?
Ich nehme die in Deutschland lebenden Juden längst als selbstbewusste Mitgestalter unseres Landes wahr. Und das ist ein großes Glück. Das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden ist inzwischen zu einer lebendigen Realität geworden. Dafür bin ich sehr dankbar. Im Kern geht es darum, dass wir uns gegenseitig als Bürger auf Augenhöhe begegnen und zusammenstehen, dass unsere Begegnungen frei sind von Zerrbildern, Vorurteilen oder sogar Anfeindungen. Und ich wünsche mir, dass in unserem Zusammenleben das Gemeinsame im Vordergrund steht, nicht das Trennende. Dennoch müssen wir wachsam sein. Es gibt auch heute Antisemitismus in Deutschland, und es spricht leider viel dafür, dass dieser zunimmt und sogar in der Mitte der Gesellschaft neue Resonanz findet. Es ist unsere gemeinsame Bürgerpflicht, Antisemitismus in all seinen Formen zu bekämpfen. Denn in einem Land, in dem Juden nicht in Sicherheit leben können, wollen wir alle nicht leben. Anders gesagt: Nur wenn Juden in Deutschland ganz zu Hause sein können, ist diese Bundesrepublik ganz bei sich.
Israel ist ein wichtiger Partner Deutschlands; formal ist alles exzellent. Wie kann man die Beziehungen mitmenschlicher gestalten?
Wir sollten nicht vergessen: Das Wunder der Aussöhnung zwischen Deutschen und Israelis über den abgrundtiefen Graben unserer Geschichte hinweg ist von Menschen geschaffen. Es ist die Frucht der Arbeit, Anstrengung und des Engagements unzähliger Menschen in Israel und in Deutschland über nun schon mehrere Generationen hinweg. Es ist immer wieder erstaunlich, wie eng und vielschichtig die Verbindungen zwischen Deutschland und Israel sind. Diese Beziehung kann niemals nur formal
sein. Und jede neue Generation muss der Erinnerung an die Vergangenheit verpflichtet bleiben. Gleichzeitig können wir eng zusammenarbeiten und uns dabei der Zukunft zuwenden, etwa in gemeinsamen Projekten zu digitalen Technologien, wo Deutschland von Israel sehr viel lernen kann.
Es ist richtig: Der politische Austausch auf Regierungsebene ist nicht einfacher geworden in den vergangenen Jahren. Und es bleibt neben der engen politischen, wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der beiden Staaten und Regierungen noch viel zu tun. So denken wir schon seit einiger Zeit über die Gründung eines gemeinsamen Jugendwerkes nach.
Dennoch sind die Kontakte zwischen den Zivilgesellschaften intensiver und vielschichtiger geworden. Mich hat auf meiner letzten Reise nach Israel besonders das Engagement der Freiwilligen von Aktion Sühnezeichen beeindruckt, die sich ein Jahr lang um Holocaust-Überlebende in Israel und andere soziale Projekte kümmern. Diese Erfahrung prägt die jungen Teilnehmer tief – ein Leben lang. Sie sind nicht nur Botschafter Deutschlands im besten Sinne – sie werden auch ein Leben lang Botschafter der ganz besonderen deutsch-israelischen Beziehungen bleiben.
Ein anderes gutes Beispiel ist die Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum
. Sie baut ein Netzwerk junger Menschen aus beiden Ländern auf und fördert innovative Projekte aus Kultur, Bildung, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. Und auch ganz ohne Projektarbeit kommen junge Israelis zum Beispiel sehr gerne nach Berlin, um hier zu leben, zu arbeiten oder einfach Urlaub zu machen. Für viele Deutsche wiederum ist Tel Aviv eine attraktive, aufregende, moderne und einfach wunderbare Stadt.
Wie kann Berlin den Friedensprozess im wilden
Nahen Osten fördern?
Die Situation im Nahen Osten wird immer komplexer. Für Israel ist das mehr als eine außenpolitische Herausforderung in einer ohnehin fragilen Region. Denn in der israelischen Gesellschaft selbst gibt es in dieser Frage eine wachsende Polarisierung. Ich selbst sehe gleichzeitig keine andere friedliche Lösung für den Nahostkonflikt als die Zwei-Staaten-Lösung. Kann der Status quo wirklich nachhaltig sein? Kann er eine friedliche, demokratische Zukunft Israels sichern? Ich frage das nicht im Sinne einer Belehrung, die uns nicht zusteht, sondern in ehrlicher Sorge. Aber natürlich setzt eine Zwei-Staaten-Lösung eine Reihe von Bedingungen voraus, die von allen Beteiligten zu erfüllen wären. Zusammen mit vielen europäischen Partnern arbeitet Deutschland deshalb daran, diese Bedingungen realistischer zu machen. Bei meiner Israel-Reise im Frühling 2017 habe ich zum Beispiel Givat Haviva besucht, die größte und älteste israelische Einrichtung für jüdisch-arabische Verständigungsarbeit. Wie jüdische und arabische Dörfer zusammen an die Herausforderungen des täglichen Lebens, an Infrastrukturprobleme oder an Bildungsfragen herangehen, ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie inmitten aller Konflikte in dieser Region Gemeinsames geschaffen und aufgebaut werden kann. Die Arbeit von Givat Haviva hat mich und meine Frau wirklich tief beeindruckt.
Ist im Nuklearabkommen mit Teheran nicht eine Verpflichtung des Existenzrechtes aller Staaten, einschließlich Israels, unverzichtbar?
Das Nuklearabkommen mit dem Iran, der sogenannte JCPoA, soll eine mögliche existenzielle Gefahr für Israel eindämmen, ganz konkret und nicht durch Worte oder Bekenntnisse, sondern durch eine nachprüfbare Begrenzung der iranischen Nuklearfähigkeiten. Das war und ist der Kern des Abkommens. Was dafür erreicht worden ist, bleibt unverändert wertvoll. Ich kann nicht erkennen, dass die Aufkündigung des Nuklearabkommens Israels Existenz sicherer machen würde.
Andere Hoffnungen, dass der Iran sich zu einem konstruktiveren Akteur im Nahen Osten entwickelt, haben sich bis heute nicht erfüllt. So gibt uns das Handeln der iranischen Führung im Innern wie in der Region reichlich Anlass zur Sorge. Und in diesem Zusammenhang sage ich auch: Jede Verleugnung oder Verhöhnung der Opfer des Holocaust findet den entschiedenen Widerspruch Deutschlands. Für unser Land sind die Existenz und die Sicherheit des Staates Israel nicht verhandelbar.
Besteht nicht auch ein Trauma bei den Nachkommen der Täter? Wie kann man dessen Wirkung begrenzen? Es ist schwerer, das Kind Kains zu sein als das Kind Abels…
Unser Land hat in den zurückliegenden Jahrzehnten gelernt, dass wir nicht vor unserer eigenen Vergangenheit fliehen können. Kein Land kann das, Deutschland erst recht nicht. Und wir haben erfahren, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bei der Entwicklung hin zu einer offenen, demokratischen und selbstbewussten Gesellschaft eher hilft als schadet. Wenn ich mit Jugendlichen spreche, versuche ich, den entscheidenden Unterschied immer wieder deutlich zu machen: Es geht nicht um individuelle Schuld, kann es ja heute auch meist nicht mehr. Aber es geht um die Verantwortung aus unserer Geschichte – eine Verantwortung, die bleibt. Ich werde nicht müde zu betonen, auch in Antwort auf manch neue Politikangebote, die wir in Deutschland haben: Diese Verantwortung kennt keinen Schlussstrich.
Wird Israel nicht vielfach mit absoluten moralischen Maßstäben gemessen, denen kein Mensch und erst recht kein Staat gerecht werden kann?
Ich habe mich in meiner politischen Arbeit über Jahrzehnte intensiv mit Israel befasst und kenne das Land auch aus eigener Anschauung von weit mehr als zwanzig Besuchen. In dieser Zeit haben sich viele persönliche Beziehungen entwickelt. Aus all dem erwächst natürlich ein Verständnis für die besondere Lage Israels. Im Unterschied zu seinen Nachbarn ist Israel eine Demokratie, hat sich selbst demokratische Werte und Regeln gegeben. Die allein sollten der Maßstab sein in den Kontroversen um israelische Politik. Von solchen Kontroversen lebt Israel, wie jedes demokratische Land.
Die Fragen stellte: Rafael Seligmann