Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der bulgarischen Tageszeitung 24chasa anlässlich seines offiziellen Besuchs in der Republik Bulgarien ein Schriftinterview gegeben, das am 4. April erschienen ist.
Es stehen sehr wichtige europäische Wahlen bevor. Der Populismus ist in Europa im Aufschwung. Großbritannien wird die EU verlassen. Zwischen Osteuropa und Westeuropa gibt es manche Unterschiede bei Themen wie der Flüchtlingskrise oder Nord Stream 2. Wie kann ein kleines Land wie Bulgarien Einfluss auf die Zukunft der EU nehmen?
Ich bin kein Freund von Gegenüberstellungen – nicht zwischen Ost und West, Nord und Süd oder Zentrum und Peripherie. Jedes Land in der Europäischen Union hat seine eigene Geschichte, seine eigene Kultur, seine eigenen Empfindlichkeiten, und jedes Land leistet eben auch seinen ganz eigenen Beitrag zu unserem gemeinsamen Projekt. Diese Vielfalt ist das, was uns ausmacht. Entscheidend ist, dass wir in der Europäischen Union den Willen und die Kraft zum Ausgleich dieser unterschiedlichen Interessen und zum Kompromiss aufbringen. Bulgarien hat dort wie jedes Land in der EU Sitz und Stimme, und Bulgarien wird gehört.
Während seiner erfolgreichen EU-Ratspräsidentschaft 2018 hat Bulgarien bewiesen, dass es in Europa eine wichtige, auch gestaltende Rolle spielen kann. Bulgariens enge, aber besonnene Beziehungen zu den Staaten des westlichen Balkans oder seine besonderen nachbarschaftlichen Kontakte zur Türkei sind für die gesamte EU hilfreich und wertvoll. Der Vertrag über Freundschaft mit Nordmazedonien war zum Beispiel von wegweisender Bedeutung und hat sicherlich auch das Prespa-Abkommen zwischen Griechenland und Nordmazedonien mit inspiriert. Ich wünsche mir, dass Bulgarien auch in Fragen der Rechtsstaatlichkeit und Medienvielfalt Vorbildwirkung für die Westbalkanstaaten entfaltet.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind in der Tat sehr wichtig. Zur Wahl stehen auch Kräfte, die Europa grundsätzlich in Frage stellen und den Rückzug ins Nationale propagieren. Das sind keine Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit – nicht für das friedliche Zusammenleben in Europa und nicht für die Zukunft unseres Kontinents in der Welt von morgen. Ohne die EU würde es für uns alle stürmischer und ungemütlicher. Ich werbe deshalb für eine starke Wahlbeteiligung und dafür, dass wir den unschätzbaren Wert der europäischen Zusammenarbeit dabei fest im Blick behalten.
Sie werden Gespräche mit dem Präsidenten Bulgariens Rumen Radev und mit dem Ministerpräsidenten Bulgariens Boyko Borisov führen. Wie bewerten Sie die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit Bulgariens und Deutschlands?
Deutschland und Bulgarien verbinden 140 Jahre diplomatische Beziehungen. Und ohne zu übertreiben kann ich sagen: So intensiv und gut wie heute waren unsere Beziehungen noch nie. Wir sind in der EU und der NATO als enge Partner verbunden, wir sind in vielen wichtigen Fragen Gleichgesinnte. Jedes Jahr besuchen nahezu eine Million Deutsche Ihr schönes Land, viele Bulgaren leben und arbeiten in Deutschland. Wir sind keine geographischen Nachbarn, aber wir sind uns heute näher als je zuvor und kennen uns besser denn je. Hinzu kommen mehrere tausend deutsche Unternehmen, die hier in Bulgarien aktiv sind.
Haben die Bulgaren noch eine Chance, Mitglied der Eurozone und des Schengenraums zu werden? Wie kann man einzelne Mitglieder wie Bulgarien überzeugen, dass sie die Grenzen der EU schützen müssen und selber keine Mitglieder des Schengenraums werden dürfen?
Wir freuen uns, dass Bulgarien den Euro einführen will und alle Schritte unternimmt, um so bald wie möglich die Voraussetzungen dafür zu erfüllen. Unser Ziel sollte sein, dass möglichst alle EU-Staaten die gemeinsame Währung haben.
Unser gemeinsames Ziel muss es sein, dass Bulgarien Vollmitglied im Schengenraum wird – das ist für mich auch überhaupt keine Frage. Freizügigkeit ohne Grenzkontrollen ist eine der großen Leistungen Europas. Und ich kann gut verstehen, dass die Menschen hier in Bulgarien eher ungeduldig darauf warten. Aber ob die Voraussetzungen erfüllt und die europäischen Partner von substanziellen Fortschritten Ihres Landes bei Rechtsstaatlichkeit und bei der Korruptionsbekämpfung überzeugt sind, muss gemeinsam bewertet werden. Dies ist ja keine bilaterale Angelegenheit zwischen Deutschland und Bulgarien. Die große Leistung Bulgariens beim Schutz der EU-Außengrenze steht nicht in Frage und findet auch viel Anerkennung.
Bulgarien hofft auf große Investitionen aus Deutschland. Sie werden an einem Wirtschaftstreffen in Sofia teilnehmen. Ist das Land immer noch ein guter Standort für die deutsche Wirtschaft, oder gibt es auch Themen, bei denen man mehr arbeiten muss, um die Beziehungen zu verbessern?
Deutsche Unternehmen gehören schon heute zu den wichtigsten Investoren in Bulgarien, mehr als 5.000 von ihnen sind hier bereits vertreten. Laut einer aktuellen Umfrage der deutsch-bulgarischen Industrie- und Handelskammer sind neun von zehn der deutschen Unternehmen zufrieden und würden Bulgarien wieder als Investitionsstandort auswählen - nicht zuletzt angesichts der vielen gut ausgebildeten jungen Menschen mit beachtlichen Deutschkenntnissen. Bulgarien ist und bleibt also ein attraktiver Standort für die deutsche Industrie. Deshalb werde ich auch von einer Reihe deutscher Wirtschaftsvertreter auf dieser Reise begleitet. Aber Bulgarien ist natürlich für deutsche Unternehmer nicht die einzige Standortoption. Deshalb sind echte Fortschritte bei Rechtsstaatlichkeit und bei Rechtssicherheit in Bulgarien so wichtig.
Die jungen Menschen in Europa wollen mehr und besseren Klimaschutz. Sie werden junge Bulgaren treffen. Welche Botschaft haben Sie für sie?
Zuerst einmal will ich von den jungen Bulgarinnen und Bulgaren selbst hören, was sie bewegt, mit welchen Sorgen und welchen Hoffnungen sie auf ihr eigenes Land blicken, auf Europa und in die Zukunft. Ich freue mich, wenn sich die junge Generation einmischt und politisch engagiert. Aus dem wachsenden Engagement vieler junger Menschen für den Klimaschutz entsteht derzeit eine besondere politische Energie. Diese sollte in Entscheidungen übersetzt werden, um unsere Welt lebenswert zu erhalten. Das ist bei einer so großen Herausforderung alles andere als einfach, und es geht auch nicht schnell - sicher vielen nicht schnell genug. Aber es ist die Erfahrung meines eigenen politischen Lebens, dass man mit Energie und Beharrlichkeit Dinge verändern kann, manchmal im Kleinen, aber manchmal auch im Großen. Zu diesem Optimismus, diesem Vertrauen in die eigene Stärke möchte ich auch die Jugendlichen in Bulgarien ermutigen.
Sie sind ein großer Freund Bulgariens. Dank Ihrer großen Bemühungen wurden die inhaftierten Krankenschwestern in Libyen freigelassen. Haben Sie Kontakt zu ihnen? Kennen Sie bulgarische Künstler oder Intellektuelle, die Sie gerne in Sofia und Plovdiv treffen möchten?
Ich erinnere mich noch gut, wie groß die Erleichterung in ganz Europa war, als die bulgarischen Krankenschwestern freigelassen wurden. Die schwierigen Verhandlungen waren ein Kraftakt, zu dessen Erfolg viele mit großem Einsatz beigetragen haben. Ich hoffe und wünsche mir, dass es ihnen gut geht.
Ich lese gern bulgarische Schriftsteller, etwa den bei uns sehr bekannten Ilija Trojanow oder zuletzt Georgi Gospodinov. Ich will auf dieser Reise auch etwas sehen und erfahren über die große Kulturnation Bulgarien. Deshalb besuche ich für mich zum ersten Mal Plovdiv, eine der beiden europäischen Kulturhauptstädte 2019. Ich habe zudem zwei bei uns in Deutschland bekannte und erfolgreiche Bulgaren eingeladen, mich auf dieser Reise zu begleiten – Samuel Finzi und Ivan Krăstev. Und ich treffe mich mit weiteren Künstlern und Intellektuellen, um von ihnen zu hören, was sie bewegt und wie sie auf unser gemeinsames Europa blicken. Ich freue mich sehr darauf.
Die Fragen stellte Kapka Todorova.